Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine etwas persönlichere Vorbemerkung. Wir sind noch in der Generaldebatte, stelle ich fest. Vielleicht ist es meine Überempfindlichkeit, wenn ich dann vermerke, daß in dieser Generaldebatte eines der existentiellen Themen der deutschen Politik eine beschämend geringe Rolle gespielt hat, nämlich die Probleme der sozialen, der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, des wirtschaftlichen Aufbaus im Osten Deutschlands.
Weder bei Herrn Schäuble noch in der Rede des Bundeskanzlers hat das eine sonderliche Rolle gespielt. Ich bedaure das. Wenn Sie an Herrn Scharping und Herrn Lafontaine erinnern, dann kann ich nur sagen: Die wußten, daß ich hier in der Generaldebatte reden möchte.
Auch das sei noch gesagt: Schauen Sie sich die Logik der Tagesordnung dieser Haushaltsdebatte an! Nirgendwo hat dieses Thema, von dem ich sage - ich glaube, Sie stimmen mir zu -, es sei ein existentielles Thema unserer Politik, einen wirklichen Platz, bestenfalls die Chance, in Nebensätzen vorzukommen. Ich finde das falsch.
Nun stehe ich hier plötzlich zwischen einer Debatte über gewiß wichtige Fragen der Verteidigungs- und Außenpolitik einerseits und der Entwicklungspolitik andererseits. Wir haben kurz überlegt, ob ich nicht lieber dem Kollegen Eberhard Brecht das Wort geben sollte. Aber dann dachte ich, es muß in die Generaldebatte. Wir müssen ein paar Sätze darüber austauschen. Deswegen stelle ich mich diesem mißlichen Platz.
- Das ist kein Zeichen für beginnende Normalität. Normalität wäre, wenn wir Freundliches, Friedliches, Großartiges aus Ostdeutschland berichten könnten. Gerade darüber will ich reden.
Ich will noch eine Bemerkung machen. Der geschätzte Kollege Geißler hat vorhin wörtlich gesagt - das hat mit unserem, mit meinem Thema zu tun -: Es war der Anfang der friedlichen Revolution in der DDR, daß die CDU nicht den SPD-Weg der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft gegangen ist.
Ich halte das für eine sehr befremdliche Anmaßung.
Sie sollten sich aus Gründen parteipolitischer Polemik diesen entscheidenden Vorgang, der Ursache unseres ostdeutschen Selbstbewußtseins ist - in 40 Jahren DDR gab es nicht ganz viele Anlässe, öffentliches Selbstbewußtsein zu erwerben - nicht als Leistung der eigenen, in diesem Fall westdeutschen Partei zurechnen.
Das nimmt uns etwas weg, was uns gehört. Ich hoffe, Sie werden das respektieren.
Natürlich - um in der Sache ein Wort zu sagen - weiß ich, daß es einen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit auszureisen und der, im Lande zu sagen: „Wir bleiben hier" und „Es geht nicht so weiter", gegeben hat.
Das weiß ich doch. Aber Sie wissen auch - ich habe mich da wirklich sachkundig gemacht; ich gehörte da ja noch nicht dazu -: Es war nie Linie der SPD, diese Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Es gab Debatten in dieser Partei darüber, gewiß.
Eine zweite Bemerkung, wenn Sie mir das erlauben. Wie lange noch wollen wir zwischen demokratischen Parteien dieses Spiel betreiben? Was auch immer wir Sozialdemokraten sagen und wenn wir die heiligsten Eide schwören, Sie werden mit der PDS kommen. Wie lange soll das noch gehen?
- Ein Satz zur Sache. Ich will auch noch einen zweiten Satz sagen.
Das müssen Sie doch wissen: Das provoziert unsere Abwehr, die dann genauso heißen muß, daß es zutiefst verlogen und heuchlerisch ist, wenn uns Vertreter einer Partei Vorhaltungen machen wollen, die wirklich Blockparteien aufgenommen haben. Ich erlaube mir dazu eine persönliche Bemerkung, nur um es Ihnen etwas schwerer zu machen.
Mein Vater war Mitglied der CDU im Osten Deutschlands. Ich werde ihn auch im nachhinein nicht dafür kritisieren. Aber ich könnte Ihnen die Gründe darlegen, warum ich auf keinen Fall in diese Ost-CDU eintreten wollte. Die habe ich noch im Gedächtnis, wenn mir vorgehalten wird, es sei etwas absolut anderes, ob man in der SED oder in der CDU gewesen sei. Die Unterschiede sind wahrnehmbar; aber an einem Punkt ist der Unterschied nicht sehr gering. Er heißt für mich: Wie lange wollen wir in Deutschland dieses unerträgliche und unanständige Spiel treiben, Leute auf ihre Vergangenheit zu fixieren? Ich halte das politisch und moralisch schlicht für unanständig. - Das vorweg.
Nun ein paar wenige Bemerkungen zum Thema. Wenn man diesen Haushaltsentwurf der Bundesregierung liest, dann sieht man, daß die Bundesregie-
Wolfgang Thierse
rung stillschweigend das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland beerdigt hat. Sie müssen doch wissen, daß die Wirkungen Ihres Sparpakets im Osten noch viel drastischer sind als im Westen angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, in denen wir dort stecken.
Der Abstand zwischen Ost und West - die Zahlen, die immerfort veröffentlicht werden, sind doch eindeutig - schrumpft nicht mehr. Er stagniert allenfalls. Seit der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs sinken die Ausgaben des Bundes für Ostdeutschland. Die Kürzungen der Ausgaben im vorliegenden Haushalt betragen 9 Milliarden DM. Die Zahl stammt von Herrn Ludewig. Er muß es wissen; er ist dafür zuständig.
Ich kann es noch im einzelnen sagen: 1,7 Milliarden DM weniger für ABM im Osten Deutschlands, 400 Millionen DM weniger für die Gemeinschaftsaufgabe Ost, 123 Millionen DM weniger für Eigenkapitalhilfe, 40 Millionen DM weniger für Forschungsförderung usw. - und das angesichts einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit, die überall gleich schlimm ist, im Osten Deutschlands geradezu katastrophal ist. Aber Sie gehen mit Ihren ABM-Plänen darüber hinweg. Sie sparen auf Kosten der Menschen im Osten.
Sie sparen auf Kosten der Arbeitslosen, der Frauen, der Wohngeldempfänger. Die Novellierung, die Veränderung des Wohngelds Ost ist nur noch der letzte Punkt. Sie sparen im Forschungsetat zu Lasten der Zukunft und der Wettbewerbsfähigkeit von morgen.
Die Bundesregierung handelt, was die ostdeutsche Wirtschaft und den ostdeutschen Arbeitsmarkt betrifft, wider besseres Wissen. Sie wissen, was ein Einbruch bei der ABM-Förderung in dem Maße, wie Sie ihn vorbereiten, bedeutet. Das haben Ihnen Paul Krüger und andere ostdeutsche Landsleute der Regierungsfraktionen hinter verschlossenen Türen, aber auch öffentlich mitgeteilt.
Nachdem der stellvertretende Parteivorsitzende und ranghöchste CDU-Ostdeutsche, Herr Bergner, beschwichtigt hat: „Ich habe mich noch nie mit jemanden aus der Bundesregierung gestritten", brauchten Sie die Kritik aus Ostdeutschland von der ostdeutschen CDU wohl nicht mehr ernst zu nehmen. Vielleicht hätten Sie wenigstens auf Rüdiger Pohl hören sollen. Der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle hat am 17. Juli wissen lassen, daß der ostdeutsche Arbeitsmarkt mit Sicherheit nicht reif für den massiven Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sei.
Das Schicksal derjenigen, die auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angewiesen sind, interessiert so wenig; so wenig, daß die Herren Weng und Roth bereits jetzt die nächsten Kürzungen genau in diesem Bereich einleiten. „An der Senkung der Ausgaben für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen führt kein Weg vorbei" sagen die haushaltspolitischen Sprecher von Union und F.D.P. Sie kündigen schon jetzt den nächsten Schritt an und demontieren schon jetzt, bevor
die ostdeutschen CDU- und F.D.P.-Kollegen überhaupt ein wenig Erfolg haben, deren Bemühungen.
Wir brauchen jetzt eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitslosen sind weder Schuldige noch Verursacher der Massenarbeitslosigkeit. Sie sind Opfer; das wissen Sie. Deswegen brauchen wir auch so etwas wie einen Lastenausgleich zugunsten Ostdeutschlands.
Ich will Ihnen noch sagen - damit hat meine Intervention ihr Ende -: Wir werden Sie daran messen - das ist unser Prüfstein -, inwiefern es Ihnen gelingt, die Kürzung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Ostdeutschland zurückzunehmen.
Nicht das ständige Gerede über die PDS ist der angemessene Umgang mit Ostdeutschland.
Ernstzunehmen, was Sie irgendwann einmal angekündigt haben, ist das beste Mittel, diese PDS so klein zu kriegen, wie sie es nach ihrer historischen Leistung verdient hat.