Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Oskar Lafontaine hat in seiner Rede Solidarnosc angesprochen und die Aussage des Bundeskanzlers in Zweifel gezogen, daß unsere Politik der Allianz die Wiedervereinigung verursacht hat. Herr Lafontaine, Sie haben den alten Streit wieder neu belebt, der uns, auch die Grünen, in den 80er Jahren beschäftigt hat, ob der Friede immer der oberste Grundwert sein muß. Wir waren immer der Auffassung - Herr Thierse, darüber haben auch wir uns schon unterhalten -, der Friede ist nicht der oberste Grundwert; denn wenn dies wahr wäre, hätten die Nazis, ohne Widerstand zu finden, ihre Terrorherrschaft auf der ganzen Welt ausbreiten können. Friede ist immer nur dann gewährleistet, wenn die wirklichen Grundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, realisiert sind.
In der Auseinandersetzung in den 80er Jahren waren die Grünen gemeinsam mit den Sozialdemokraten einem Irrtum erlegen. Noch im Jahr 1970, als Solidarnosc den Aufstand probte, haben mit Rückendeckung der sowjetischen Armee die kommunistischen Milizen Arbeiter zusammengeschossen. Damals wurde nicht mit Platzpatronen geschossen, sondern da floß Blut. Die Grünen und die Sozialdemokraten haben nicht verstanden, daß die sowjetische Armee in Warschau und in Ost-Berlin bis zum Jahr 1989 stand, damit es in Osteuropa keine freien Gewerkschaften gab, während die Amerikaner mit ihren Raketen in Westeuropa und in West-Berlin standen, damit freie Gewerkschaften möglich waren.
Das haben Sie bis heute offenbar immer noch nicht abgearbeitet.
Sie haben die Sache mit den Blockflöten angesprochen.
Ich finde die Aussage, die Sie getroffen haben,
ungeheuerlich, denn sie konnte sich nur auf Mitglieder des Deutschen Bundestages beziehen. Ich fordere Sie einmal auf: Nennen Sie die Leute, die Sie meinen! Sie mögen meinen, was Sie wollen: Von dem, was Sie im Verhältnis zur SED, und zwar zu Zeiten, als die Mauer noch stand, gemacht haben, waren die Mitglieder der CDU, die sich in der DDR in einer schwierigen Situation befanden, und wir erst
Dr. Heiner Geißler
recht weit entfernt, nämlich von der Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft.
Wenn wir diesem verhängnisvollen Weg gefolgt wären, dann hätten die Deutschen, die in der deutschen Botschaft in Prag und in der deutschen Botschaft in Budapest waren, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht gehabt und deswegen völkerrechtlich keine Zuflucht finden können. Sie alle hätten, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, ihre Freiheit nicht bekommen. Es war der Anfang der friedlichen Revolution in der DDR, daß wir Ihren Weg der Zusammenarbeit und der Anerkennung der SED-Richtlinien nicht gegangen sind.
Sie müssen auch ideologisch die „Versöhnung der gespaltenen Arbeiterklasse" und vieles andere mehr erst einmal aufarbeiten.
Ich will das jetzt nicht weiter vertiefen. Aber es gehört zur Korrektur dessen, was zu unserer Friedenspolitik in den 80er Jahren gesagt worden ist.
David Herman, der Vorstandsvorsitzende von Opel, hat zur Begründung von 5 Milliarden DM Investitionen in Deutschland einmal gesagt, was die positiven Standortfaktoren in Deutschland aus seiner Sicht seien. Dabei hat er in erster Linie die stabilen politischen Verhältnisse genannt. Ich glaube nicht, daß er damit - ich sage das, weil Sie das hier nämlich angeführt haben - die politischen Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen gemeint hat. Ich nehme an, er meinte die politischen Verhältnisse bei uns in Bonn. Aber ich konzediere Ihnen: Nordrhein-Westfalen ist nicht so schlimm wie Mexiko; das ist wahr.
Ich habe mir, Herr Scharping, aus der neuesten „Süddeutschen Zeitung" einen Ausschnitt geben lassen. Darin steht: „Aufruhr im Land der Azteken". Ich finde es schon erstaunlich, daß wir uns heute vormittag notwendigerweise unter Beteiligung des Bundeskanzlers und des Oppositionsführers, ungefähr 15 Minuten mit der Frage beschäftigt haben, ob der Lebensstandard eines verheirateten Arbeiters mit zwei Kindern in Mexiko höher ist als bei uns
bzw. - um das einmal etwas zu präzisieren - ob die Abzüge höher oder niedriger sind.
Damit komme ich zu den Irrtümern, die hier ausgebreitet worden sind. Selbst wenn verheiratete Arbeiter mit zwei Kindern in Mexiko 24 000 DM und nicht 9 000 DM verdient hätten,
bei uns hätten sie anders als in Mexiko nicht einen Pfennig Steuern gezahlt; denn so hoch ist der Grundfreibetrag.
Das müssen Sie in Ihre Berechnung doch einmal mit einbeziehen.
Ich kann das Ganze nicht weiter beurteilen, aber Herrn Scharping ist es offenbar gelungen, Oskar Lafontaine bei seinem Besuch auf der Bundesratsbank auf diese Argumentationsschiene zu setzen.
Mir tun eigentlich die Grünen leid. Herr Fischer ist gerade kurz raus; er wird wieder hereinkommen. Ich möchte einmal die Grünen fragen: Wollen Sie - ich sehe Herrn Schulz und andere - in der Tat - das hat sich in den letzten Wochen etwas verdichtet - mit diesen Leuten von der SPD das Zukunftsmodell gestalten und realisieren, das Herr Fischer hier gerade vorgestellt hat?
Herr Lafontaine, ich sage das aus folgendem Grund: Diese parlamentarische Diskussion macht wenig Freude.
- Entschuldigung, Wolfgang Schäuble hat die Sache mit der Vermögensteuer nun wirklich intensiv erklärt.
- Ja, das hat er nun wirklich getan.
Sie haben ihm mit der betrieblichen und mit der privaten Vermögensteuer sogar teilweise recht gegeben. Aber man kann hier offenbar reden, was man mag,
man kann die Wahrheit sagen, man kann die Argumente ausbreiten, es ist ja gerade so, als ob man zu einer Wand redet. Dann kommt eine Stunde, zwei Stunden später ein leibhaftiger Ministerpräsident und redet denselben Unsinn wie vorher.
Dann mahnen Sie die Gesundheitspolitik an. Sie haben die Gesundheitsstrukturreform abgelehnt.