Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat Herrn Fischer angemerkt, daß ihm der gute Erholungsprozeß und die Beständigkeit der F.D.P. doch schwer zu schaffen machen. Sie sind nicht ein Ergebnis des Vorhabens der Steuerrefom, sie sind ein tiefes Ergebnis der Themen der Zeit und des notwendigen Wandels, den wir in Deutschland brauchen.
Wer sich diesem Wandel entzieht, wer sich diesem Wandel nicht stellt, wer Veränderungen verdrängt, wer im Bundesrat blockiert, wer Flexibilisierung verhindert, wer Läden noch früher schließen will, als es heute möglich ist, wer zu Steuerreformen nicht fähig und zu Haushaltseinsparungen nicht in der Lage ist, der bietet keine Zukunftschance für dieses Land. Das ist die Situation der Opposition.
Das hat nichts damit zu tun, daß man sich sozialen Fragen zuwenden muß. Aber es geht nicht um Marktwirtschaft plus Sozialpolitik. Diese Addition wird nicht funktionieren. Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards hat soziale Züge und Zwecke verfolgt. Sie kann aber nicht nur so gesehen werden, daß Marktwirtschaft mit Verteilung kombiniert wird. Marktwirtschaft selbst bändigt im Wettbewerb,
Marktwirtschaft selbst beschränkt Macht. Die Länder, in denen Wettbewerb ausgeschaltet ist, haben Machtstrukturen, nicht die Länder, die Wettbewerb zum Funktionieren bringen.
Das ist der tiefe Unterschied zwischen Freien Demokraten und Grünen.
Herr Fischer, Sie haben ein neues Zukunftsmodell entworfen. Ich hoffe, daß sich Ihre Rede nicht ausschließlich an Fisherman's Friends gerichtet hat.
Bei uns ist der Eindruck, daß momentan die Kursbestimmung bei den Grünen eine notwendige Herausforderung für Sie ist. Sie stehen - das muß man der deutschen Öffentlichkeit sehr offen sagen - vor genau den gleichen Herausforderungen wie auch die Regierung. Die Frage ist nur, ob wir den Mut haben, sie hier so anzusprechen, wie sie die Menschen wissen. Die heute in der „FAZ" veröffentlichte Umfrage zeigt, daß die Menschen um tiefe Veränderungsnotwendigkeiten wissen, sich aber nur ungern öffentlich zugestehen, wo angesetzt werden muß.
Ich sage für die Freie Demokratische Partei, weil es jeder weiß, ganz offen: Es gibt kein Rentensystem der Welt, wie immer es geartet ist, das bei längerer Lebenserwartung, wie wir sie dank hoher medizinischer Leistungsfähigkeit heute haben, bei immer früherem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben finanziell tragfähig wäre. Deshalb liegt der entsprechenden Gesetzesvorlage die Konsequenz der Erkenntnis dieses Sachverhalts zugrunde und keine Bösartigkeit gegenüber denen, denen wir heute sagen: Es ist nicht mehr zu finanzieren, mit durchschnittlich 57,8 Jahren in Rente zu gehen.
Wer die Konsequenz nicht zieht, sagt in Deutschland nicht die Wahrheit. Wir sagen die Wahrheit, und Sie führen die alten Verteilungskämpfe. Es gibt kein Land der Welt, das einen solchen Urlaubs- und Feiertagsanteil, solch hohe Löhne und solch hohe Lohnnebenkosten als Konsequenz sozialer Sicherungssysteme hat. Auch die Menschen wissen das. Sie wissen, daß sich unsere sozialen Systeme heute als Barrieren gegen Beschäftigung entwickelt haben. Wer das nicht neu austariert, wer dieses neue Austarieren verschiebt, der wird niemals einen Beitrag zu mehr Arbeit in Deutschland leisten.
Es ist nicht ein Freier Demokrat, der Ihnen das vorträgt, meine Damen und Herren aus der Opposition, es ist Klaus von Dohnanyi, der das mehrmals publiziert hat.
Es ist heute an der Zeit, die Politik, die wir auch in einer sozialliberalen Koalition der 70er Jahre gemacht haben, zu überdenken, und zwar dahin gehend, ob denn nicht all das, was wir an Sozialem in Gang gesetzt haben, heute deshalb überprüft werden muß, weil jeder spürt: Es richtet sich gegen Beschäftigung.
Wir dürfen niemals die Erkenntnis verdrängen, daß Wohltaten bei manchen auch Antriebslosigkeit erzeugen - wir haben es mit Menschen zu tun, für die wir arbeiten -, daß Wohltaten von manchen ausgenutzt werden. Ich frage zurück, ob es in Deutschland nicht auch ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl bei denen gibt, die eine Arbeit annehmen, während ein Nachbar oder jemand im Freundeskreis diese Arbeit nicht annimmt, der aber über soziale Sicherungssysteme gegebenenfalls genauso viel erhält wie der
Dr. Wolfgang Gerhardt
Mensch, der Arbeit annimmt. Auch dies ist eine Gerechtigkeit, die wir benennen und formulieren müssen.
Die ständigen Reparaturen an ineffizienten Systemen, dieses Stück sozialdemokratischer Politik ist zu Ende, weil das nicht mehr ausreicht. Lord Dahrendorf spricht von einem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Er meint damit nicht die Notwendigkeit sozialdemokratischer Grundströmungen, die man in einer Demokratie braucht. Er meint damit vielmehr sozialdemokratisches Denken, das an seiner Grenze angekommen ist,
und zwar weil es nicht nur darum geht, wer soziale Maßnahmen kappen will und wer nicht, sondern weil wir alle wissen, wie die Einnahmesituation öffentlicher Haushalte und die Beschäftigung in Deutschland aussehen.
Die Frage ist nur, ob man das zur Kenntnis nimmt oder ob man es verdrängt, ob man in Debatten so tut, als wäre das, was die Koalition macht, alles nicht nötig, und bei den Menschen den Eindruck erweckt, man müsse nichts verändern, man müsse soziale Maßnahmen nicht korrigieren. Wenn wir sie heute nicht korrigieren, werden wir weder Beschäftigungslosigkeit bekämpfen noch eine Zukunftsvoraussetzung schaffen. Wir bekämpfen das. Wir strengen uns an. Wir nehmen auch Kritik in Kauf. Denn wir halten das für notwendig.
Es kommt noch auf weitere wichtige Klarstellungen an. Es reicht nicht - das ist zutiefst auch im Bericht der OECD zum Ausdruck gebracht worden -, Haushalte mit Sparanstrengungen zu versehen, Lohnnebenkosten, soweit sie in unserer Verantwortung sind, zu reduzieren und soziale Sicherungssysteme zu verändern. Im Kern rät die OECD zu einer gänzlichen Bildungsstrukturreform in Deutschland, und zwar aus gutem Grund.
Unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wir nur, wenn neben Steuerreformen und Haushaltskonsolidierungen ein Potential ausgeschöpft wird, das den Kern der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes ausmacht. Das sind die Menschen, die sich in Bildungs- und Qualifizierungssystemen in Deutschland befinden. Wahr ist aber auch, daß wir die alten ideologischen Diskussionen, welche Schulform der anderen überlegen sei, in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland beiseite schieben müssen. Die Gesamtschule hat sich dem Gymnasium nicht als überlegen erwiesen. Die Hochschulreformen stocken, weil die Hochschulen selber nicht in der Lage sind, Studiengänge anzubieten, um die jungen Menschen einem berufsqualifizierten Abschluß früher zuzuführen.
Manche verdrängen klare Leistungsfeststellungen. Unser verehrter Herr Bundespräsident hat das System, das wir seit Jahren haben, mit dem Hinweis gebrandmarkt: Der Ernstfall wird immer weiter hinausgeschoben. Wer in der Grundschule keine Noten geben will, versündigt sich an der Zukunftsfähigkeit der Kinder.
Wer in Deutschland darüber diskutiert, ob man unbedingt 13 Jahre bis zum Abitur braucht, der verschiebt den Berufseintritt in den Wettbewerb der Volkswirtschaften für die deutsche nachwachsende Generation um ein Jahr.
Kompetenz entsteht nicht dadurch, daß man möglichst lange ausbildet. Kompetenz kann auch dadurch entstehen, daß man sich im Beruf weiterentwickelt.
Wir haben im beruflichen Bildungssystem die Notwendigkeit, das ungeheuer gute Wettbewerbsmodell Deutschlands neu zu stabilisieren. Der schulische Teil im berufsbildenden Schulwesen in den Ländern ist zu überprüfen. Es ist wahr, daß ein Lehrling heute dem Betrieb zu lange - ich kann diesen Ausdruck ohne Scheu nennen - entzogen wird, wo doch die Kompetenz des dualen Systems in gleichgewichtigen Anteilen von Schule und Betrieb entsteht. Ein Lehrling muß in der Lebenswirklichkeit des Betriebes Kompetenz gewinnen und nicht nur durch den Unterricht in der Schule.
Wir Deutschen besitzen ein Denken, das durch Verkrustungen, die Herr Fischer auch noch trägt, gekennzeichnet ist. Er hat sich noch nicht von der Vorstellung verabschiedet, Leistung sei eine Kategorie der Ellenbogengesellschaft. Leistung ist ein Stück Lebenserfüllung von Menschen, die Freude gibt.
Es ist ein völlig falscher Weg - wie ihn SPD und Grüne in den Ländern gehen -, eine Integration Behinderter ins öffentliche Schulwesen auf Teufel komm raus zu machen. Kinder brauchen Lernerfolge. Wenn ein behindertes Kind in der Sonderschule Lernerfolge hat, ist das besser, als im allgemeinen Schulwesen durch Mißerfolge frustriert zu werden.
Dieses falsche Denken hindert uns daran, Talente wirklich auszuschöpfen. Wir vergeuden Talente in unseren Ausbildungsstrukturen; wir haben zu lange Ausbildungszeiten und verpassen dadurch viele Chancen.
Die Steuerreform, die wir durchführen wollen, ist keine Steuerreform für nur einen Teil der Gesellschaft. Sie ist notwendig, damit in Zukunft Arbeit in Deutschland wieder besser möglich wird. Dafür wird diese Steuerreform gemacht.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Ich wiederhole es zum Mitschreiben: Unsere Vorschläge zur Steuerreform, die wir in der Koalition nach Vorlage der Reformkommission gemeinsam beraten und entscheiden werden, sind nicht erarbeitet worden, um irgend jemandem die Taschen zu füllen. Sie werden mit aller Konsequenz umgesetzt, um mehr Beschäftigung in Deutschland zu erzeugen. Das ist unser Ziel.
Wir wollen eine Tarifentlastung für jeden Normalverdiener in Deutschland. Wir möchten die Substanzbesteuerung abschaffen, die mittelständische Betriebe heute daran hindert, Eigenkapital zu bilden. Wenn man sich wie Herr Scharping an die junge Generation wendet und an den Bundeskanzler appelliert, er sollte sich um die Lehrstellen kümmern - das tut er; das tun wir alle -, dann muß man aber auch die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Sie ist ein Hindernis für die Beschäftigung in vielen kleinen und mittleren Betrieben.
Ich sage ganz klar: Je früher eine Steuerreform in Kraft gesetzt werden kann, desto besser ist es für die ökonomische Entwicklung. Dieser Streit wird nicht mit Fingerhakeleien ausgetragen. Wir werden uns darüber vielmehr nach Abschluß der Vorlage der Reformkommission in der Koalition unterhalten. Ich sage Ihnen eine Lösung voraus, die die Koalition freuen und die Opposition erzürnen wird. Diese Lösung werden wir gemeinsam durchsetzen - mit dieser Koalition und mit keiner anderen. So haben wir es vor.
Ich will zum Thema Steuerreform noch folgendes sagen. Es war seit dem vergangenen Sommer ein absurdes Schauspiel, daß wir zunächst gebeten wurden - mit dem Signal aus der SPD, man sei gegebenenfalls zu Gesprächen bereit und brauche noch etwas Zeit, um das Bewußtsein in den eigenen Reihen zu verbreitern, daß die Gewerbekapitalsteuer eine Substanzsteuer sei -, bei dem Thema Gewerbekapitalsteuer noch etwas zuzuwarten. Wir haben dann etwas zugewartet und jetzt versteift sich die ganze Situation wieder, Frau Matthäus-Maier.
Die Gewerbekapitalsteuer muß von jemandem bezahlt werden, der überhaupt noch keinen Gewinn erzielt hat und der sich einen Kredit bei der Sparkasse holt, um eine betriebliche Investition zu tätigen. Das ist die absurdeste Steuer, die ich überhaupt kenne. Die muß weg! Morgen!
Wenn wir, Herr Kollege Fischer, schon über Ref ormen reden, wenn wir dieses Land modernisieren wollen, dann reden Sie bitte einmal auch in Ihren Reihen über die absurdeste Veranstaltung, die die
Arbeitsmärkte zum Erliegen und zum Erstarren bringt: die Flächentarife in der heutigen Form. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht in der Lage sind, das System der Flächentarife zu reformieren,
dann werden mittelständische Betriebe größere wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen.
Es ist absurd, daß man den Betrieben nicht mehr eigene Dispositionsmöglichkeiten bei Arbeitszeit und Löhnen gibt.
Es ist wahr, daß Daimler-Benz Löhne bezahlen kann, die der mittelständische Betrieb im Erzgebirge nicht zahlen kann. Es ist wahr, daß saisonale Auftragslagen bei dem einen Betrieb im Frühjahr und bei dem anderen im Herbst auftreten. Trotzdem werden sie daran gehindert, dieser Tatsache bei den betrieblichen Dispositionen Rechnung zu tragen.
Wenn Sie nicht Optionen für mittelständische Betriebe möglich machen, dann macht uns das Tarifkartell von Arbeitgebern und Gewerkschaften die Flexibilisierungsmöglichkeiten zunichte. Kein Land ist im Bereich des Arbeitsmarktes so erstarrt wie Deutschland.
Das merkt man an den Zwischenrufen, an welchen Tabus man hier rührt. Wir haben in Deutschland bei manchen Systemen Religionswächter, die ein Verbot aussprechen, darüber überhaupt zu diskutieren.
Aber nicht der Bundeskanzler und diese Koalition haben allein Verantwortung für Arbeit in Deutschland, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben Verantwortung und müssen diese wahrnehmen.
In Deutschland ist weitestgehend das öffentliche Denken verbreitet, der Staat solle alles lösen und die Regierung sei für alles zuständig und an allem schuld, obwohl wir ein verfassungsrechtliches Geflecht haben, in dem es viele Verantwortlichkeiten gibt. Diese Leute treten jedoch immer beiseite, wenn es ernst wird, zeigen auf den Bundeskanzler und sagen, die Regierung solle es richten,
und drücken sich im Freundes- und Bekanntenkreis vor klarer Auskunft.
Wenn die Flächentarifverträge, wie wir sie in Deutschland haben, von den beiden Tarifvertrags-
Dr. Wolfgang Gerhardt
parteien nicht reformiert werden, ist das ein Hindernis für Beschäftigung in Deutschland.
Deshalb ist die Aussage von hier an viele, die politische Mitverantwortung haben: Wenn wir jetzt nicht die Kraft aufbringen, erstarrte Systeme zu verändern, dann wird uns ein Veränderungsdruck überrollen, der viel dramatischere gesellschaftliche Zustände in unserem Land herbeiführt, als wir sie nur erahnen können.