Rede von
Hans
Büttner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf, so sehr er auch am Rande steht, ist viel diffiziler und bedeutsamer, als Sie es, Herr Kollege Ramsauer, in Ihrer Rede deutlich zu machen versucht haben.
Das bestehende Gesetz, das das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet hat, weil tariflich vereinbarte betriebliche Sonderzahlungen und 13. Monatsgehälter zwar zu Beiträgen herangezogen, Leistungen dafür aber nicht gewährt werden, stellt einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 des Grundgesetzes dar.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern: Erhält ein Arbeitnehmer zum Beispiel ein tariflich vereinbartes Jahreseinkommen von 50 000 DM über zwölf Monatsgehälter verteilt, dann ist bisher dieses Einkommen auch Grundlage der Bemessung für das Kranken- und Arbeitslosengeld. Erhält ein Arbeitnehmer dieses tariflich vereinbarte Einkommen, nämlich auch 50 000 DM, in Form von zwölf Monatsgehältern, einem tariflich vereinbarten 13. Gehalt, einem tariflich vereinbarten Urlaubsgeld und zum Beispiel einer betrieblich vereinbarten Sonderzahlung, dann sind nur die zwölf Monatsgehälter Grundlage der Bemessung von Leistungen. Genau diesen Sachverhalt, der dazu führt, daß bei gleichem Jahreseinkommen der eine Arbeitnehmer 10 bis 15 Prozent weniger Leistungen erhält als der andere, hat das Verfassungsgericht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz angesehen und daher für verfassungswidrig erklärt.
Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen beseitigt diese Ungleichbehandlung nicht. Zwar überläßt es das Gericht dem Gesetzgeber, wie er diese Ungleichbehandlung beseitigen will; es weist ihm aber auch in seinem Obiter dictum klar den Weg. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten daraus zitieren:
Dem Gesetzgeber steht es dabei frei, wie er die wiederkehrenden, tarif- oder einzelvertraglich vereinbarten Sonderzahlungen berücksichtigen will. Er kann die Ungleichbehandlungen entweder auf der Beitragsseite durch eine Änderung der Beitragsbemessung bei Einmalzahlungen beseitigen oder auf der Leistungsseite durch Einbeziehung von Einmalzahlungen in die Bemessungsgrundlage kurzfristiger Lohnersatzleistungen. Er darf jedoch nicht relativ komplizierte Methoden der Beitragsberechnung zu Lasten der mit der Beitragsabführung befaßten Arbeitgeber einführen und zugleich Leistungen im Hinblick auf ebenso schwierige Berechnungen auf seiten der Leistungsverwaltung gänzlich verweigern.
Dann folgt der Hinweis:
Pauschalierungsverfahren zur Lösung dieser Probleme sind ihm von Verfassungs wegen nicht verwehrt.
Diesen deutlichen Wegweiser ignoriert jedoch der Gesetzentwurf. Er hält an der Beitragspflicht für tarifvertraglich vereinbarte Einmalzahlungen fest, die über 90 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland erhalten. Er berücksichtigt sie beim Krankengeld nur formal und beim Arbeitslosengeld überhaupt nicht.
Auf die zusätzliche Krankengeldregelung, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist, will ich im Detail nicht weiter eingehen. Nur so viel dazu: Der Hinweis der Kassenvertreter während der Anhörung, sie könnten sich keinen einzigen Fall vorstellen, bei dem eine solche Regelung greifen könnte, macht deutlich, wie juristisch hintersinnig und verquer dieser Gesetzentwurf angelegt ist.
Man will den Eindruck erwecken, als berücksichtige man das Urteil des Verfassungsgerichtes; man wählt jedoch ein Verfahren, nach dem zusätzliches Krankengeld nie gezahlt werden muß. Sollte allerdings - auch das haben die Vertreter erklärt - der Fall eintreten, bei dem zusätzliches Krankengeld fällig wird, ist dafür ein Verwaltungsaufwand notwendig, der wiederum den Vorgaben des Verfassungsgerichts widerspricht. Glauben Sie wirklich, die Bürger würden dies nicht durchschauen? Ich befürchte, das Gegenteil wird der Fall sein - mit der Folge, daß Staatsverdrossenheit und Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber wachsen.
Verfassungsrechtlich gravierender ist jedoch der in dem Gesetzentwurf vorgesehene Weg bei der Gewährung von Arbeitslosengeld. Auch hier müssen die Arbeitnehmer weiterhin Beiträge für ihr gesamtes tarifvertraglich vereinbartes Einkommen abführen. Ihre entsprechenden Versicherungsleistungen sollen sich jedoch nicht mehr an diesem Einkommen ausrichten. Maßstab soll nämlich sein, was ein Arbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, künftig an Einkommen erzielen kann. Wenn das wirklich ernst gemeint ist, dann frage ich Sie: Wollen Sie dieses dann auch bei den Problemgruppen des Arbeitsmarktes durchziehen? Wollen Sie Behinderten, Älteren oder gering Qualifizierten die Versicherungsleistungen letztlich ganz streichen, weil sie überhaupt keine Chance mehr auf einen Arbeitsplatz haben?
Mit dieser durchschimmernden Abkehr vom Versicherungsprinzip verkennen Sie aber auch, daß die meisten Arbeitslosen - trotz der bedauerlich hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen - nur relativ kurze Zeit ohne Arbeit sind und es damit auch für die Verwaltung kaum möglich sein wird, festzuhalten, wo die Orientierung für künftige Einkommen eigentlich liegt.
Ich nenne als Beispiel den Fall eines Jungredakteurs einer Zeitung, dem aus Tendenzgründen gekündigt wird, der aber während der Arbeitslosigkeit drei Monate später einen Zeitvertrag als Lokalchef einer anderen Zeitung erhält.
Hans Büttner
Welches Arbeitsentgelt wird nun für die Berechnung seines Arbeitslosengeldes zugrunde gelegt? Das frühere Entgelt oder das künftige Entgelt?
Sie können eine ganze Reihe weiterer Beispiele aufführen. Das Ergebnis wird sein: Eine solch unbestimmte Formulierung im Gesetz kann nur zur Willkür führen und birgt erneut das Risiko der Verfassungswidrigkeit in sich, weil sie einen unnötig hohen Verwaltungsaufwand bei den Arbeitgebern und Leistungsträgern verursacht.
Eine gesetzliche Regelung, die in Kauf nimmt, daß ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz in wenigen Jahren erneut für verfassungswidrig erklärt wird, untergräbt das Vertrauen der Burger in die staatliche Rechtssetzung.
Dabei hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber in seinem Obiter dictum aufgezeigt, wie eine verfasssungskonforme Regelung aussehen könnte. Ich bedaure es, daß die Ministerien, die seit Jahren die Vorschläge der Versicherungsverbände auf dem Tisch haben, darauf in keiner Form eingegangen sind, obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätten, hier einen vernünftigen Ausweg zu wählen.
Wir Sozialdemokraten können einem Gesetz, das nach Aussage der meisten Sachverständigen verfassungswidrig oder zumindest mit hohen Risiken behaftet ist - wie selbst der Justizminister und der Rechtsausschuß in ihren Stellungnahmen einräumen -, nicht zustimmen.
Ich zitiere:
Der Weg, den der Gesetzentwurf einschlägt, ist insofern nicht ohne verfassungsrechtliches Risiko, als er für die Ausführung des richterlichen Regelungsauftrags einen weitgespannten Gestaltungsraum in Anspruch nimmt.
Dies schreibt selbst der von der CDU/CSU benannte Professor Badura in seiner Stellungnahme.
Der Frankfurter Professor Dr. Ebsen erklärte bei der Anhörung - nun hören Sie bitte genau zu -:
Insofern meine ich, daß in der Tat ein ganz erhebliches verfassungsrechtliches Risiko mit diesem Entwurf verbunden ist, das so deutlich ist, daß das Bundesverfassungsgericht auch nicht in der Lage sein wird, dem Gesetzgeber erneut eine Ausbesserungsfrist zu geben, mit der Folge, daß das Risiko sich dann in der Tat ab Anfang 1997 auch als ein erhebliches finanzielles Risiko für die Versichertengemeinschaft darstellt.
Sie nehmen also bewußt in Kauf, daß bei der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ab 1997 riesige Löcher entstehen können, weil dieses Gesetz erneut vom Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt werden wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, daß die Rechtsverläßlichkeit und die Rechtstreue des Staates für unsere Gesellschaft und unser staatliches Gemeinwesen konstitutive Güter sind. Dies darf weder durch schlampige Gesetzesarbeit noch durch das Diktat einer verfehlten Finanz- und Wirtschaftspolitik zerstört werden.
Mit unserem Antrag fordern wir Sie deshalb auf, schleunigst einen Weg mit den beteiligten Trägern zu finden, der eine verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung ermöglicht. Sie wird zwar nicht zum Nulltarif zu haben sein, aber zumindest den Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen.
Wer wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, in der Lage ist, durch Untätigkeit bei der Umsetzung eines anderen Urteils des Verfassungsgerichts die Besitzer hoher Privatvermögen von der Vermögensteuer zu befreien und damit die Kassen der Länder zu plündern, zur gleichen Zeit jedoch Arbeitnehmern mit dem Hinweis auf leere Kassen Leistungen verfassungswidrig vorenthält, für die sie Beiträge gezahlt haben, handelt nicht nur unglaubwürdig und fahrlässig, er wird vielmehr selbst zum verfassungsrechtlichen Risiko.
In seinem Aufsatz „Die Legitimation des Grundgesetzes als der Verfassung Deutschlands in der Perspektive Hegels" , erschienen in Band 4 der „Interdisziplinären Studien zu Recht und Staat" , schreibt Wolfgang Schild unter anderem:
Der einzige mögliche Hüter dieser Verfassung kann nur der sittliche Wille selbst sein.
Er fährt fort, daß bei uns dieser sittliche Wille durch das Verfassungsgericht kontrolliert wird. Er schreibt weiter:
Aber es muß auch Vertrauen bestehen, daß die anderen Menschen an den Schalthebeln der staatlichen Macht sich an die Rechtssprüche des Verfassungshüters halten werden.
Mit diesem Gesetz tun Sie das nicht und zerstören dieses Vertrauen. Ziehen Sie dieses Gesetz deshalb zurück, bevor Sie selbst Objekt des Verfassungsschutzes werden müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.