Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Programm, das im Mittelpunkt der Debatte des heutigen Tages steht, heißt - so will es die Regierung - „Programm für Wachstum und Beschäftigung". Interessant ist, daß in der Öffentlichkeit dieses Programm nicht so genannt wird, sondern daß die Öffentlichkeit immer nur vom „Sparpaket der Koalition" spricht. Dies ist nicht zufällig so. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, daß viele in der Öffentlichkeit - auch in Ihren eigenen Reihen - nicht glauben, daß das „Programm für Wachstum und Beschäftigung", das Sie so genannt haben, tatsächlich für Wachstum und Beschäftigung sorgen wird.
Wenn einer der wirtschaftspolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen, nämlich Graf Lambsdorff, dieses Programm dadurch qualifiziert, daß er sagt, wir näherten uns nicht den avisierten zwei Millionen Arbeitslosen, sondern eher fünf Millionen, dann ist das ein Beweis dafür, daß selbst große Teile der Koalition nicht an den beschäftigungspolitischen Erfolg dieses Programmes glauben.
Natürlich, Herr Bundeskanzler, ist es in dieser Situation verständlich, wenn Sie sich zur Weltpolitik äußern und wenn Sie auch im Zusammenhang mit den globalen Tendenzen der Wirtschaft davon reden, daß die Welt sich verändert habe. Trotz dieser Betrachtungsweise bleibt es uns aber nicht erspart, zunächst darüber zu reden, daß sich vieles bei uns hier in diesem Lande verändert hat, daß wir einen Rekord haben an Arbeitslosigkeit, an Staatsschulden und an Steuer- und Abgabenlast. Darüber müssen wir reden, auch wenn die Weltpolitik noch so interessant sein mag.
Bevor ich zu den ökonomischen Perspektiven der nächsten Jahre komme, möchte ich einige Berner-kungen machen zu dem, was Sie glaubten polemisch an den Anfang Ihrer Ausführungen stellen zu müssen.
Sie haben sich zunächst - das hat mich bei dem Thema „Wie bekämpfen wir die Arbeitslosigkeit?"
etwas verwundert - wieder einmal geäußert zu einer Gefahr, die da drohe, wenn Rot und Grün in Bonn eine Mehrheit hätten und sich eventuell auch noch auf die PDS stützen könnten. Verehrter Herr Bundeskanzler, ich nehme die Gelegenheit gerne wahr, Ihnen noch einmal hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages zu sagen: Sie haben kein Recht zu einer solchen heuchlerischen, verlogenen Debatte.
Sie sind als Bundeskanzler gewählt von den Abgeordneten der ehemaligen Ost-CDU, die Mauer und Stacheldraht befürwortet hat, und von den Abgeordneten der rein kommunistischen Bauernpartei. Es ist eine Unverfrorenheit, die deutsche Öffentlichkeit immer wieder mit solchen verlogenen Debatten zu konfrontieren.
Dieses Ausmaß an Unehrlichkeit stößt den Menschen in unserem Lande immer mehr auf. So war es auch von Interesse, daß Sie meinten, sich zur Koalition in Nordrhein-Westfalen äußern zu müssen.
Es ist richtig, daß es in dieser Koalition über verschiedene Investitionsprojekte Streit gibt. Wer wollte das leugnen? Aber wenn der Bundeskanzler hier ans Pult tritt, dann wäre es ratsamer, sich mit dem Zustand der eigenen Koalition zu beschäftigen, denn in der gibt es auch Streit und keine Übereinstimmung über den Weg in die nächsten Jahre.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Frage: Wann kommt die Erklärung mit Tschechien, und wann machen wir den notwendigen Schritt der Aussöhnung? Der F.D.P.-Vorsitzende hat sich hier überdeutlich geäußert. Wer zwischen den Zeilen lesen kann oder hören kann, der weiß, daß Ihr Koalitionspartner an dieser Stelle Ihre Politik nicht für akzeptabel hält.
Ich unterstreiche es, wenn Joschka Fischer hier gesagt hat: Wir sind dem Bundespräsidenten zum Dank verpflichtet, daß er die gebotene Zurückhaltung des Staatsoberhauptes an dieser Stelle aufgegeben hat und angemahnt hat, daß Sie den Knoten endlich durchschlagen, Herr Bundeskanzler.
Sie haben in diesem Zusammenhang noch einmal die Diskussion um die polnische Westgrenze bemüht und dabei das Buch von François Mitterrand zitiert. An dieser Stelle, Herr Bundeskanzler, ist er sehr deutlich geworden, anders als Sie hier den Eindruck zu erwecken versucht haben. Aber Sie brauchen gar nicht das Buch von François Mitterrand zu lesen. Es genügt, wenn Sie sich die Memoiren Ihres eigenen Außenministers Hans Dietrich Genscher oder die von Gorbatschow oder Thatcher oder von Baker einmal anschauen, um darauf zu stoßen, daß Ihr Taktieren
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
um die polnische Westgrenze eher abgelehnt und als kontraproduktiv verstanden worden ist.
Das gleiche gilt jetzt auch für die Frage, wann endlich die deutsch-tschechische Erklärung kommt.
An der Stelle war es auch nicht ganz richtig, zur Begründung der Einheit die Pershing II zu erwähnen. Ich will die Debatte um die atomare Aufrüstung hier nicht mehr aufgreifen. Sie haben da eine andere Position, und die respektiere ich. Ich sehe es als eines der historischen Verdienste von Michail Gorbatschow an, daß er diese Spirale von Vor- und Nachrüstung im atomaren Bereich durchbrochen hat und erkannt hat, daß es nicht mehr wichtig ist, ob man 20 000 oder 30 000 atomare Sprengköpfe hat. Aber Sie mögen das anders sehen. Ich wollte es nur noch einmal in Erinnerung gerufen haben.
Aber eines dürfte doch klar sein: Die deutsche Einheit haben wir nicht nur diesem Stationierungsbeschluß zu verdanken, sondern noch mehr der polnischen Solidarnosc, den Bürgerrechtlern von Prag und den Menschen, die in Leipzig auf die Straße gegangen sind. Deshalb brauchen wir jetzt die Versöhnung mit Tschechien, weil ein Bürgerrechtler Präsident dieser Republik ist.
Ein ehemaliger Bürgerrechtler ist Präsident der Republik, weltweit geachtet. Deshalb fordere ich Sie als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf: Machen Sie diesem Spiel ein Ende. Sorgen Sie dafür, daß auch die bayerische CSU einlenkt und daß es endlich zu dieser Erklärung kommt. Es ist schon zuviel verspielt worden. Es ist höchste Zeit, diese Erklärung jetzt abzuschließen.
Sie haben in diesem Zusammenhang auch eine polemische Bemerkung an die Adresse der deutschen Gewerkschaften gemacht, indem Sie meinten, daß Feldgeschrei keine Probleme löse. Ich weiß nicht, ob das der richtige Ton ist, den ein Bundeskanzler ergreifen sollte, wenn Tausende von Arbeitnehmern auf die Straße gehen, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Ich bin auf jeden Fall der Auffassung, daß Selbstgefälligkeit noch viel weniger Probleme löst, sehr verehrter Herr Bundeskanzler.
Damit kommen wir dann zu Ihren ungelösten Hausaufgaben, die ich nur teilweise ansprechen kann; meine Redezeit ist begrenzt.
Sie haben sich zur Steuerreform geäußert und haben versucht, für die Bürgerinnen und Bürger in Aussicht zu stellen, daß es demnächst doch ein verbindliches Gesetz geben wird, in dem verläßliche Steuerermäßigungen - wie gegenfinanziert wird, haben Sie nicht gesagt, ebensowenig etwas zur Mehrwertsteuer - beschlossen werden sollen.
Nur, das Ganze ist einfach nicht mehr akzeptabel, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, auch nicht Ihr Angebot, mit dem Bundesrat zusammenarbeiten zu wollen. Das gilt auch für Herrn Schäuble. Es ist rührend, wenn Sie das hier immer wieder anbieten.
Wir haben zusammen beschlossen, die Familien durch eine Erhöhung des Kindergeldes besserzustellen. Das ist Gesetz. Wir haben beschlossen, die Arbeitnehmer durch die Erhöhung des Grundfreibetrages besserzustellen. Das ist Gesetz. Dieses Gesetz wollen Sie wieder rückgängig machen und reden zum gleichen Zeitpunkt über Steuerermäßigung. Das ist doch wirklich nicht mehr zu akzeptieren. Das ist doch unglaublich.
Ehe Sie also darüber reden, was Sie eventuell vielleicht einmal machen wollten, um Wachstum und Beschäftigung in diesem Land zu unterstützen, sorgen Sie dafür, daß das gemacht wird, was gemeinsam zwischen Bundestag und Bundesrat beschlossen worden ist, worauf sich Arbeitnehmer und Familien eingestellt haben. Unterlassen Sie es, mit irgendwelchen Steuersenkungsversprechungen für die Zukunft von dieser Notwendigkeit abzulenken. Um nichts anderes geht es im Moment.
Den Familien geht es derzeit in unserem Lande auf Grund der extremen Steuer- und Abgabenlast nicht gut. Deshalb hat das Verfassungsgericht eingegriffen. Es hat überhaupt keinen Sinn, immer wieder von Familienpolitik zu reden, wenn das nicht materielle Folgen hat. Deswegen wiederhole ich: Wer die Vermögensteuer abschaffen und das Kindergeld nicht erhöhen will, der gehört abgewählt, dem gehört im Grunde genommen das Vertrauen entzogen.
Es ist überheblich, wie Sie auf die Einwendung des Kollegen Scharping reagiert haben, der schlicht und einfach eine OECD-Statistik zitiert hat. Sie zeigt, daß der Staat Mexiko der Familie eines Arbeitnehmers mit zwei Kindern eben nur 15 Prozent von seinem
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Bruttoeinkommen wegnimmt, während Sie 22 Prozent verlangen.
- Das mögen Sie vielleicht nicht begreifen, weil Sie in Prozentrechnung nie besonders stark waren.
Aber die deutschen Familien wären froh darüber, wenn sie sagen könnten: Uns werden nur 15 Prozent vom Bruttoeinkommen an Steuern weggenommen. Das wollte der Kollege Scharping sagen.