Rede von
Oskar
Lafontaine
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Herr Kollege Schäuble, Sie wollen - nachdem Sie sich durch Ihr Gelächter jetzt etwas in die Nesseln gesetzt haben - das einfach nicht begreifen. Alle Staaten, ob sie arm oder reich sind, müssen Familienpolitik machen, und alle Staaten, ob sie arm oder reich sind, müssen sich entscheiden, in welchem Umfang sie die Familien fördern bzw. die Familieneinkommen entlasten. Wenn Sie nicht begreifen wollen, daß das ärmere Mexiko die Familien steuerlich besserstellt als das reiche Deutschland, ist das Ihr Problem. Aber ich wollte das hier noch einmal geklärt haben.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen raten, zurückhaltend zu sein, wenn Sie sich über andere lustig machen, was das Errechnen von Tatbeständen angeht. Wir haben ja hier ein Problem, meine Damen und Herren, und das ist oft angesprochen worden. Sie haben gesagt, die Welt habe sich total verändert. Nein, wir haben hier Massenarbeitslosigkeit und eine Staatsverschuldung, die sich keiner vorstellen konnte. Sie haben an diesem Pult einmal gesagt, Sie hätten sich verschätzt. - Nur, ich sage Ihnen, da wir diese Debatte seit Jahren führen: Sie haben sich um einige tausend Milliarden verschätzt, Herr Bundeskanzler.
Deshalb ist es nicht angebracht, hier überheblich aufzutreten und in dieser Art und Weise Einwände von seiten des Fraktionsvorsitzenden der SPD zurückzuweisen.
Ich komme zum nächsten Punkt, der zu erledigen wäre. Das ist die Steuerreform. Wir sind der Auffassung, daß das deutsche Steuerrecht so nicht mehr akzeptabel ist. Wir sind aber nicht erst seit gestern oder vorgestern dieser Auffassung, sondern wir haben in den Runden des letzten Jahres vorgeschlagen, auf der Grundlage der Bareis-Kommission zu einem gerechteren Tarif zu kommen. Bei Ihnen bestand keine Bereitschaft, darauf einzugehen.
Wir hatten gerade 4 Milliarden DM an Steuersubventionen gestrichen. Kaum war diese Vereinbarung zwischen Bundesrat und Bundestag abgeschlossen, wurde sie bereits wieder in Frage gestellt, zugegebenermaßen von allen Seiten in unserem Lande. - Es geht ja hier um eine faire und redliche Debatte.
Dies zeigt, daß es sehr schwierig ist, Steuersubventionen zu streichen und zu kürzen, weil unverzüglich viele Interessenverbände kommen und sich gegen diese Projekte wenden.
Weil wir dies wissen, haben wir maßvolle Rahmendaten vorgeschlagen, um die Steuerreform, den gerechten Steuertarif jetzt endlich dingfest zu machen. Wenn Sie sagen, Sie wollten das erst für das Jahr 1999, dann sagen wir, daß wir kein Vertrauen haben, daß ein solches Verfahren Bestand haben wird. Wenn Sie das, was wir jetzt an Erleichterungen für die Familien und für die Arbeitnehmer beschlossen haben, wieder zurücknehmen wollen, wer soll Ihnen dann glauben, daß Sie das, was Sie vor der Wahl an Erleichterungen beschließen, nicht sofort nach einer eventuell gewonnenen Wahl wieder kassieren? Sie haben an dieser Stelle Ihren Kredit verspielt.
Ich wiederhole: An dieser Stelle ist die Position der F.D.P. richtig. Die Steuerreform darf nicht auf das Jahr 1999 oder auf das Jahr 2000 verschoben wer-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
den. Sie sollte in Kraft treten, auch wenn sie nicht den gewaltigen Umfang vieler Show-Modelle hat. Sie sollte im Jahr 1998 in Kraft treten und einen weiteren zusätzlichen Anreiz für Wachstum und Beschäftigung geben.
So wie es für Wachstum und Beschäftigung notwendig ist, jetzt das Kindergeld und den Grundfreibetrag zu erhöhen, so wäre es auch notwendig, im Jahre 1998 eine ordentliche Steuerreform zu machen, in der der Tarif leistungsgerechter wird, weil es nicht mehr hinnehmbar ist, daß Verkäuferinnen und Facharbeiter ihre Steuern abgezogen bekommen, während andere durch erhebliche steuermindernde Tatbestände ihre Steuerlast auf Null senken können.
Das schafft Staatsverdrossenheit. Sie tragen seit über zehn Jahren die Verantwortung für diese Entwicklung.
Der dritte Punkt ist die Entlastung der Sozialversicherungskassen. Sie haben gesagt, Arbeit solle sich wieder lohnen, Herr Bundeskanzler. Aber gerade Sie haben über Jahre das Gegenteil von dem veranstaltet. Es war zwar bequem und opportunistisch, die Kosten der Einheit den Sozialversicherungskassen aufzubürden, weil man dann als jemand dastand, der nicht in dem Maße Steuern erhöhen mußte, wie das eigentlich notwendig gewesen wäre und wie schon einige Redner ausgeführt haben. Wer aber die Sozialversicherungskassen in diesem Maße mißbraucht, wie Sie es getan haben, erhöht die Lohnnebenkosten in nicht hinnehmbarer Weise und ist damit schuld, wenn Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Begreifen Sie diesen Zusammenhang doch endlich einmal!
Wir hätten gerne etwas - es ist ja schön, sich in seiner Rede in der Weltpolitik aufzuhalten; das ist auch zu gönnen - über die Bemerkungen der Rentenversicherer gehört, wonach die Beiträge auf über 20 Prozent steigen sollen. Wir hätten gern etwas über die Klagen der Krankenversicherer gehört. Aber nein, Sie flüchten sich in das „Wolkenkuckucksheim", verlieren sich in großartigen Betrachtungen darüber, daß es uns allen relativ gut gehe - so der Kollege Schäuble - und daß sich alle im Wohlstand befänden. Das mag die eine Seite der Medaille sein, aber Sie sollten das Wort „alle" hinterfragen. Wir richten uns an die Millionen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und an die Millionen von Menschen, denen es schlechtgeht und denen solche Worte merkwürdig vorkommen werden, wenn sie der heutigen Debatte folgen und so etwas hören.
Arbeit soll sich wieder lohnen? Seit Jahren - mindestens seit 1990 - stagnieren die Reallöhne. In der gleichen Zeit hat aber derjenige, der ein Geldvermögen hat, eine Rendite von etwa 7 Prozent erzielt,
wenn er ordentlich anlegt und gut beraten wird. Dies ist eine totale Veränderung im Vergleich zu der Situation, die wir in den Wachstumsjahren dieser Republik hatten. Damals stiegen die Reallöhne stärker als die Realverzinsung des Geldvermögens. Anders ausgedrückt: In der heutigen Situation ist es interessanter, Geldvermögen zu erben oder wie auch immer zu besitzen, als eine ordentliche Ausbildung zu haben und seine Arbeitskraft einzusetzen.
Deshalb ist die Stagnation der Reallöhne seit Jahren eine wirkliche Herausforderung. In keinem Fall kann man darauf weiterhin so reagieren, daß man die Arbeit in diesem Land immer weiter belastet, die Vermögensteuer abschafft, die Zinseinkünfte nicht ordentlich besteuert usw.
Sie sind schuld daran, daß sich Arbeit in diesem Lande immer weniger lohnt und Arbeitsplätze wegrationalisiert werden.
Im übrigen: Ich sehe gerade den Kollegen Rexrodt. Ihnen ist sicherlich ein kleiner Fehler unterlaufen, Herr Kollege Gerhardt, den ich nicht zu hoch hängen will. Sie haben sich zum Außenminister und zu seiner Aufgabe geäußert. Ich möchte als SPD-Vorsitzender sagen, daß ich mich freue, daß der Kollege Rexrodt wieder gesund ist. Das möchte ich über Parteigrenzen hinweg zum Ausdruck bringen.
Ich möchte das zusätzlich - das kann ich Ihnen nicht ersparen - mit der Bemerkung verbinden, daß ich die Debatte der CSU über die Frage der Neubesetzung des Wirtschaftsministeriums zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nach dem, was der Kollege Rexrodt durchgemacht hat, als äußerst geschmacklos empfinde.
Wenn Sie sich also, verehrte Damen und Herren von der Koalition, über die Koalition in Düsseldorf Sorgen machen, dann rate ich Ihnen: Kümmern Sie sich einmal um Ihre eigene Koalition. Sorgen Sie für ein anständiges Klima. Sorgen Sie insbesondere dafür, daß Sie sich in der Steuerpolitik einig werden. Dann wären wir ein gutes Stück weiter in diesem Lande.
Das gilt im übrigen auch für die ökologische Steuerreform. Das ist das vierte Reformprojekt, das Sie blockieren. Diese ökologische Steuer- und Abgabenreform hätte eine Mehrheit, wenn in diesem Hause offen darüber abgestimmt würde. Man könnte sie mit der Reform der Sozialversicherungssysteme verbinden, die ich gerade angesprochen habe. Man könnte sie aber auch mit der allgemeinen Steuerpolitik verbinden. Die Modelle liegen quer durch alle Fraktionen vor. Wir bieten immer wieder an, zu einem solchen Reformschritt zu kommen, den wir für not-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
wendig erachten, um Wachstum und Beschäftigung auch in Zukunft zu sichern.
Ich wiederhole es noch einmal: In der heutigen Situation die Arbeit in diesem Ausmaße mit Steuern und Abgaben zu belasten und auf der anderen Seite Vermögens- und Zinseinkünfte praktisch freizustellen und den Umweltverbrauch gering zu besteuern zeigt, wie veraltet und verrottet Ihre Politik im Grunde genommen ist.
In der gesamten Europäischen Gemeinschaft wird über die Fehler dieser Politik diskutiert; ich komme darauf nachher noch zu sprechen. In der gesamten Europäischen Gemeinschaft, im Weißbuch der Kommission, auch bei den Entscheidungen etwa der Nachbarn in Holland, in Dänemark oder anderswo gibt es ökologische Reformschritte und gibt es entsprechende Schritte, auch die Sozialversicherungssysteme zu entlasten. Dies ist auch bei den jüngsten Entscheidungen in Frankreich der Fall.
Wo bleiben denn Ihre Schritte? Statt dessen diskutiert Deutschland über eine Erhöhung der Rentenbeiträge, über eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge.
Das ist die Realität, die sich nicht irgendwie im Wolkenkuckucksheim auflösen läßt.
Der fünfte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Reform des öffentlichen Dienstes; Joschka Fischer hat es bereits angesprochen, Rudolf Scharping ebenfalls. Warum kommen wir hier nicht weiter? Wenn Sie zum Beispiel an den Bundesrat appellieren, dann will ich noch einmal sagen, Herr Bundeskanzler, daß wir bei dem letzten Kanzlergespräch vereinbart hatten, hier mehr Druck zu machen. Die Reform des öffentlichen Dienstes ist dringend notwendig, weil die Länder 40 Prozent und die Gemeinden 30 Prozent Personalausgaben haben. Daß der Bund nur 10 Prozent Personalausgaben hat, ist kein Grund, die Reform des öffentlichen Dienstes immer weiter hinauszuschieben.
Wer wirklich strukturell eingreifen will, meine Damen und Herren, sollte sich nicht darauf versteifen, das Kindergeld nicht zu erhöhen, die versprochenen Steuerermäßigungen nicht durchzuführen, Arbeitslosenunterstützungsmaßnahmen maßlos zusammenzustreichen. Er sollte endlich eine Strukturreform des öffentlichen Dienstes einleiten, um die öffentlichen Haushalte langfristig wirksam zu entlasten. Darum muß es jetzt gehen.
Das ist eine viel, viel bessere Politik als der kurzfristige Aktionismus, den Sie hier an den Tag legen, der mit Sicherheit nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt. Die Elemente hat die Kollegin Matthäus-Maier gestern bereits vorgetragen; ich will sie nicht alle wiederholen. Aber eines ist klar: Wenn es nicht dazu kommt, die Pensionsregelungen etwa im Beamtenrecht dem allgemeinen Rentenrecht anzupassen, dann werden es die öffentlichen Haushalte nicht verkraften. Wenn es nicht dazu kommt, mehr Teilzeitarbeit auch im Beamtenbereich vorzusehen, dann verspielen wir eine wirkliche Chance, moderne Beschäftigungsprogramme auch im öffentlichen Dienst zu machen, insbesondere auch im Hinblick auf die Arbeitsteilung und die Gleichstellung der Frauen im Beruf und Familie. Denn eines möchte ich klar sagen: nicht-sozialversicherungspflichtige 590-DM-Jobs für die Frauen und Vollerwerbsjobs für die Männer, so haben wir uns die Gesellschaft der Zukunft in Deutschland nicht vorgestellt.
Der sechste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist ein Vorschlag. Wir müssen jetzt, so interessant es ist, über die Weltpolitik zu reden, über die Gemeindefinanzreform reden. Ich biete Ihnen, Herr Bundeskanzler, an, zwischen Regierung, Ländern und Gemeinden eine Kommission unter Hinzuziehung von Sachverständigen, wen auch immer Sie hinzuziehen möchten, einzusetzen, die unverzüglich Vorschläge erarbeitet. Ich werbe dafür schon seit etwa zwei Jahren. Wir sind bisher kein einziges Stück vorangekommen.
Ich sage im Hinblick auf die Zinssteuerquote des Bundes, die mir bekannt ist, da ich eine solche geerbt habe: Es genügt nicht, zu sagen, der Bund solle das alles bezahlen. Das wäre nicht sachlich und nicht redlich. Daher brauchen wir eine Kommission - das ist jetzt notwendig -, um die Gemeindefinanzreform auf den Weg zu bringen. Ich biete das hier ausdrücklich an und wäre dankbar, wenn Sie diese Anregung aufgreifen würden; denn in den Gemeindehaushalten sieht es - das sage ich Ihnen als Ministerpräsident eines Landes und als ehemaliger Bürgermeister einer Stadt - wirklich verheerend aus.
So falsch es eben war, auf der einen Seite die Kosten der Einheit den Sozialversicherungskassen zuzuschieben, so falsch ist es ebenfalls, strukturell die Kosten der Arbeitslosigkeit und der Zuwanderung über Gebühr den Gemeindekassen aufzubürden, eine strukturelle Fehlentwicklung in diesem Lande, für die Sie die Verantwortung tragen!
Ich sage an dieser Stelle, es ist mir bisher kein nachvollziehbarer Vorschlag bekannt, der das Problem sofort löst, aber das ist kein Grund, es auf die lange Bank zu schieben. Ich biete die Einsetzung dieser Kommission ausdrücklich an. Diese Gemeindefinanzreform ist eine wirklich sofort in Angriff zu nehmende Reform, und ich hoffe, daß Sie dieses Angebot auf greif en.
Ich komme dann zur Neuordnung der Rentenversicherung. Die Ausführungen, die Sie hier vorgetragen haben, sind nicht zu kritisieren, sie sind richtig. Es
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
besteht hier Reformbedarf. Nur müssen wir redlicherweise immer wieder zugeben, daß es auch Mißbrauch der Rentenkassen durch den Staat gab. Es muß nun einmal ein Ordnungsprinzip durchgehalten werden, das da heißt, daß Leistungsansprüchen auch frühere Beitragszahlungen gegenübergestanden haben müssen. Wer die Rentenkassen ständig mit Leistungsansprüchen konfrontiert, die eben nicht durch ehemalige Beitragszahlungen gerechtfertigt sind, der darf sich dann nicht wundern, daß die Rentenkassen in immer größere Schwierigkeiten kommen.
Ich meine, daß der Weg der Teilzeit - ich habe diesen Begriff schon einmal angesprochen -, der Weg der Altersteilzeit richtig ist. Die Tatsache, daß davon bisher nicht in ausreichendem Maße Gebrauch gemacht worden ist, sollte nicht Veranlassung sein, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen. Einige der Redner haben ja von den Produktivitätsschüben gesprochen, die wir auch in Zukunft haben werden. Es muß uns die Frage beschäftigen - der Kollege Fischer hat dies angesprochen -, wie wir dann dem Anspruch genügen werden, möglichst vielen Menschen eine Chance zu geben, sich am Erwerbsleben zu beteiligen.
Ich sage aber genauso: Lassen Sie es sein, weiter über eine allgemeine Besteuerung der Renten zu philosophieren; denn das Ganze ist von der Sache her nicht gerechtfertigt,
ist aber auch nicht gerechtfertigt im Hinblick auf die Rentnerinnen und Rentner, die uns heute zuhören. Die haben ja als Rentnerinnen schon zu verkraften, daß ihre Lebensplanungen über den Haufen geworfen werden sollen. Befrachten Sie diese Problematik nicht noch mit einer nicht zu rechtfertigenden Diskussion über eine allgemeine Besteuerung der Renten! Das ist von der Sache her nicht gerechtfertigt.
Die achte Reform, die angegangen werden muß - ich habe sie teilweise bei der Rentenversicherung und dem Beamtenrecht schon angesprochen -, ist eine nach wie vor anzustrebende bessere Verteilung der Arbeit in unserem Lande.
Die Überstunden haben Sie selbst angesprochen. Nur, mit dem Ansprechen ist natürlich nichts erledigt. Die Tatsache, daß wir nach wie vor viele, viele Menschen haben, die gern einen Zugang zur Erwerbsarbeit hätten und diesen Zugang nicht finden, kann uns doch nicht ruhen lassen. Die Tatsache, daß es eine ganze Zahl junger Menschen gibt, die immer noch nicht wissen, ob sie einen Ausbildungsplatz finden, kann uns auch nicht ruhen lassen. An dieser Stelle schließt sich dann der Kreis. Wenn Sie nämlich nicht die Teilzeit weiter verfolgen, sondern hingehen und pauschal das Renteneintrittsalter der Frauen anheben, dann ist das nach unserer Überzeugung auch
unter diesem Gesichtspunkt der falsche Weg. Sie sollten ihn noch einmal überdenken. Es wäre nicht gut, wenn die Jungen arbeitslos sind und die Großeltern arbeiten können.
Wir brauchen eine flexible Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Aber wenn wir dies fordern und zu Reformen bereit sind, müssen wir auch im Auge haben, daß die soziale Sicherung dieser Menschen nach wie vor gewährleistet ist. Wir haben oft genug darauf hingewiesen, daß auf der einen Seite viele Argumente für die Flexibilität sprechen, daß es aber auf der anderen Seite genauso unsere Verpflichtung ist, nicht zuzulassen, daß der Flexiblität die soziale Sicherung im Alter geopfert wird. Deshalb brauchen wir eine Regelung auch für befristete Arbeitsverhältnisse, für Arbeitsverhältnisse wie etwa die 590-MarkJobs oder andere. Die Alterssicherung muß, in welcher Form auch immer, das Arbeitsleben der Menschen begleiten.
Der neunte Punkt, der neunte Reformstau, wo wir alle in der Verantwortung stehen - da mache ich es mir noch nicht einmal so einfach, daß ich auf Ihre 14jährige Regierungszeit verweise -, ist, daß es immer noch nicht gelungen ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerecht am Produktivvermögen zu beteiligen. Dies wird jetzt schon seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Aber das Problem hat sich von einer anderen Seite neu gestellt. Ich wiederhole: In den Wachstumsphasen der Republik sind die Reallöhne schneller gewachsen als das reale Zinseinkommen. Heute gibt es ein Zinseinkommen ungefähr in der Größenordnung von 7 Prozent; die Reallöhne stagnieren seit Jahren. Das ist eine totale Veränderung; verändert hat sich auch die konkrete Situation der Arbeitnehmerschaft im Verhältnis zu denen, die Vermögen oder Geld besitzen. In unserer Erbengesellschaft wird ja diese Ungleichheit immer noch größer. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, erste Schritte zu tun, um die Arbeitnehmerschaft am Produktivvermögen zu beteiligen. Das schafft Motivation in den Betrieben und mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Lande, die für uns nach wie vor eine wichtige Grundlage dieser Republik darstellt.
Hier haben Rudolf Scharping und Joschka Fischer recht, wenn sie sagen: Damit hätte spätestens nach der Einheit begonnen werden müssen, als es darum ging, in den neuen Ländern Produktivvermögen aufzubauen. Es ist doch gar nicht mehr nachvollziehbar, warum man angesichts der Lohndrift in den neuen Ländern diesen Schritt nicht zu Beginn getan und die Arbeitnehmerschaft an dem staatlich finanzierten Aufbau des Produktivvermögens beteiligt hat. Diese
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Reform hätte wirklich einmal einen neuen Ansatz für unsere Republik bedeutet.
Ich komme zu einem zehnten Punkt. Ihre diesbezüglichen Bemerkungen, Herr Kollege Schäuble, haben mich wirklich etwas erschüttert,
als Sie sich zu weltwirtschaftlichen Zusammenhängen geäußert haben. Es war wirklich bemerkenswert. „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause", der Bundeskanzler sagt dies; der Finanzminister sagt dies. Nur, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU und von Teilen der F.D.P., Sie müssen sich schon einmal damit vertraut machen, was in Europa und im Rahmen der G 7 diskutiert wird. Ich trage jetzt etwas vor, was mich besorgt macht, nämlich die Diskussion in Frankreich, über die man gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" etwas lesen konnte. Dort äußert sich der frühere Finanzminister Alain Madelin. Er sagt:
Wir riskieren, aus dem künftigen Euro-Raum eine Zone der ökonomischen Deflation-Depression zu machen, die zu einer sozialen Explosion führen wird.
Es handelt sich hier nicht um einen Gewerkschafter, einen Sozialdemokraten oder Sozialisten, dessen Äußerungen Sie mit einer Handbewegung abtun könnten. Es handelt sich um einen Liberalen, der als Wirtschafts- und Finanzminister durchaus, als er im Amte war, auch von Ihnen Komplimente bekam und in Frankreich ein entsprechendes Ansehen hat.
Wir saßen ja, verehrter Herr Bundeskanzler, auch öfters bei Edouard Balladur, den Sie vor den Präsidentenwahlen in Frankreich besucht haben.
Edouard Balladur wird wie folgt zitiert:
Die Zeit ist gekommen, in einer offenen Aussprache mit Deutschland über die geeignetsten Wege zu einem starken Wirtschaftswachstum zu gelangen.
Laurent Fabius, ein Premierminister zur Zeit der sozialistischen Mehrheit in Frankreich, fordert eine geldpolitische Lockerung in Frankreich, begleitet von einer offenen Aussprache mit Deutschland. Darüber hinaus gibt es dann einige, die - -
Herr Waigel, Ihr Zwischenruf „Sehr bedeutend" ist jetzt wirklich deplaziert.
- Dann entschuldigen Sie!
Entschuldigen Sie, Herr Kollege Waigel;
ich entschuldige mich in aller Form bei Ihnen. Von der Akustik her war ich der Meinung, Sie hätten dazwischengerufen: Sehr bedeutend!
Wer auch immer diesen Zwischenruf gemacht hat, meine Damen und Herren: Ich habe hier vernommen: „Sehr bedeutend", als ich die Namen der französischen Spitzenpolitiker genannt habe. Es kann sein, daß ich mich hier verhört habe; dann stellen wir das hiermit fest.