Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Monaten wird die Debatte über das Verhältnis zu den Staaten Mittel- und Osteuropas von einem Thema dominiert: der gewünschten und geplanten und auch umstrittenen Erweiterung der NATO. Außenminister, Präsidenten und Kanzler, Generalsekretäre, Verteidigungsminister reden allesamt miteinander und gegenüber der Öffentlichkeit über kein anderes Thema so häufig wie über dieses. Dieser Umstand verdeutlicht meines Erachtens verzerrte Prioritäten in der außenpolitischen Debatte.
Ich denke, für manche Staaten ist die NATO-Mitgliedschaft ein Hauptziel der Integrationsbestrebungen, weil sie meinen, der Spatz - NATO - in der Hand sei besser, als jahrelang auf die Taube - EU - zu warten. Ich glaube, daß im Westen die Debatte über die NATO-Frage mitunter als Ersatz für die eigentliche Integrationsdebatte genommen wird, als wolle man damit von den Schwierigkeiten der EU-Erweiterung ablenken.
Deshalb erscheint es mir nötig, die Debatte über die anzustrebende gesamteuropäische Integration wieder auf jene Aspekte zu lenken, die dafür am wichtigsten sind.
Natürlich ist auch die Sicherheit wichtig, und der Anspruch der ost- und mitteleuropäischen Staaten, in europäische Sicherheitssysteme integriert zu werden, ist völlig legitim.
Ich will aber wenigstens beiläufig anmerken, daß in Sicherheitsfragen die westliche Politik Versäumnisse aufweist und daß sie neue Möglichkeiten kooperativer Sicherheit durch die Stärkung der OSZE bis heute vernachlässigt hat. Das Wichtigste aber, die Grundlage all dessen, was gegebenenfalls verteidigungswert wäre, ist eine stabile demokratische und ökonomische Entwicklung in ganz Europa.
- Und eine ökologische. Das brauche ich bei unserer Partei nicht besonders zu betonen.
Sie gilt es zu fördern. Dies ist die bedeutendste und zugleich schwierigste Aufgabe, der sich die Staaten
Gerd Poppe
Europas zu stellen haben. Ich sage ausdrücklich: die Staaten Europas; denn diese Aufgabe kann nicht alleine von den integrationswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas bewältigt werden. Ihre Lösung hat eine historische Dimension. Sie könnte ein Glücksfall in der europäischen Geschichte werden. Nicht zuletzt liegt sie auch im deutschen Interesse.
Das wichtigste Instrument zur Erfüllung dieser Aufgabe ist die Europäische Union. Sie ist die politische und ökonomische Basis der erfolgreichen westeuropäischen Integration. Sie ist das Ziel der mittel- und osteuropäischen Staaten. Zu Recht wird mitunter gesagt, daß viele der Aufnahmekandidaten noch lange nicht reif für eine Mitgliedschaft sind. Aber ebenso muß gesagt werden, daß auch die EU bisher nicht reif für die Aufnahme einer ganzen Reihe neuer Mitglieder ist.
Um diese Reife zu erlangen, sollte sich die EU verstärkt jenen Staaten in Mittel- und Osteuropa zuwenden, die wie Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien oder sogar Estland bereits heute die Aufnahmekriterien mindestens in vergleichbarer Weise wie einige derzeitige EU-Mitgliedstaaten erfüllen könnten. Jene Staaten sollten als gleichberechtigte Subjekte mindestens in die politischen Entscheidungsprozesse der EU mit einbezogen werden, um endlich die dort notwendigen Reformprozesse in Gang zu setzen.
Denn das Modernisierungsdefizit der Europäischen Union ist eines der größten Hindernisse für die gesamteuropäische Integration.
Ich will auf die heute hier zu behandelnden Vorlagen eingehen. In ihnen findet sich leider über diese Themen wenig. Sie geben aber immerhin die Möglichkeit, nach monatelangem Schweigen des Deutschen Bundestages über die Situation in der östlichen Hälfte unseres Kontinentes zu sprechen sowie auch über die Unzulänglichkeit, mit der der Westen die dortigen zum Teil dramatischen Ereignisse reflektiert.
Ich will durchaus die respektablen Leistungen der Bundesregierung oder der Bundesrepublik Deutschland insgesamt für Mittel- und Osteuropa würdigen. Aber ich sehe auch einiges problematischer und widerspruchsvoller als meine Vorredner und will das einfach einmal an der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen illustrieren. Diese Antwort ist sicherlich eine Fleißarbeit. Aber was den politischen Gehalt angeht, erscheint sie mir reichlich uninspiriert.
Am auffälligsten an dieser Antwort finde ich den abgehobenen und bürokratischen Stil der Beurteilung. Wie Schüler werden die einzelnen Länder nach formalen Kriterien abgehandelt und in Schubladen einsortiert. Die unendlichen Mühen, die die notwendigen Reformen selbst in relativ erfolgreichen Ländern wie Polen oder Ungarn für den Großteil der Menschen dort bedeuten, kommen in diesem Raster nicht vor. Deshalb will ich an dieser Stelle wenigstens sagen, daß die vielen von Armut, Hunger, Entwurzelung, Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen unser Mitgefühl und die vielen, die diesen mühsamen Transformationsprozeß tragen, unsere ganze Hochachtung verdienen.
Zugleich verfehlt die Methode dieser buchhalterischen Beurteilung in vielen Einzelfällen die Realität des Reformprozesses. Ich will auch dafür Beispiele nennen.
Bulgarien und Albanien etwa werden als im Prinzip auf dem richtigen Weg geschildert. Sehr zurückhaltend wird für die bulgarische Wirtschaft die Gefahr einer „krisenhaften Entwicklung" genannt. Aber angesichts der jetzigen Hungerrevolte muß man sich wirklich fragen, ob die Verfasser es zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Antwort nicht hätten besser wissen können oder ob sie mit dieser Antwort nur die Fragesteller beschwichtigen wollen. Für letztere Vermutung spricht, daß der Bericht einen Durchschnittslohn für Bulgarien in Höhe von 80 DM im Monat feststellt. Im Unterschied dazu hat UNDP in den letzten Tagen für 1996 ausgerechnet, daß „die große Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung mit monatlich zwischen 8 und 17 DM auskommen muß". Nach Angaben des bulgarischen Sozialministeriums lag der Anteil derer, die schon 1995 unterhalb der osteuropäischen Armutsgrenze lebten, bei 90 Prozent.
Ich zitiere wiederum aus der Antwort der Bundesregierung. Dort wird „die insgesamt positive Entwicklung" in Albanien angesprochen. Sie führte immerhin zu den international festgestellten Wahlfälschungen und kulminierte in den jetzt zu erlebenden Straßenschlachten.
Die innenpolitische Lage in autoritär regierten Ländern wird in der Antwort der Bundesregierung fast durchweg als „stabil" bezeichnet. Beispiel: die Beschreibung der Lage in Usbekistan in der Antwort der Bundesregierung. Sie sei „nach wie vor stabil", heißt es da.
Anschließend wird festgestellt, daß die Oppositionsparteien verboten sind, daß es keine freien Wahlen und keine freie Meinungsäußerung gibt. Was, so frage ich die Bundesregierung, haben Sie eigentlich für einen Begriff von Stabilität?
Ist es nicht gerade die Erfahrung von 1989/90, die uns sagt, daß das Fehlen von Marktwirtschaft, das Fehlen von Demokratie nicht Stabilität zur Folge hat, sondern im Gegenteil zu äußerst instabilen Verhältnissen führt? Wird das nicht gerade auch durch die jüngste Entwicklung in Staaten wie Belarus, Tadschikistan oder, wie erwähnt, Albanien und Bulgarien belegt? Werden hier nicht einmal mehr, wie es Ihnen mit dem sowjetischen System früher schon einmal
Gerd Poppe
passiert ist, Ruhe und Frieden mit Friedhofsruhe verwechselt?
- Ich wundere mich nicht, daß Sie darauf keine Antworten haben.
Je mehr man diese Einschätzungen liest, desto stärker wird der Eindruck, daß Stabilität beschworen wird, damit man selbst nicht allzuviel verändern muß.
Nun könnte man sagen: Die Antwort stammt vom September vorigen Jahres; sie ist nicht mehr aktuell; zwangsläufig kann sie deshalb einige aktuelle Entwicklungen nicht berücksichtigen.
Das trifft sicherlich zu. Vielleicht gibt es ja auch politische Entwicklungen, die Anlaß zur Hoffnung geben; Rumänien wurde schon von meinen Vorrednern genannt. Aber auch diese verspätete Behandlung ist natürlich ein Teil des Problems,
die zu seltene Befassung der deutschen Politik mit diesem Thema.
Jedoch ist das Hauptproblem für mich nicht die verspätete Debatte. Vielmehr besteht es für mich darin, daß die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa ausschließlich aus dem Blickwinkel westlicher Verhältnisse und Befindlichkeiten betrachtet und deswegen nur zum Teil verstanden wird.
Dazu paßt die Überheblichkeit, mit der immer von Geber- und Empfängerländern die Rede ist. Ich nenne auch das Problem, daß es bei der Fülle von Institutionen und Organisationen, die Hilfe für Mittel- und Osteuropa leisten, keine Erfolgskontrolle gibt. Es wird nicht erkennbar, wieviel Geld real in der Bundesrepublik verbleibt und wieviel tatsächlich dort ankommt, wo es gebraucht wird. Man erfährt nicht, wer in Deutschland selber von dieser Hilfe profitiert und in welchem Umfang. Das gilt noch stärker für den Handel mit den Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Firmen, überwiegend aus den alten Bundesländern, haben davon mindestens soviel profitiert wie die sogenannten Empfängerländer.
Meine Damen und Herren, die Realität in den Reformstaaten und ihre Auswirkung auf uns wird sehr deutlich, wenn wir uns den konkreten Dingen zuwenden, beispielsweise den zweifelhaften Methoden zum Schutz der polnischen Grenze, der Problematik der Flüchtlinge und Asylsuchenden, der Problematik von Kriminalität und Prostitution wie an jeder Wohlstandsgrenze in der Welt usw.
Wir müssen uns deshalb natürlich vor allem diesen konkreten Dingen zuwenden, zum Beispiel der Frage der Verlagerung von Arbeitsplätzen in das Billiglohnland Polen oder umgekehrt auch der Verlagerung von billigen Arbeitskräften von Polen nach Deutschland. Dies alles sind Probleme, die wir jetzt angehen müssen, und Herausforderungen für die westeuropäische und deutsche Politik, auf die meines Erachtens bisher nicht in dem erforderlichen Umfang reagiert wurde.
Dazu gehört nicht nur die Tatsache, daß qualifizierte Arbeit bei unseren östlichen Nachbarn billiger ist als hierzulande. Die Globalisierung wird sehr konkret und nimmt eine nicht mehr mit Allgemeinplätzen abzuhandelnde Gestalt an. Es geht um die nächsten Jahre deutsch-polnischer, deutsch-tschechischer, deutsch-ungarischer usw. Zusammenarbeit, die bald ebenso bedeutsam und normal sein wird wie die deutsch-niederländische oder die deutsch-österreichische Zusammenarbeit.
Es wird immer wieder gefragt, wie sich denn die mittel- und osteuropäischen Staaten auf die EU-Mitgliedschaft vorbereiten. Die Fragen aber, wie sich Deutschland vorbereitet und ob unsere derzeitigen Normen für die Zukunft überhaupt brauchbar sind, werden nicht gestellt. Ebensowenig wird die Frage gestellt, wie wir die Kreativität der Gesellschaften in den betrachteten Ländern und die dortige Bereitschaft zu Veränderungen für uns produktiv nutzen und daraus lernen können. Diese Chancen, die sich auch für uns aus dem Integrationsprozeß ergeben, müssen endlich wahrgenommen werden.