Rede von
Joseph
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesem Herbst ist Halbzeit für den
Joseph Fischer
13. Deutschen Bundestag und auch - in dieser Legislaturperiode - für die Regierung Kohl. Ich möchte den Appell des Kollegen Schäuble aufnehmen, in der Mitte dieser Legislaturperiode aus unserer Sicht zu versuchen, in aller gebotenen Sachlichkeit, aber auch in der notwendigen sachlichen Konfrontation, eine Bilanz der Leistung der Regierung Kohl zu ziehen - wohin hat sie dieses Land geführt; wo steht dieses Land heute? - und einen Ausblick zu geben.
Ich möchte Sie, Herr Bundeskanzler, an Ihren eigenen Maßstäben messen, die Sie zu Beginn dieser Legislaturperiode angelegt haben. In der Tat wußten Sie von Anfang an - wir alle wußten es -: Diese Legislaturperiode wird für unser Land keine einfache werden. Zwei Krisen haben sich verschränkt - zwei Krisen, die sich aus sehr glücklichen Entwicklungen und als Ergebnis des Zusammenbruchs eines ganzen Weltsystems und aus dem Ende des Kalten Krieges ergeben haben. Die Wiedervereinigung mit der Notwendigkeit des Prozesses der Herstellung der inneren Einheit und eine neue Weltwirtschaftsordnung, die unter dem Prozeß der Globalisierung begriffen wird, haben sich krisenhaft verschränkt.
Krise muß zunächst einmal nichts Negatives sein. Krise bedeutet Veränderungschance; diese Veränderungschance muß man nutzen. Aber natürlich kann sie auch zu einem Debakel werden, wenn man die Veränderungen nicht nutzt. Globalisierungs- und Einheitskrise stehen also als Überschrift über dieser Legislaturperiode.
Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, was sich in diesen zwei Jahren wirklich zum Besseren verändert hat. Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben Sie die Massenarbeitslosigkeit als das drängendste Problem benannt. Gibt es eine Trendwende bei der Massenarbeitslosigkeit? Gibt es eine Trendwende hin zu einem Anstieg der Beschäftigungsquote? - Wenn Sie ehrlich sind, müssen sie nein sagen.
Zum größten Problem, das wir bei der Beschäftigung haben, haben Sie - Kollege Schäuble eben wieder - die Lohnnebenkosten erklärt. Haben wir eine Trendwende bei den Lohnnebenkosten erreicht? Haben Sie die Möglichkeiten, die dagewesen wären - auch in Zusammenarbeit mit der Opposition -, genutzt, um eine Senkung der Lohnnebenkosten herbeizuführen? - Nein!
Der nächste Punkt ist die Überschuldung der Staatshaushalte, meine Damen und Herren. Schauen Sie sich doch einmal an, was sich dabei in den vergangenen Jahren tatsächlich getan hat. Haben wir in diesem Bereich eine Trendwende? Onkel Theo hat gestern wieder seine Märchenstunde gehalten. Das war alles, was wir feststellen konnten. Gleichzeitig mußte er bekennen, daß er die großen Versprechungen, die er im letzten Jahr gemacht hat, nicht einhalten konnte.
- Ruhe auf der Regierungsbank!
Seine großen Ankündigungen, die Nettoneuverschuldung begrenzen zu können, kann er - so mußte er gestern kleinlaut eingestehen - nicht einhalten. Graf Lambsdorff hingegen spricht von der Gefahr, daß wir statt 4 Millionen Arbeitslose zukünftig 5 Millionen Arbeitslose bekommen und keine Halbierung, wie es der Bundeskanzler gesagt hat. Zudem prophezeit er einen weiteren Anstieg der Nettoneuverschuldung.
Schauen wir uns die Situation bei den Renten an. Sind die Renten denn in diesen beiden Jahren sicherer geworden? Der Bundeskanzler hat sich zu Beginn dieser Legislaturperiode noch geweigert, über die Zukunft der Renten zu sprechen, und hat verkündet, die Renten seien sicher. Jetzt hat er mittlerweile eingestanden, daß spätestens ab dem Jahre 2013 - bei einer weiter abbrechenden Beschäftigung und einem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit aber schon vorher! - unser Rentensystem in die Krise gerät.
Wie ist die Lage beim öffentlichen Dienst? Wie ist die Lage bei der Staatsmodernisierung, einem wichtigen Beitrag, den der Gesetzgeber, den diese Regierung von selbst leisten könnte? Auch hier muß man feststellen: völlige Fehlanzeige. Wie ein Huhn auf dem Ei brütet der Innenminister über dem Versorgungsbericht, den er nicht herausgeben will, weil dann nämlich die ganze Finanzplanung dieser Regierung sofort auf den Kopf gestellt wäre.
Eine Modernisierung des öffentlichen Dienstes, ein modernes Dienstrecht, das nur über eine Änderung der Verfassung möglich ist - wir reden hier nicht über eine Abschaffung des Berufsbeamtentums, sondern über die Möglichkeit, daß der Bundesgesetzgeber mit einfacher Mehrheit seine Gestaltungskompetenz endlich wahrnimmt, um ein modernes Beamtentum, das dem 21. Jahrhundert angemessen ist, zu schaffen -, ist mit dieser Koalition, die die Innovation auf ihre Fahne geschrieben hat, nicht möglich. Sie halten an einem der ältesten und teuersten Zöpfe in diesem Lande fest.
So, Herr Bundeskanzler, ist die Situation in aller Kürze beschrieben.
Aber was ist die Ursache dessen? - Die Ursache dessen ist, daß Sie, nachdem Sie die Chance der deutschen Einheit ergriffen und entschlossen umgesetzt haben, einen strategischen Großfehler gemacht haben. Sie haben geglaubt, die Bundesrepublik ließe sich nach der Einheit einfach auf den Osten übertragen, nach dem Motto: weiter so, anstatt entschlossen Reformen anzugehen. Und heute stehen wir vor der Situation, daß all das, was den Menschen, vor allen Dingen den sozial Schwachen, angelastet wird, ein Ergebnis Ihrer verfehlten Einheitspolitik ist. Es erbittert mich, daß Sie, wenn dauernd über die Verantwortung für kommende Generationen gesprochen wird, nicht den Mut haben zu
Joseph Fischer
sagen: Es war ein Fehler, daß wir die Einheit schuldenfinanziert und der heutigen Generation nicht höhere Steuern zugemutet haben.
Sie haben damals, Herr Bundeskanzler, statt Gestaltung Machterhaltung betrieben. Sie wußten ganz genau: Wenn Sie zu höheren Steuern gegriffen hätten - und die deutsche Einheit hätte über höhere Steuern finanziert werden müssen und nicht über Schulden und nicht über die Sozialkassen -, wären Sie das Risiko eingegangen, unter Umständen die Macht zu verlieren. Dieses Risiko wollten Sie nicht eingehen. Das ist das Gegenteil von verantwortlicher Politik.
Ich will Ihnen ein paar Zahlen nennen. Es gab von 1990 bis 1995 nahezu eine Verdoppelung der Staatsschulden aller drei staatlichen Ebenen - inklusive des Sondervermögens - auf heute 2 Billionen DM. Die Zinslasten haben sich in diesem Zeitraum ebenfalls fast verdoppelt, nämlich von 65 Milliarden DM auf 128 Milliarden DM. Ich sage der F.D.P., ich sage Herrn Westerwelle: Sie können sich die Sprüche „Wir wollen die Staatsschulden zurückfahren", im Interesse der nächsten Generationen wirklich schenken, weil Sie bei der Finanzierung der Einheit das Gegenteil gemacht haben.
Schaut man sich das Spektakel um den Solidaritätszuschlag an, so läßt sich die ganze Verantwortungslosigkeit einer ausschließlich an Koalitionsräson und Machterhalt orientierten Politik demonstrieren, Herr Bundeskanzler, Herr Kollege Schäuble.
Sie, Herr Kohl, Sie, Herr Waigel, Sie, Herr Schäuble, nahezu alle in der Unionsfraktion sind derselben Überzeugung wie wir, daß die Abschaffung des Solidaritätszuschlages jetzt schlicht falsch ist, daß eine Absenkung des Solidaritätszuschlages angesichts des Debakels beim Aufbau Ost, angesichts der Finanzlasten, die dort nach wie vor auf uns warten und die wir gemeinsam und solidarisch bewältigen müssen, eine falsche politische Entscheidung ist. Sie machen das nur wegen der Koalitionsräson, um eine Notbeatmung Ihres Koalitionspartners vor den letzten Wahlen hinzubekommen. Genau mit dieser Politik ruinieren Sie die Zukunftsperpektiven in diesem Land.