Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß in der SPD-Fraktion bei meinem bloßen Auftauchen sofort Bewegung zu verzeichnen ist.
Denn heute war bislang nicht viel Bewegung bei Ihnen.
Die Generalaussprache zum Etat des Regierungschefs sei die Stunde der Opposition, so wird immer gesagt. Das ist gute parlamentarische Tradition. Wenn ich mich daran erinnere, was ich, was wir alle, gehört haben - ich verweise besonders auf das, was die Kollegen Scharping und Fischer gesagt haben -, dann hat, muß ich sagen, Wolfgang Schäuble schon recht: Wir leben offenbar in zwei verschiedenen Ländern. Wenn man Ihre alten Verelendungstheorien hört, dann weiß man nicht, wo sich die Deutschen heute aufhalten. Ich kann Ihre Theorien nicht bestätigen, und ich lebe doch so wie Sie in diesem Land.
In ein paar Punkten habe ich allerdings heute etwas dazulernen können. Ich fand es sehr gut, daß der Sprecher der Grünen, Herr Fischer, den Sozialdemokraten Mut zugesprochen hat,
daß er sie aufgefordert hat, an die Zukunft zu glauben. Das war immerhin etwas.
Herr Scharping hat in seiner Rede einen weiten Weg von der Antike über den Heiligen Augustinus bis zu Augstein genommen. Das ist eine Reihe, die ich nicht nachvollziehen kann.
Aber eines ist bei diesen Äußerungen deutlich geworden: Weder die Sozialdemokraten - jedenfalls nicht Ihre Sprecher - noch der Sprecher der Grünen haben einen Beitrag, der realisierbar ist, zu den Themen, die wir an der Schwelle des 21. Jahrhunderts zu lösen haben, mitgebracht.
Sie wollen einfach nicht zugeben, wie dramatisch sich die Welt, in der wir leben, verändert hat, und daß wir - was immer gestern oder vorgestern war - dieser dramatischen Veränderung Rechnung tragen müssen.
Ich glaube nicht, daß Sie mit dieser Politik, die Sie hier gemeinsam vertreten - es ist ja das erklärte Ziel, daß Sie mit Rot-Grün und möglichst mit Unterstützung, laut oder leise, der PDS
- das ist doch nun ganz eindeutig - an die Macht wollen -, den Zukunftsvisionen Rechnung tragen werden.
Wir haben doch den Modellfall vor Augen. Dieses Haus und die Bundesstadt Bonn liegen mitten in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich die Nachrichten und Meldungen eines jeden Tages lese, so soll das doch ein Modell für Bonn sein. So ist es doch angepriesen worden. Was ist das jetzt, was in NordrheinWestfalen stattfindet? Ein permanenter Vorgang der Reformverweigerung, der Perspektivlosigkeit und des Mißmuts. Das ist der Beitrag, der von dort kommt.
Nordrhein-Westfalen ist immer noch das größte und wichtigste Bundesland. Es kann uns bei allem Respekt vor föderalen Strukturen nicht gleichgültig sein, was in diesem wichtigen Industrieland und vor allem in diesem Zentrum an Rhein und Ruhr vonstatten geht. Es ist doch offenkundig, daß die Arbeitnehmer an Rhein und Ruhr für diese völlig verfehlte Politik die Zeche bezahlen. Ich sage Ihnen: Wir werden alles tun, damit die Menschen in Deutschland begreifen, daß das Modell, das wir in Düsseldorf sehen, völlig ungeeignet ist, die Zukunft Deutschlands zu sichern.
Ich will bei diesem Anlaß gerne die Gelegenheit wahrnehmen, ein Wort zu den Gewerkschaften zu sagen, weil ich meine, daß es wichtig ist, uns darüber auszusprechen. Denn die Gewerkschaften sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Wenn ich dies sage, so habe ich im Verhältnis zu den Gewerkschaften nie in der Illusion gelebt, daß ich dort sozusagen erste Wahl bin. Ich habe erleben müssen - auch noch in der Zeit meiner Amtsvorgänger aus der Union -, daß die Gewerkschaften vor Bundestagswahlen große Aufrufe verfaßt haben, uns nicht zu wählen. Ich sage Ihnen ganz einfach: Wenn
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
wir bei der Arbeitsteilung bleiben und sie sagen, wählt uns nicht, die Leute dies aber tun, so ist dies eine gute, geordnete Entwicklung für die Zukunft.
Ich habe viel Respekt vor dem Recht auf Demonstrationen. Das ist ein Grundrecht in einer freiheitlichen Demokratie. Aber wenn man solche Demonstrationen veranstaltet, so finde ich, sollte man wenigstens auch bei den Tatsachen bleiben und sollte einmal, wenn man das Banner der Loyalität und der Solidarität mit den Arbeitnehmern entrollt, zu dem sprechen, was man als. eigenen Beitrag dazu leistet. Mit roten Fahnen und Feldgeschrei ist den Arbeitslosen in Deutschland nicht zu helfen.
Es ist überhaupt kein Problem auf diese Weise zu lösen.
In unserer Erinnerung ist doch das Bild präsent, wie 1983 ein Teil derer, die da jetzt geredet haben - auch aus Ihrem Lager -, auf Straßen und Plätze zogen und gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen protestiert haben. Wenn wir damals Ihrer Politik gefolgt wären, hätte es die deutsche Einheit nie gegeben, Abrüstung nie gegeben,
hätten wir die - in der damaligen Zeit unvorstellbare - weltweite Friedenspolitik nicht auf den Weg bringen können.
Ich respektiere das, was die Gewerkschaften sagen. Wir müssen es natürlich auch ertragen, wenn sie gegen uns oder gegen mich demonstrieren. Aber das ist nicht mein Thema. Ich wünsche mir nur eines: daß die Gewerkschaftsführungen - es gibt hier sehr nachdenkliche und gute Stimmen, auch heute noch, trotz aller Demonstrationen - mit uns, die wir in manchen Punkten anderer Meinung sind, auch in Zukunft bereit sind, zu sprechen, zu diskutieren und zu Ergebnissen zu kommen.
Wir brauchen auf diesem Weg in das 21. Jahrhundert starke Gewerkschaften und starke, auch aktionsfähige Unternehmerverbände. Das gehört auch dazu. Dazu gehört, Herr Kollege, daß die Gewerkschaften und die Unternehmer fähig sind, Veränderungen bei den Flächentarifen vorzunehmen. Dazu gehört aber nach meiner Überzeugung nicht, Flächentarife abzuschaffen. Auch das ist ein Unterschied, den ich hier deutlich ausgesprochen haben möchte.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Ich werde auch in Zukunft das Gespräch mit den Gewerkschaften suchen. Das entspricht unserer Tradition und unserer Vorstellung. So wird es auch bleiben.
Die Repräsentanten der Gewerkschaften wie auch Sie im Hause haben in Wahrheit doch erkannt - das zeigt die Debatte heute -, daß bei allem Protest, der kommt und inszeniert wird, der teilweise auch verständlich ist, die große Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger längst erkannt hat, daß um der Sicherung der Zukunft willen Veränderungen - und das heißt auch einschneidende Maßnahmen - notwendig sind. Wolfgang Schäuble hat ja die neuesten Umfragedaten bekanntgegeben.
- Die Umfragedaten gefallen Ihnen nicht,
aber sie sind doch da. Im übrigen werden wir irgendwann bei Wahlen abmessen können, inwieweit Sie sich mit den Daten auseinandersetzen. Jedenfalls sind es erheblich über 60 Prozent der Bevölkerung - das entspricht auch der Erfahrung, die jeder von uns draußen im Land macht -, die bei aller Kritik sagen, daß etwas in diese Richtung geschehen muß.
Im übrigen brauchen Sie keine Umfragen. Wenn Sie durch das Land gehen und sehen, an wie vielen Orten jetzt - in den allermeisten Fällen mit Billigung der Gewerkschaften - Betriebstarife abgeschlossen werden, wie es möglich ist, sich über Dinge zu einigen, bei denen es vor drei Jahren völlig undenkbar war, sie auch nur zu diskutieren, dann wissen Sie, daß das eine vernünftige Entwicklung ist. Deswegen bin ich dafür, daß wir auf diesem Weg weiter vorangehen, auch wenn das Feldgeschrei noch so groß ist.
Auch das ist doch wahr: Die allermeisten Ihrer Ministerpräsidenten in den Bundesländern haben längst begriffen, daß es gar nicht darum geht, den Sozialstaat zu demontieren - hören Sie doch mit diesen altmodischen Sprüchen auf -, sondern daß es darum geht, den Sozialstaat zu sichern und zukunftssicher zu machen. Die meisten von denen, die ich eben angesprochen habe, hätten ja das Thema auch längst aufgegriffen, wenn sie nicht aus ihrem Parteiverständnis heraus vorerst daran gehindert worden wären oder sich gehindert gesehen hätten, dieses Thema jetzt aufzunehmen.
Am Freitag dieser Woche, irgendwann gegen 15 Uhr, wird hier abgestimmt. Dann werden Sie sehen, daß eine klare Mehrheit die richtige Entscheidung trifft
und eine ganze Reihe von Kollegen aus den Bundesländern, die Sozialdemokraten sind, sagen: So, jetzt
haben wir genug gezeigt, daß wir einig sind, auch
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
wenn der Weg falsch ist; jetzt gehen wir den richtigen Weg und führen vernünftige Gespräche.
Eigentlich, meine Damen und Herren, ist das auch gar keine Frage des parteipolitischen Streits. Jeder, der sich die Welt genau betrachtet, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft erfordern Konsequenzen in einer Volkswirtschaft wie der deutschen. Geld und Technologien, Informationen und Waren überwinden Grenzen mit einer Leichtigkeit und Geschwindigkeit wie nie zuvor.
Zwischen 1964 und 1994 steigerten die Industrieländer die Produktion jährlich um 9 Prozent, die Ausfuhr weltweit um 12 Prozent und grenzüberschreitende Bankkredite um 23 Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen der Industrieländer erhöhten sich seit Mitte der 80er Jahre mit Raten von bis zu 30 Prozent pro Jahr.
Die Gewichte haben sich verschoben. Der Anteil der asiatischen Länder - ohne Japan - am Welthandel lag damals bei 8 Prozent, jetzt liegt er bei rund 20 Prozent. Er hat sich mehr als verdoppelt. Und jetzt kommt die Zahl, die uns doch eigentlich beunruhigen muß: Der deutsche Anteil ist im gleichen Zeitraum von gut 10 Prozent auf rund 9 Prozent geschrumpft. Das heißt, wir haben mit dem Wachstum anderer nicht mithalten können, sondern es ging zurück.
- Das ist ja nun wirklich absurd. Wir haben doch Tarifautonomie. Ich sage es ja auch gar nicht anklagend. An diesen Entwicklungen haben nahezu alle in irgendeiner Form mitgewirkt.
Schauen Sie sich doch einmal den Unterschied bei den Lohnkosten an! Die Arbeitsstunde eines Facharbeiters im Druckereibereich, entsprechend den jeweiligen Tarifen, kostet bei uns in Deutschland 51 DM, in England 25 DM, in Ungarn 9 DM. Die vergleichbare Zahl in Prag ist ähnlich. Das hat doch Konsequenzen, darüber muß man doch reden. Es hat doch nichts mit Sozialabbau zu tun, wenn wir sagen, wir müssen besser werden; denn jeder von uns weiß, daß wir die Löhne nicht absenken können. Jeder von uns weiß auch, daß die anderen ihre niedrigen Löhne nicht halten werden. Aber wir müssen auf diesem Feld mehr tun.
In meiner Nachbarschaft, in Baden, schlägt die Sonntagsnachtschicht in einer Druckerei mit 700 DM zu Buche. Wenige Kilometer entfernt, im Elsaß, sind es 350 DM. Sie müssen also nicht nach Asien gehen, Sie können in derselben Region bleiben, wo die Menschen die gleiche Mundart sprechen, und auch da haben wir diese Unterschiede.
Wir haben erhebliche Veränderungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Das ist unübersehbar. Das hat doch Folgen für Arbeitsmarkt und Sozialsysteme. Das ist keine Frage des Sozialabbaus. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre. In über 30 Jahren wird der Anteil auf 27 bis 30 Prozent angestiegen sein. Es ist doch nicht zu leugnen, daß das bei den Beitragszahlern bis hin zu den Rentenbeziehern elementare Auswirkungen haben muß.
Wenn ich diese Punkte nenne, dann ist auch wahr, daß alle unsere Nachbarn daraus Konsequenzen ziehen. Ich brauche jetzt gar nicht die Sozialsysteme im einzelnen zu vergleichen, aber in etwa sind doch die Niederlande, Schweden, Frankreich oder andere in bezug auf bestimmte Positionen mit uns vergleichbar. In all diesen Ländern ist man auf dem Weg zur Lösung dieser Fragen unterwegs, egal ob der Ministerpräsident oder der Staatspräsident dieser oder jener Partei angehört. Wenn wir also darüber reden und Vorschläge machen - und wenn Sie keine Vorschläge machen -, dann müssen Sie doch wenigstens den Vorwurf ertragen, daß Sie sich aus der Verantwortung verabschiedet haben.
Das ist nicht nur eine Frage der deutschen Innenpolitik. Deutschland ist mehr als jedes andere Land, zumindest in Europa, darauf angewiesen - weil wir geopolitisch und geographisch in Europa die Mitte darstellen -, daß die Nachbarn zu uns Vertrauen haben, und zwar in vielfältiger Hinsicht. Vertrauen hat auch etwas zu tun mit wirtschaftlicher Stabilität. Ich mag das Wort nicht, wonach die deutsche Volkswirtschaft Traktor der Entwicklung für andere Länder ist. Aber es ist doch unübersehbar - ich werde es nachher am Beispiel Tschechien deutlich machen -, wie sehr unsere Beziehungen miteinander verwoben sind. Wir sind mit einer Einwohnerzahl von 80 Millionen, ob es uns gefällt oder nicht, von besonderer Bedeutung in Europa. Wir sind ein stark exportorientiertes Land, und wir haben - das ist doch ganz unbestreitbar - große Chancen, wenn wir nur bereit sind, sie zu nutzen, und wenn wir uns jetzt dieser Aufgabe stellen.
Sehen Sie, Herr Scharping, ich habe mir nur eine einzige Zahl mitgeschrieben, weil sie so unglaublich war. Ich habe mich jetzt einmal genau vergewissert, wie die Lage ist. Ich meine den Vergleich mit dem mexikanischen Industriearbeiter. Nun bin ich kein Spezialist auf diesem Gebiet und daher auf die Hilfe anderer angewiesen. Nach den Daten im Handbuch der OECD hatte ein deutscher Industriearbeiter, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, 1994 einen Nettojahresverdienst von 41 000 DM. Ein entsprechender mexikanischer Industriearbeiter hatte im selben Jahr einen Nettojahresverdienst von 5 500 DM; das ist ein Siebtel.
Das hat meine klugen Mitarbeiter nicht ruhen lassen. Es gibt nämlich sehr viel bessere Beispiele. Sie haben dann dort angerufen, wo einer Ihrer politischen Freunde regelmäßig Einsichten und Unterstützung bekommt, nämlich in Wolfsburg. Es gibt eine Automobilfabrik in Wolfsburg, und eine Automobilfabrik gleichen Namens gibt es auch in Mexiko. Im vergleichbaren Fall - Industriefacharbeiter, verheiratet, zwei Kinder - beträgt der Nettolohn in Mexiko -
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
das ist für mexikanische Verhältnisse ein Superlohn knapp 9 000 DM und in Wolfsburg 50 000 DM.
- Ja, das habe ich ja schon gesagt; das weiß inzwischen auch Herr Scharping.
Vom Sprecher der PDS haben wir soeben seine steuerpolitischen „Visionen" gehört. Die Steuervorstellungen, die er eben hier entwickelt hat, bedeuten, daß der Industriefacharbeiter in Wolfsburg mit 50 000 DM schon zu den Spitzenverdienern gehört. Aber dies nur nebenbei; wir brauchen nicht länger dabei zu verweilen.
Mit einem Wort, Herr Scharping: Lassen Sie uns doch nicht mit solchen Argumenten arbeiten!
Ein mexikanischer Industriefacharbeiter weiß ganz eindeutig, daß sein Kollege in Wolfsburg mehr verdient; der Arbeiter in Wolfsburg will auch nicht mit seinem Kollegen in Mexiko tauschen.