Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schade, daß diese nicht ganz unwichtige Debatte zu einer solch ungünstigen Zeit am Freitagmittag stattfindet. Ich glaube, sie hätte etwas mehr Aufmerksamkeit verdient.
Liebe Frau Kollegin Gysi, ich darf am Anfang einen Punkt aufgreifen. Wenn man Sie hört, hat man den Eindruck, daß die NATO von Anfang an eigentlich nichts anderes vorhatte, als den Umbruchländern die Erweiterung sozusagen aufzudrängen. Darf ich Sie daran erinnern, daß es eher umgekehrt war?
Die Lage war doch wohl so, daß die Umbruchländer ihr Sicherheitsbedürfnis befriedigt sehen wollten und wollen. Das tun sie nun einmal in der NATO. Es war nicht so, daß wir angetreten sind und gesagt haben: Nun kommt alle zu uns, die ihr euer Sicherheitsbedürfnis nirgendwo befriedigt seht! Vielmehr war es umgekehrt. Deshalb glaube ich, daß der Grundansatz falsch ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 1997 ist in Europa und für Europa ganz zweifellos ein Jahr wichtiger Entscheidungen. Auf dem Europäischen Rat im Juni in Amsterdam und drei Wochen später auf dem NATO-Gipfel in Madrid werden für die künftige Architektur dieses Europa, unseres Kontinents, ganz wichtige Weichen gestellt.
Wie sich die EU im Innern reformiert und stärkt, wird für das gemeinsame Haus Europa von genauso großer Bedeutung sein wie die Öffnung der NATO für die neuen Mitgliedstaaten und die Schaffung dieser neuen Sicherheitsarchitektur, und zwar zusammen mit Rußland.
Noch nie waren wir - das sollte man bei einer solchen Debatte auch nicht vergessen -, trotz aller noch vor uns liegenden Hürden, der Einheit Europas, der Demokratie, der gemeinsamen Rechtsstaatlichkeit, der Marktwirtschaft in diesem riesigen Raum zwischen Prag und Wladiwostok so nahe. Natürlich sind die Reformen nicht überall gleich vorangekommen. Aber viele der mittel- und osteuropäischen Staaten sind aus der wirtschaftlichen Talsohle heraus. Das kann man nun wirklich sagen.
Man kann, glaube ich, auch sagen, daß die politischen Reformkräfte ganz zweifellos insgesamt an Boden gewinnen.
Ganz schwierig, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt natürlich die Lage in Südosteuropa.
Daß die Dinge in Rußland weiter gut vorangehen - ich glaube, daß es dafür gute Chancen gibt -, ist von ganz besonderer Bedeutung. Das ist mir bei meinem Besuch in Moskau in der letzten Woche wieder überdeutlich geworden.
Deutschland hat - das darf man, glaube ich, mit einer gewissen Genugtuung sagen - für die Reformschritte in den Umbruchländern finanziell und auch personell mehr getan als alle anderen. Wir haben das übrigens auch deshalb getan, Frau Gysi - Sie haben das angesprochen -, weil wir unsere eigenen Erfahrungen damit haben und in besonderer Weise wissen, wie schwierig diese Umbruchprozesse von der Diktatur zu rechtsstaatlichen Strukturen, von der Kommandowirtschaft zu marktwirtschaftlichen Strukturen sind. Das haben wir aber wirklich nicht großkotzig getan. Wir haben es getan, um in all die-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
sen Ländern Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Da brauchen wir unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Richtig ist, daß wir auch Interessenpolitik betreiben, weil wir davon nicht unwesentlich profitieren. Der deutsche Osthandel wächst mit Steigerungsraten von über 20 Prozent. Das muß man einmal deutlich sagen. Das Volumen ist heute bereits größer als das unseres Handels mit den Vereinigten Staaten.
Allerdings: Die wichtigste Unterstützung, die wir den Ländern geben können, ist natürlich die Perspektive des EU-Beitritts. Wir haben aus der Vergangenheit zwei besondere Verpflichtungen. Wir waren diejenigen, die den Menschen in diesen Ländern im Zweiten Weltkrieg einiges angetan haben, und im Gegensatz zu uns, die wir uno actu in die Europäische Union und die NATO hineingekommen sind, sind diese Länder, die uns durch Ihren Freiheitswillen bei der Erlangung der Wiedervereinigung geholfen haben, draußen vor der Tür. Deutschland ist als glücklichstes Land aus den Umbrüchen der letzten Jahre ins Herz Europas gerückt. Deshalb haben wir eine ganz besondere Verpflichtung diesen Ländern gegenüber.
Das haben wir versprochen, und das werden wir einhalten.
Dabei müssen wir die verschiedenen Anstrengungen würdigen. Da haben Sie völlig recht. Niemand muß befürchten, daß er am Ende vor verschlossenen Türen steht. Das heißt, wir müssen so verfahren, wie wir es jetzt tun. Wir müssen differenzieren und dürfen nicht diskriminieren. Das muß unsere Linie sein.
Ich bin immer mehl der Überzeugung, daß wir in der Tat Ende dieses Jahres/Anfang des nächsten Jahres eine Art Konferenz einrichten sollten, bei der wir mit allen verhandeln und entsprechend der Evaluierung durch die Kommission entscheiden, mit den einen wird es sofort funktionieren und für die anderen bleibt die Tür offen. Diese Konferenz ist ein Anfang, und jene Länder wissen, daß sie in absehbarer Zeit dazugehören werden. Das muß unsere Linie sein.
Ich habe vor, in den nächsten Wochen in einer Reihe von Begegnungen mit mittel- und osteuropäischen Kollegen genau diese Themen zu besprechen. Die Gespräche mit der Slowakei werden schwierig; es macht keinen Sinn, das Problem irgendwie wegzudrücken. Aber gerade dort müssen wir zeigen, daß wir diese Republik dabeihaben wollen.
Ganz schwierig wird die Verhandlung mit den baltischen Staaten, weil dort die Erwartungshaltung berechtigterweise besonders hoch ist. Wir fühlen uns als Deutsche diesen drei Ländern gegenüber aus historischen und kulturellen Gründen in besonderer Weise politisch verbunden. Sie sollen wissen, daß wir ihr Anwalt sind.
Ich bin aber dagegen, daß herumgereist wird und in diesen Ländern ebenso wie bei Begegnungen, die in anderen Ländern stattfinden, Erwartungen geweckt werden, die nicht eingehalten werden können. Ich bin dafür, daß man sich für diese Länder einsetzt, aber das muß realistisch erfolgen. Wir müssen natürlich die Kombination von NATO-Beitritt der ersten Gruppe und EU-Beitritt der ersten Gruppe sehen und berücksichtigen.
Die baltischen Staaten sollen wissen, daß sie vom europäischen Zug nicht abgehängt und nicht abgekoppelt werden.
Auch was die Sicherheitsarchitektur - ohne Zusagen machen zu wollen - anbelangt, sollten wir ihnen deutlich sagen: Wenn wir die neue europäische Sicherheitsarchitektur schaffen, dann nicht, indem wir neue Grauzonen zulassen oder indem wir eine Sicherheitsarchitektur schaffen, die zu Lasten der drei baltischen Staaten geht.
Ich möchte deutlich sagen: Ich halte die von Präsident Chirac in die Welt gesetzte Idee einer Charta mit Rußland und der Ukraine für gar nicht so schlecht. Wir müssen darüber nachdenken, in welcher Gruppe die baltischen Staaten bei der NATOErweiterung dabeisein sollen, ob additiv oder kumulativ oder um andere Elemente angereichert. Um es deutlich zu sagen: Entscheidungen sind bisher nicht gefallen.
Ganz wichtig ist natürlich das Verhältnis zu unseren tschechischen Nachbarn. Ich glaube, daß durch das, was wir gemeinsam hier mit großer Mehrheit beschlossen haben und das Gott sei Dank mit großer Mehrheit im tschechischen Parlament abgesegnet wurde, ein Schritt nach vorn getan worden ist.
Ich habe am letzten Wochenende ganz bewußt den tschechischen Außenminister mit seiner Frau an die Grenze nach Sachsen eingeladen. Wir haben dort symbolisch die Brücken überschritten, um deutlich zu machen, daß wir nicht nur Papiere produzieren, sondern daß wir sie auch mit Leben füllen wollen. Ich bitte Sie sehr herzlich, daß der Deutsche Bundestag genauso, wie er die Regierung bei der Erklärung ungeheuer unterstützt hat, das jetzt auch bei der praktischen Ausfüllung tut. Dafür wäre ich ganz besonders dankbar.
Ich sagte bereits: Die Lage in Südosteuropa, besonders in Bulgarien, ist schwierig und ernst. Das Land ist auf Soforthilfe angewiesen. Ich habe mich am Montag im Außenministerrat massiv für die Soforthilfe eingesetzt. Ich habe lange mit dem Interimsaußenminister - er wird das bis April sein -, dem bisherigen Botschafter in Deutschland, telefoniert.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Wir haben 20 Millionen ECU aus PHARE-Mitteln beschlossen. Ich habe darauf hingewiesen und darauf gedrängt, daß Hans van den Broek, der zuständige Kommissar, einen Zuschuß aus den humanitären Mitteln der Europäischen Union gibt. Ich habe - wenn ich das sagen darf - heute morgen beschlossen, daß wir aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes mehrere hunderttausend Mark für Soforthilfe humanitärer Art zur Verfügung stellen, damit wir beweisen, daß es uns mit der Hilfe ernst ist.
Belgrad. Die friedlichen Demonstrationen, die wir von dieser Stelle aus unterstützt haben, haben Enormes erreicht. Ich kann nur sagen: Daß Herr Djindjić jetzt Oberbürgermeister von Belgrad ist, ist ein Fortschritt. Aber natürlich muß man Herrn Miloševič und allen anderen zurufen: Das war nur ein erster Schritt. Jetzt muß der Dialog mit der Opposition folgen.
Jetzt muß die Pressefreiheit kommen. Wir Deutschen rufen ihnen mit besonderem Nachdruck zu: Jetzt müssen sich die Verhältnisse in Kosovo ändern.
Denn nach wie vor kommen im Monat Tausende in die Bundesrepublik Deutschland. Mit unserem Rückführungsabkommen können wir überhaupt nicht beginnen, weil die Zahl von 120 000 Asylbewerbern inzwischen auf weit über 130 000 angestiegen ist.