Ich warne davor, den Zugang des einzelnen zum Bundesverfassungsgericht zu beschneiden, auch aus den Erfahrungen in der DDR, wo es bekanntlich keine Verfassungsgerichtbarkeit gab und der Bürger seine Grundrechte nicht einklagen konnte. Ich denke auch, daß die Zahl der Verfassungsbeschwerden aus dem Osten erst richtig anschwellen wird, wenn die Instanzenzüge absolviert sind. Diesem Problem wird man nicht durch Verfahrensfinessen beikommen. Man muß dort die Diskriminierung beenden. Ich meine, daß das ernste Fragen sind.
Herr Scholz hat heute von Verfassungsverstößen der Länder gesprochen. Ich finde, wir sollten auch von Verfassungsverstößen des Bundes reden. Herr Geis hat, so möchte ich sagen, eine etwas beunruhigende Terminologie angewandt. Er sprach nun zum wiederholten Male von Gangsterwohnungen, die jetzt überwacht werden sollten. Er meint den großen Lauschangriff. Aber ob es Gangster sind, weiß man eben noch nicht. Diese etwas vereinfachende Terminologie halte ich für nicht besonders. Auch seinen Satz, wir sollten nicht allzusehr rechtsstaatlichen Maßstäben widersprechen, finde ich etwas seltsam. Man kann, wie wir alle wissen, nicht ein bißchen schwanger sein, und entweder hat man die rechtsstaatlichen Maßstäbe verletzt oder nicht. Aber sie nicht allzusehr zu verletzen, finde ich seltsam.
Ich komme zum Sozialstaatsprinzip, das bekanntlich in den Art. 20 und 28 des Grundgesetzes verankert ist. Ich meine, daß dieses Prinzip gegenwärtig
Dr. Uwe-Jens Heuer
wenig beachtet wird. Kaum jemand aus der Regierung spricht noch vom Sozialstaatsprinzip. Der Aufsichtsratsvorsitzende der BMW AG, Eberhard von Kuenheim, erklärte:
Jeder von uns weiß, daß das überalimentierte Sozialsystem sich wandeln muß. Wegen aus ideologischen Gründen bestehender Tabus wagen wir aber höchstens, vom Umbau zu sprechen, obwohl wir hier alle wissen: Nur der Abbau steht zur Diskussion.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen, zum Beispiel im 22. Band, erklärt, der Staat habe die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.
In dem KPD-Urteil, das zur Schande dieses Staates immer noch rechtskräftig ist, wird - offenbar, um die bittere Pille etwas zu versüßen - erklärt:
... annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt . . .
Jetzt möchte ich fragen, ob, an diesen Kriterien gemessen, die jetzige Entwicklung verfassungsmäßig ist. Die Bundesregierung beschwört die Sachzwänge. Aber Herr Benda hat vor zehn Jahren geschrieben:
Der Verteilungskampf wird um so schärfer werden ... Am ehesten werden sich dann die starken sozialen Gruppen mit ihren Forderungen durchsetzen können, während die besonders hilfsbedürftigen, schwach vertretenen Gruppen sich nicht oder nur mit Mühe behaupten können. Dies wäre die entscheidende Probe auf den Sozialstaat und sein wirklicher Ernstfall . . .
Normen sind immer erst dann interessant, wenn es Interessen gibt, sie zu verletzen. Sonst ist es kein Problem, das Recht einzuhalten. Das gilt auch für die Verfassung.
Die „FAZ" - das soll mein letztes sein - vom 9. September hat geschrieben, die Gewerkschaften machten manchen Fehler, „ein Verfassungsrisiko sind sie nicht" . Diese Würdigung von konservativer Seite ist vielleicht etwas fragwürdig. Aber der Aussage, daß die Gewerkschaften kein Verfassungsrisiko sind, kann man mit Sicherheit zustimmen.
Zu einem wirklichen Verfassungsrisiko scheint sich mir die F.D.P. zu entwickeln. Ihr Vorsitzender, Herr Gerhardt, hat heute vormittag erklärt, es könne nicht darum gehen, Marktwirtschaft und Sozialpolitik zu addieren. Die Marktwirtschaft selbst sei völlig hinreichend. Diese Feststellung steht in meinen Augen in eindeutigem Widerspruch zum Grundgesetz.
Der verfassungspolitische Kompromiß von 1949 wird nicht von den Gewerkschaften, sondern von der F.D.P. aufgekündigt. Das müßte den Bundesjustizminister, der dankenswerterweise noch anwesend ist, beunruhigen.