Rede von
Ulla
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Andere wiederum können es sich finanziell nicht leisten. In vielen Fällen dürfte beides zutreffen. Für eine alleinerziehende Mutter kann so der Beinbruch ihres Kindes zur existentiellen Frage werden. Ich halte es - gelinde gesagt - für einen üblen Scherz, diesen Frauen zu raten, statt dessen Urlaub zu nehmen. Schon heute wissen viele nicht, wer in den Schulferien ihre Kinder betreuen soll. Was sagen Sie denen? Was sagen Sie denjenigen, die erst nach den Schulferien längerfristig erkranken?
Wer zukünftig in diesem Land krank wird, dem droht selbst bei einem Einkommen von 4 100 DM brutto schon die Sozialhilfe. Bei Gelbsucht oder Herzinfarkt rutscht ein Arbeitnehmer mit drei Kindern - so die Berechnungen des Instituts für Sozialrecht der Universität Köln - um 47 DM unter den Sozialhilfesatz. Ich glaube nicht, Herr Bundeskanzler, daß sich Ihre Wählerinnen und Wähler so die Zukunft der Familie, von der Sie so gerne reden, vorgestellt haben.
Herr Bundesarbeitsminister, auch Ihre Anleitung zur betriebsbedingten Kündigung führt die Frauen genau dort hin, wo sie Ihrer Meinung nach offensichtlich hingehören: in die Familie und an den Kochtopf. Dies erreichen Sie zielgenau mit Ihrer sogenannten Auswahl an Sozialkriterien, wie Dauer der Betriebszugehörigkeit und der ganz besonders betriebenen und verlangten Familienernährerideologie. Für Frauen bleibt dann noch die moderne Tagelöhnerei übrig, ungeschützte geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, die zu Armut, Sozialhilfe und zu Minirenten führen. Das ist unter dem Strich Ihre Gleichstellungspolitik, meine Damen und Herren von der Koalition.
Frau Ministerin Nolte, wenn Sie Ihren Auftrag als Frauen- und Familienministerin nur in einem ganz geringen Maße wahrnehmen würden, dann hätten Sie die gestern angekündigte Gleichstellungskampagne für 1997 besser zur Verhinderung dieses Kürzungspaketes genutzt.
Frau Ministerin, nicht Ihre über alles geliebten Kampagnen sollten Sie planen. Vielmehr sollten Sie über Moral, Gerechtigkeit, Verläßlichkeit und über Prinzipien unseres Sozialstaates reden, über Vertrauen, das Menschen in diesem Lande in die Entscheidungen der Politik setzen, zum Beispiel Vertrauen in das, was sie im Alter an Rente erhalten.
Was erzählen Sie denn zum Beispiel 55jährigen Frauen, die sich heute ihre Rentenanwartschaften ausrechnen lassen und morgen feststellen müssen, daß diese Zahlen nicht mehr stimmen? Sie stimmen nicht mehr, weil Sie nicht nur der Erhöhung des Rentenalters zustimmen, sondern weil Sie dramatische Kürzungen bestehender Rentenanwartschaften heute gleich mitbeschließen.
Wenn Sie zum Beispiel die Anerkennung von Hochschulausbildung, schulischer und Berufsausbildung reduzieren, trifft dies zwar alle, aber es trifft Frauen besonders wegen der unterbrochenen Erwerbsbiographie, weil viele der sogenannten Frauenberufe eine schulische Ausbildung zur Grundlage haben - ich nenne hier nur Krankenschwestern, Kinderpflegerinnen, Haushaltsschulen -, weil die Ausbildungsvergütung für sogenannte frauentypische Berufe auch heute immer noch geringer ist als die der Männerberufe.
Wenn Sie in den letzten Tagen davon geredet haben, jetzt endlich eine verbesserte Anerkennung der Erziehungs- und Familienarbeit in der Rentenberechnung durchsetzen zu wollen, können Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, mir dann einen einzigen Grund nennen, warum Sie heute zuerst Kürzungen bestehender Rentenanwartschaften beschließen, die Frauen genau wegen dieser Erziehungs- und Familienarbeit überproportional treffen? Oder läuft das alles nach der Methode: Ich klaue dir zwar die Kuh, aber ich gebe dir morgen ein Kotelett zurück!?
Mit dem vorliegenden Gesetzespaket legalisiert diese Bundesregierung alle Gesetzesbrüche, unter denen Frauen besonders auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ohnehin zu leiden haben. Ich erinnere nur daran, daß Frauen selbst während des Erziehungsurlaubs entlassen wurden oder daß Frauen nicht eingestellt wurden, wenn sie nicht zuvor unterschrieben haben, daß sie auf den Rechtsanspruch auf Freistellung bei der Erkrankung der Kinder verzich-
Ulla Schmidt
ten werden. Das machen Sie demnächst für jeden vierten Arbeitsplatz in diesem Land!
Zum Schluß noch ein Wort an meine Kolleginnen aus den Koalitionsfraktionen: Berührt es Sie nicht, wenn ältere Frauen, die ohnehin eine Rente unter 1 000 DM zu erwarten haben, jetzt auch noch mit Rentenabschlägen leben sollen? Können Sie sich nicht mehr vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mehr krank werden darf? Was sagen Sie den Frauen, die nicht einmal mehr auf eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hoffen können? Haben Sie um der Fraktionsdisziplin willen die Frauen vergessen, die zukünftigen Rentnerinnen, die Arbeitslosen, die Mütter und die Familien? Wo bleibt denn die Förderung der Familie, wenn Sie mit den vorliegenden Gesetzen den Familien eine gesicherte Existenz als Grundlage des familiären Zusammenlebens entziehen werden?
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: In den ganzen Diskussionen der letzten Zeit habe ich bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, den Arbeitslosen und Kranken viel Bereitschaft erlebt, ihren gerechten Anteil zur Lösung der Probleme unseres Landes beizutragen. Ich habe auf der anderen Seite erlebt, daß das Abschiednehmen vom Besitzstandsdenken immer lauter von denjenigen eingefordert wird, deren eigene Besitzstände nicht zur Disposition stehen.
Kein einziges Wort aber habe ich von all diesen Murmanns, Späths oder Henkels gehört, wo denn deren Beitrag liegt, um die Probleme dieses Landes zu lösen.
Eines kann ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren von der Koalition: Mit der Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzespaket belohnen Sie diesen Egoismus, während Sie die Bereitschaft von Millionen von Männern und Frauen in diesem Land zum solidarischen Teilen mit Füßen treten.