Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in der Haushaltsdebatte in dieser Woche vor allem über die Frage diskutiert, wie wir die Wachstumskräfte stärken können, wie wir die Grundlagen sozialer Sicherheit zukunftsfest machen können und wie wir einen Beitrag dazu leisten können, daß die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Genau um diese Fragen geht es auch bei den Entscheidungen, die wir jetzt im Anschluß zu treffen haben. Mit diesen Entscheidungen findet ein langer - auch leidenschaftlicher - parlamentarischer wie öffentlicher Diskussionsprozeß seinen Abschluß.
Meine Damen und Herren, vielleicht ist es in diesem Augenblick einmal ganz interessant, sich noch einmal über den zeitlichen Ablauf dieser Debatte zu vergewissern, weil sich mancher von uns, vor allem aber die Öffentlichkeit, angesichts der Kurzatmigkeit unserer öffentlichen Diskussionsprozesse kaum noch zurechtfindet und weil viele Bürger oft fragen oder auch nicht verstehen können, warum das alles so lange dauert, bis in Bonn entschieden wird, während wir für die Gesetze, die wir jetzt zu verabschieden haben, in der parlamentarischen Beratung von der
Dr. Wolfgang Schäuble
Opposition - nicht völlig ohne Grund übrigens - den Vorwurf bekommen haben, das gehe alles viel zu schnell, der Zeitdruck sei zu groß.
Deswegen ist es in diesem Augenblick vielleicht einmal ganz hilfreich, daran zu erinnern: Beide Koalitionsfraktionen haben am 25. April - abends - unser „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" beschlossen. Der Bundeskanzler hat es am 26. April, am nächsten Morgen, hier im Deutschen Bundestag vorgestellt, und darüber haben wir eine erste Debatte geführt. - Das waren noch nicht die Gesetze. - Wir haben dann zusammen mit den Ministerien, die Gesetzentwürfe, die für die Umsetzung dieses Programms notwendig waren, erstellt und im Bundestag eingebracht. Die erste Lesung der Gesetzentwürfe war am 23. und 24. Mai. Dann kamen die Ausschußberatungen, und am 28. Juni war die zweite und dritte Lesung der Gesetze.
Der Bundesrat hat sich, nach der Verabschiedung im Bundestag, am 19. Juli mit den Gesetzen befaßt und den Vermittlungsausschuß angerufen. Der Vermittlungsausschuß hat am 26. August - mit der Mehrheit der sozialdemokratisch geführten Landesregierungen und der Minderheit aus dem Lager der Opposition - mehrheitlich Ergebnisse beschlossen, die der Beschlußfassung im Bundestag nicht entsprochen haben, die nicht unserer Überzeugung entsprechen und die wir deswegen in einer Sondersitzung des Bundestages am 29. August zurückgewiesen haben. Daraufhin hat der Bundesrat in seiner Sitzung gestern, am 12. September - -
- Nein, die Öffentlichkeit weiß das nicht. - Der Bundesrat hat gestern den Gesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, seine Zustimmung verweigert
und bei den Gesetzen, die seiner Zustimmung nicht bedürfen, Einspruch eingelegt.
Soweit es Gesetze sind - und über die stimmen wir jetzt ab -, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, können wir, der Bundestag, mit der Mehrheit unserer Mitglieder diesen Einspruch zurückweisen, und dann kommen die Gesetze zustande. Soweit die Gesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen - und da gibt es vier Gesetze - werden wir entweder beantragen, das Vermittlungsverfahren erneut in Gang zu setzen, oder wir werden die Gesetze zur gesetzlichen Krankenversicherung neu einbringen, um einen Teil zustimmungsfrei zu halten und bei einem anderen Teil zu versuchen, die Zustimmung zu bekommen. Das ist der Verfahrensstand.
Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um Verfahren. Da gerade Frau Matthäus-Maier in Ihrem letzten Beitrag, auf den ich nun nicht mehr eingehen will, weil jede Debatte mal ein Ende finden muß - -
- Wahrscheinlich würde der Präsident mich dann zur Ordnung rufen, da wir jetzt bei einem neuen Tagesordnungspunkt sind.
Frau Matthäus-Maier, Sie haben schon über die nächsten Themen geredet, darüber, wo wir uns auch mit dem Bundesrat verständigen müssen, weil ohne die Zustimmung des Bundesrates diese Gesetze nicht zustande kommen. Aber ich finde es wirklich wichtig, daran zu erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß mit dieser Debatte und diesen Entscheidungen - nicht nur in unserem Hause, sondern auch bei der Bevölkerung, für die wir alle Verantwortung tragen, von der wir gewählt sind - viel Leidenschaft, viel Verunsicherung, viele Auseinandersetzungen und auch viele besorgte Fragen verbunden sind. Deswegen lassen Sie uns die Chance nutzen, so ernsthaft, so sachlich und so ehrlich, wie wir können, unsere Argumente auszutauschen, aber auch zu sagen, worum es geht und worum es nicht geht. Und lassen Sie uns nicht über die nächsten Schritte reden, bevor wir die jetzt anstehenden Entscheidungen getroffen haben. Jetzt müssen wir erst einmal über das entscheiden, was heute zur Entscheidung ansteht.
Der Beratungsprozeß, den ich Ihnen mit den Daten geschildert habe, belegt auch, daß wir trotz aller Kritik gründlich debattiert, jedes Detail beraten und jede Einwendung - ob sie in diesem Haus oder in Demonstrationen erhoben worden ist - daraufhin geprüft haben, ob wir ihr Rechnung tragen können. Wir haben also nicht gesagt: Augen zu und durch!
Wir haben zum Beispiel bei unseren Vorstellungen zur Anhebung der Altersgrenze bei Frauen erfahren müssen: Die schnelle Umstellung ist mit der Lebensplanung der Frauen nicht vereinbar. Daraufhin haben wir - nach dieser Kritik, die wir für berechtigt gehalten haben - die notwendigen Änderungen vorgenommen, und das steht zur Entscheidung an.
Aber alle Beratungen, alle Auseinandersetzungen, auch verbleibende unterschiedliche Meinungen, die wir ja respektieren - und ich werde mich dafür einsetzen, daß Sie Ihre Argumente noch einmal ungestört vortragen können --, dürfen nicht verhindern, daß irgendwann auch entschieden werden muß. Und jetzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist die Debatte zu Ende. Jetzt muß entschieden werden: heute, an diesem Freitag.
Ich will in aller Kürze noch einmal die wesentlichen Argumente zusammenfassend vortragen, die uns bei unserer Entscheidung bewegen.
Wir haben 3,9 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das ist zuviel, damit dürfen wir uns nicht abfinden. Das ist das Entscheidende. Angesichts eines sich verschärfenden Wettbewerbs um Investitionen und Arbeitsplätze in Europa und weltweit müssen wir - dazu gibt es keine Alternative - den Standort Deutschland stärken. Wir müssen wirtschaftliches
Dr. Wolfgang Schäuble
Wachstum, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verbessern, wenn wir die Fundamente unseres Sozialsystems, unseres Sozialstaates für die Zukunft sichern und dazu beitragen wollen, daß neue, daß mehr Arbeitsplätze in diesem Lande entstehen.
Dazu ist eine Begrenzung des Anstiegs von Lohnkosten, Lohnnebenkosten und der Ausgaben des Staates - von Bund, Ländern und Gemeinden - und der Sozialversicherungen unausweichlich. Wer Ausgabenanstiege begrenzen will, der kommt um Einsparungen bei Ausgaben nicht herum. Das ist durch Umschichtungen bei Einnahmen nicht zu leisten.
Sie haben in dieser Haushaltsdebatte Vorschläge dazu gemacht, wie man die Einnahmen umschichten kann - Steuern abbauen an der einen Stelle, sie dafür an anderer Stelle erhöhen; Abgaben an der einen Stelle erhöhen; an anderer Stelle Abgaben senken, doch nicht zu stark -, aber Sie haben keine Vorschläge dazu gemacht, wie man Ausgaben kürzen kann. Doch nur so können wir die Steuer- und Abgabenquote senken.
- Hören Sie doch für ein paar Minuten auf, dauernd Zwischenrufe zu machen, deren Sinn ich nicht erkennen kann.
- Ich versuche immer, dafür zu sorgen, daß auch Sie nicht gestört werden.
Viele Menschen sind der Ansicht, daß wir uns mit dem, was jetzt zur Entscheidung ansteht, ernsthaft auseinandersetzen sollten. In diesem Sinne verstehen Sie bitte, wenn wir Ihnen sagen: Sie haben keine Alternativen vorgelegt, jedenfalls nicht in bezug auf Einsparmöglichkeiten. Sie haben zwar Steuererhöhungen und Abgabenumschichtungen vorgeschlagen, aber keine Einsparungsvorschläge gemacht, auch in dieser Woche nicht.
Im übrigen kann man in dieser Stunde vielleicht auch die Leidenschaft noch einmal dämpfen, wenn man daran erinnert, daß schon im Januar bei den Gesprächen zwischen der Bundesregierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden Übereinstimmung erzielt wurde. Das ist ja im „Bulletin" der Bundesregierung vom 26. Januar 1996 festgehalten. Es hat ein gemeinsames Papier gegeben. Aus ihm zitiere ich die folgenden Sätze. Zum Beispiel:
Eine zu hohe Staatsquote hemmt die wirtschaftliche Dynamik, engt Spielräume für Eigeninitiative ein und mindert die Leistungsbereitschaft der Bürger.
Meine Damen und Herren, wenn das richtig ist, müssen wir die Ausgaben senken. Durch Umschichtungen können wir die Staatsquote nicht abbauen. Deswegen mahne ich die fehlenden Alternativen an.
Oder - Bundesregierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände am 23. Januar -:
Den Sozialstaat zu sichern und zu festigen ist gemeinsames Ziel und gemeinsame Aufgabe. Seine Finanzierungsgrundlagen müssen durch Reformen erhalten bleiben. Die Sozialbeiträge insgesamt und die Sozialabgabenquote müssen stabilisiert und bis zum Jahr 2000 wieder auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden.
Das haben die Bundesregierung, die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände gemeinsam festgestellt. Das ist nur durch Ausgabenkürzungen - anders nicht - zu erreichen.
Oder:
In der Rentenversicherung muß das Versicherungsprinzip gestärkt, schrittweise das tatsächliche Renteneintrittsalter auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung erhöht werden.
Auch das haben die Bundesregierung, die Gewerkschaften und Wirtschaftsvertreter im Januar gemeinsam festgestellt. Gesetzliche Maßnahmen, die genau das umsetzen sollen, stehen heute zur Abstimmung an. Sie sehen eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters vor. Stärkung des Versicherungsprinzips heißt: eine Neubewertung der beitragsfreien Zeiten. Auch eine diesbezügliche gesetzliche Maßnahme steht nachher zur Abstimmung an, wenn wir den Einspruch des Bundesrats zurückweisen wollen.
Oder - Bundesregierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände im Januar -:
Im Gesundheitswesen müssen Kostenbegrenzung durch mehr Wettbewerb, größere Selbstverantwortung und mehr Befugnisse und Verantwortung der Selbstverwaltungen erreicht werden.
Genau diese Prinzipien hat der Bundesrat in seiner gestrigen Entscheidung abgelehnt. Wir müssen sie durchsetzen.
Oder auch:
Geprüft werden sollen in gemeinsamen Gesprächen Möglichkeiten zur Verringerung von Fehlzeiten in den Betrieben.
Also auch in dieser Beziehung ist der Handlungsbedarf zwischen Bundesregierung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften im Januar unstreitig gewesen.
Wenn dies alles so ist, dann fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns doch, auch wenn wir in der Sache unterschiedlicher Meinung sind, den Streit nicht übertreiben. Vielmehr lassen Sie uns ein wenig auf dem Teppich bleiben. Lassen Sie uns doch nicht so tun, als gingen alle Maßstäbe in der parlamentarischen
Dr. Wolfgang Schäuble
Auseinandersetzung verloren. Wir setzen mit unserem „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" genau auf die Ziele, die Bundesregierung, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften gemeinsam für notwendig erklärt haben. Wir setzen auch darauf, Existenzgründer stärker zu fördern - das hat die niedersächsische Landesregierung ja als vorbildlich gelobt; ich habe das ja vorgestern hier schon gesagt -, und darauf, durch mehr Flexibilität neue Beschäftigungspotentiale zu erschließen, beispielsweise in privaten Haushalten, aber insbesondere auch bei den Existenzneugründern und vor allem bei kleinen und mittleren Betrieben.
Meine Damen und Herren, ich will im Hinblick auf die anstehenden Abstimmungen nur vier Punkte erwähnen, die besonders in der öffentlichen Auseinandersetzung im Mittelpunkt stehen.
Erstens. Wir wollen bei befristeten Arbeitsverhältnissen und beim Kündigungsschutz mehr Flexibilität schaffen. Wenn wir die Situation der kleinen und mittleren Betriebe verbessern, damit sie neue Arbeitskräfte einstellen können, dann ist das ein Beitrag, Arbeitslosigkeit abzubauen.
Durch diese Neuregelung verliert niemand etwas, was er hat.
- Entschuldigung, diese Regelungen sollen nur für Neueinstellungen gelten.
Das haben wir in der Argumentation berücksichtigt. Das heißt, jeder, der einen Arbeitsplatz hat, behält seinen Kündigungsschutz. Dem aber, der keinen hat, sage ich: Lieber befristet arbeiten als dauerhaft arbeitslos sein.
Zweitens: Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das ist kein einfaches Thema. Niemand hat es sich leichtgemacht - in der Union nicht und in der F.D.P.-Fraktion auch nicht; wir haben ernsthaft darüber geredet. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Kein anderes Land in der Welt hat eine 100prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ohne jede Selbstbeteiligung. Meistens ist es doch so: Wenn auf der Autobahn alle anderen in die andere Richtung fahren als man selbst, fahren nicht all die anderen falsch, sondern man selbst.
Es wurde viel davon gesprochen - das respektiere ich -, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sei das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung in der Metallindustrie in Schleswig-Holstein in den 50er Jahren gewesen. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, daß es damals darum ging, Arbeiter und Angestellte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gleichzubehandeln. Das Ergebnis jener Auseinandersetzung ist eine Regelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Jahre 1957 gewesen, nach der zwei Karenztage für Arbeiter und Angestellte
und anschließend 90prozentige Lohnfortzahlung vorgesehen wurden. Deswegen sage ich: Überhöhen Sie die Argumente gegen unseren Vorschlag nicht!
Bedenken Sie im übrigen vor allen Dingen eines: Unser Vorschlag ist, Arbeiter, Angestellte und Beamte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gleichzubehandeln. Bei der Regelung für Beamte brauchen wir die Zustimmung des Bundesrates. Der Bundesrat hat diese Zustimmung verweigert. Ich glaube nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion und der Mehrheit im Bundesrat, daß es auf die Dauer Sinn macht - gerade wenn Sie sich dem Erbe jener Auseinandersetzung um die Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten verpflichtet fühlen -, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten einerseits und Beamten andererseits aufrechtzuerhalten.
Drittens. Bei den Maßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geht es letzten Endes um das Prinzip, das wir übrigens auch bei dem leidenschaftlichen Ringen um die Pflegeversicherung berücksichtigt haben: daß wir, wenn wir neue, große Risiken absichern wollen - vor dem Hintergrund einer Sozialquote, deren Volumen rund ein Drittel des Bruttoinlandprodukts ausmacht und die wir somit nicht beliebig steigern können -, bei kleinen Risiken vielleicht ein Stückweit mehr Selbstbeteiligung vorsehen.
Da die Ausgaben für stationäre Kuren -- um das Beispiel zu nennen - in den letzten drei oder vier Jahren um 25 Prozent oder mehr gestiegen sind - bei gleichzeitigem Rückgang der Anzahl der ambulanten Kuren -, wird offenkundig, daß das Element von mehr Selbstbeteiligung wohl doch ein richtiges Steuerungselement ist, damit wir auch in Zukunft wirksame Vorsorge für die großen Lebensrisiken leisten können. Bei Zahnersatz oder Brillengestellen können wir dann schon ein bißchen mehr Eigenbeteiligung verlangen. Ich glaube, das Prinzip ist nicht falsch, sondern richtig.
Viertens: Rentenversicherung. Man kann angesichts der demographischen Entwicklung - steigende Lebenserwartung - die Notwendigkeit einer allmählichen Anpassung des Renteneintrittsalters nicht bestreiten. Darüber hatten wir Anfang der 90er Jahre Konsens. Über das Anpassungstempo kann man streiten. Wir haben unseren entsprechenden Vorschlag zurückgenommen; wir haben ihn in den Beratungen korrigiert.
Wenn das Versicherungsprinzip in der Rentenversicherung gestärkt werden soll - wie Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaft im Januar gesagt haben -, dann ist eine Neubewertung von beitragsfreien Zeiten genau der richtige Weg. Ich sage es noch einmal: Wir haben uns die Entscheidungen, die jetzt anstehen, nicht leichtgemacht. Wir haben auch Verständnis für die öffentliche Auseinandersetzung. Wir haben uns ebenfalls nicht leichtfertig über Kritik hinweggesetzt, sondern versucht, genau zuzuhören.
Dr. Wolfgang Schäuble
Wir wissen jedoch, daß uns niemand unsere Verantwortung zu entscheiden abnehmen kann. Dafür sind
wir gewählt, und deswegen müssen wir entscheiden.
Bitte verlieren Sie nicht die Maßstäbe: Wir haben 1,2 Billionen DM Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben eine Sozialleistungsquote von 33,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn die Sozialleistungsquote durch die jetzt zur Entscheidung anstehenden Maßnahmen auf 33 Prozent absinkt, dann ist das nicht das Ende des Sozialstaats, sondern eine notwendige Maßnahme, um den Sozialstaat für die Zukunft zu sichern.
Um die Leidenschaften zu überprüfen, lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, was in anderen europäischen Ländern in diesen Jahren gemacht wurde. In den Niederlanden - dort gibt es einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten - wird eine Kostenbeteiligung der Versicherten in der Krankenversicherung eingeführt, ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 70 Prozent des Lohns begrenzt worden, sind Sozialleistungen und Versorgungsbezüge von der Lohnentwicklung abgekoppelt worden.
In Schweden - einstmals sozialistisches Musterland - sind Karenztage und eine Senkung auf 75 Prozent bei der Lohnfortzahlung eingeführt worden, ebenso Zuzahlungen bei Artzbesuchen, Arzneimitteln und Krankenhausaufenthalten, Senkung des Kindergelds - wir wollen nur die Erhöhung verschieben, nichts senken -, Herabsetzung des Unterstützungssatzes in der gesamten Sozialversicherung, Anhebung der Altersgrenze in der Rentenversicherung auf 66 Jahre usw.
Im internationalen Maßstab sind wir mit dem Niveau unserer sozialen Vorsorge und sozialen Sicherheit immer noch an der oberen Spitze. Das soll auch so bleiben. Aber damit es so bleiben kann, muß es auch finanzierbar sein.
Die OECD hat in einem Bericht, der in dieser Debatte oft genug zitiert worden ist, davon gesprochen, daß die vollständige Umsetzung der Maßnahmen, die die OECD begrüßt, die Verabschiedung von Gesetzen, die gegen den hartnäckigen Widerstand der Länder im Bundesrat durchgebracht werden müssen, erfordert. Das sollte ein Appell an die Bundesratsmehrheit sein, ihre Zustimmung bei den zustimmungspflichtigen Gesetzen nicht zu verweigern.
Dort, wo wir gegen den Einspruch des Bundesrates entscheiden können, sind wir, wenn wir von der Richtigkeit und Notwendigkeit unserer Überlegungen überzeugt sind, auch verpflichtet, uns über den Einspruch hinwegzusetzen. Deswegen werden wir mit der notwendigen Mehrheit des Bundestags den Einspruch des Bundesrats zurückweisen.
Die Mehrheit im Bundesrat ist genauso demokratisch zustande gekommen wie die im Bundestag. Der Respekt vor demokratischen Entscheidungen erfordert auch den Respekt vor den Entscheidungen der Mehrheit. Wenn die Entscheidung in ein paar Stunden getroffen sein wird, sollte man den Respekt vor
dieser Entscheidung nicht verweigern und deshalb den Streit wieder begrenzen und sich der gemeinsamen Verantwortung stellen.
Dort, wo wir auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen sind, müssen wir uns einigen. Deswegen wollen wir jetzt die nicht zustimmungsbedürftigen Gesetze verabschieden. Für die zustimmungsbedürftigen werden wir erneut den Vermittlungsausschuß anrufen. Dann wollen wir in der Würdigung der unterschiedlichen Mehrheiten so rasch und konstruktiv wie möglich Gespräche führen. Wir wollen so schnell wie möglich verhandeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aber so schnell wie möglich handeln; denn es geht bei dem, was für Wachstum und Beschäftigung, für mehr Arbeitsplätze und den Erhalt unserer Zukunftssicherheit - hier dürfen die notwendigen Entscheidungen nicht verzögert werden, und man darf ihnen nicht ausweichen - nötig ist, um die Zukunft unseres Landes. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam unsere Verantwortung tragen. Wir sind dazu bereit.