Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte steht auch ein Antrag der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion auf der Tagesordnung, in dem wir uns über den Beitrag der deutschen Heimatvertriebenen zum Wiederaufbau in Deutschland und zum Frieden in Europa äußern. Mit diesem Antrag bitten wir diejenigen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, denen infolge des Zweiten Weltkrieges das Schicksal des Heimatverlustes widerfahren ist, sich weiter voll und ganz in das politische, kulturelle
und gesellschaftliche Leben unseres Landes einzubringen und einen aktiven Beitrag bei der Ausgestaltung der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu leisten.
Ich glaube, wir können heute erfreut feststellen, daß bereits Hunderttausende von Heimatvertriebenen in den vergangenen Jahren zu Botschaftern der Verständigung zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn geworden sind. Zahlreiche in Privatinitiative restaurierte Kirchen, Friedhöfe und bedeutende Kulturdenkmäler in Polen, Tschechien, aber auch in Ungarn und Rumänien sind Zeugen dieser praktischen Verständigungsarbeit. So hat zum Beispiel der Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft in meinem Heimatort Bindlach bei Bayreuth, ein gelernter Maurermeister, in Eigenleistung und auf eigene Kosten, ohne jeglichen staatlichen Zuschuß, die Kapelle seines Heimatortes Horn bei Karlsbad renoviert.
Es gibt inzwischen unzählige gemeinsame Projekte auch der Erforschung der Lokal- und Regionalgeschichte. Aus zahlreichen Patenschaften, die westdeutsche Städte, Kreise und Gemeinden nach dem Krieg für Kommunalkörperschaften aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den Gebieten in Böhmen und Mähren übernommen haben, sind jetzt, nach den politischen Veränderungen, kommunale Partnerschaften nach dorthin entstanden. Längst finden Vertriebenentreffen in Schlesien, Ostpreußen und Pommern statt, und polnische und tschechische Repräsentanten bei Vertriebenentreffen in der Bundesrepublik Deutschland sind keine Seltenheit mehr.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat bereits 1991 zu Recht festgestellt, daß die Öffnung unserer östlichen Nachbarn für Europa auch ihr Verständnis für das historische und kulturelle Erbe hat wachsen lassen, das Deutsche dort in mehreren Jahrhunderten aufgebaut haben. Wir spüren doch heute, daß man sich in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien für das kulturelle und historische Erbe, das Deutsche dort hinterlassen haben, mitverantwortlich fühlt und mit den Vertriebenen in unserem Land gemeinsam erforschen, pflegen und erhalten will.
Ich glaube, es sind vor allem diese gemeinsamen historischen Projekte, die einen wichtigen Beitrag für die Verständigung leisten. Denn nur mit einer steigenden Kenntnis von kulturellen und historischen Zusammenhängen, auf die wir bei unseren Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn so umfassend aufbauen können, werden gegenseitiges Verständnis und echte Verständigung wachsen.
Lassen sie mich für solche gemeinsamen historischen Projekte zwei Beispiele nennen. Aus Anlaß des Stettiner Stadtjubiläums 1993 wurde eine gemeinsame deutsch-polnische Stadtchronik erarbeitet, bei der besondere Darstellungspunkte auch die Themen Flucht, Vertreibung und die Einsetzung einer polnischen Verwaltung in Stettin in den Jahren 1945 und 1946 waren. Die Publikation in deutscher und polnischer Sprache hat zahlreiches Interesse in der Öffentlichkeit und der Fachwelt beider Länder gefunden. Ich nenne das zweite Beispiel. Gegenwärtig bemühen sich das Schlesische Institut und die Universität
Hartmut Koschyk
Oppeln gemeinsam mit der Schlesischen Universität Troppau und deutschen Historikern, eine gemeinsame deutsch-polnisch-tschechische Geschichte Schlesiens darzustellen.
Wie sehr im Zusammenhang mit dieser Öffnung unserer östlichen Nachbarn auch für diesen Teil gemeinsamer europäischer Geschichte auch das Thema Vertreibung enttabuisiert wird, konnten Kollege Meckel und ich im Dezember des vergangenen Jahres bei einer eindrucksvollen Tagung in Warschau erleben, wo polnische Wissenschaftler und Politiker gemeinsam mit deutschen Wissenschaftlern und Politikern das Ergebnis einer mehrjährigen Beschäftigung mit dem Vertreibungskomplex in Polen der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Welch neuer Geist auch bei dieser Befassung mit diesem Thema in Warschau weht, konnten wir daran merken, daß es für die polnischen Veranstalter überhaupt kein Problem gewesen ist, den Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien und früheren Bundestagskollegen, Herbert Hupka, zu dieser Tagung einzuladen.
Wenige Tage nach der Unterzeichnung der gemeinsamen Deutsch-Tschechischen Erklärung und ihrer Behandlung im Deutschen Bundestag haben die deutschen und tschechischen Bischöfe zu einem Symposium nach Franzensbad eingeladen, wo die Vertreter der beiden großen Kirchen in Deutschland und Tschechien, aber auch Politiker, Wissenschaftler und Publizisten darüber diskutiert haben, wie diese gemeinsame Erklärung jetzt schnell mit Leben erfüllt werden kann. Es war nahezu eine Selbstverständlichkeit, daß an diesem Symposium führende Repräsentanten der Sudetendeutschen teilgenommen haben, wie der Vorsitzende der sudetendeutschen Akkermann-Gemeinde, unser früherer Kollege Herbert Werner, aber auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde, Volkmar Gabert.
Das Symposium in Franzensbad, aber auch die Tagung in Warschau haben deutlich gemacht, daß es heute eben kein Problem mehr ist, den Dialog mit unseren östlichen Nachbarn unter Einbeziehung der Vertriebenen und ihrer Anliegen zu führen. Das merkt man auch daran, daß man in Tschechien und Polen inzwischen offen darüber diskutieren kann, ob es nicht im Zuge einer Heranführung dieser Staaten an Europa möglich sein soll und möglich sein kann, daß deutsche Heimatvertriebene, die dies wollen, auch wieder in ihrer früheren Heimat leben, in einem Europa, in dem Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit und das Niederlassungsrecht für jedermann zu gelten hat.
Wir verweisen in dem heutigen Antrag auch auf den Zusammenhang zwischen dem Schicksal von Millionen von Deutschen, aber auch anderer Europäer in und nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich das Vertreibungsschicksal von Millionen Menschen damals und den Vertreibungen der heutigen Tage.
Wir sind in unserem Antrag der Überzeugung, daß sich Frieden und Sicherheit in der Völkergemeinschaft auf lange Sicht nur verwirklichen lassen, wenn alle Menschen künftig vor Vertreibung geschützt und die Rechte zu ihrer freien Entfaltung im Rahmen der Verfassungsordnung der jeweiligen Staaten garantiert sind. Zu Recht heißt es in dem heute zu verabschiedenden Antrag:
Jede Art der Vertreibung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Terrorisierung und Vertreibung von Gruppen auf Grund ihrer Herkunft, ihres religiösen oder kulturellen Hintergrundes muß international geächtet und sowohl völkerrechtlich wie strafrechtlich geahndet werden.
Wir erneuern heute einen Beschluß, den der Deutsche Bundestag bereits am 23. Juni 1994 gefällt hat, wo wir die Bundesregierung gebeten haben, auf eine Normierung des völkerrechtlichen Schutzes vor Vertreibung hinzuarbeiten, um die völkerrechtliche und strafrechtliche Ahndung des Verbrechens der Vertreibung zu erreichen.
Es wäre gut, Herr Bundesaußenminister, nachdem wir heute diesen Beschluß erneuern, wenn die Bundesregierung zu gegebener Zeit diesem Hause über die Bemühungen, im internationalen Recht zu einer Achtung von Vertreibungen zu kommen und diejenigen, die Vertreibungen heute und morgen verursachen, international zur Verantwortung zu ziehen, zu gegebener Zeit berichten könnte.
Herzlichen Dank.