Ein kluger Mann hätte nicht vor den Landtagswahlen im März dieses Jahres, sondern generell einige Gesprächsrunden mit den Gemeinden, den Ländern, den Arbeitgebern und Arbeitnehmern veranstaltet und dann gesagt: Wir müssen aus dieser eingefahrenen Routine und den alten Gleisen heraus. Dieses Land braucht einen neuen Aufbruch und Modernisierung. Es geht so nicht weiter.
Ein kluger Kanzler hätte zu Theo Waigel gesagt - ich glaube, die beiden Herren duzen sich -: Theo, - -
- Das ist durchaus eine ganz sinnvolle Ergänzung. Wenn Sie nämlich beschlossen hätten, gemeinsam nach Lodz zu fahren, wäre vielleicht mehr herausgekommen als aus dieser buchhalterischen Fortschreibung alter Versäumnisse, die dieser Haushalt darstellt.
Sie hätten dem Finanzminister auch noch den Rat geben können: „Laß den Unsinn, immer die Opposition für unsere Versäumnisse verantwortlich zu machen" , wie das gestern der Fall war.
Denn dieses Land braucht eine Regierung der zielbewußten und sozial verantwortlichen Modernisierung. Es braucht keine Regierung der primitiven Beutelschneiderei.
Dieses Land braucht eine neue Perspektive, die mutig und realistisch ist und den einzelnen Schritten Sinn und Ziel gibt, eine nüchterne Bilanz und selbstkritische Korrekturen. Nichts davon enthält Ihre Politik, nichts davon enthält Ihr Haushalt. Das ist ein ödes Weiter-so, eine eingefahrene, wirtschaftlich gefährliche, sozial unverantwortliche Routine - mehr nicht.
Ein kluger Kanzler hätte gesagt: Der Glücksfall der Einheit, der Epochenbruch des Jahres 1989/90, das sind gemeinsame Herausforderungen, die wir im Wettbewerb mit anderen Nationen und die wir im eigenen Land bestehen müssen. Ein kluger Kanzler hätte die Gelegenheit dieser Haushaltsberatungen für einen Bericht zur Lage der Nation genutzt, mit der Überschrift „Wille zur Gerechtigkeit - Wege zum Fortschritt" . Alles das enthält Ihre Politik nicht.
Wenn solche Beratungen den Sinn haben, die Linie von Politik deutlich zu machen und nicht nur in den einzelnen Entscheidungen und der Debatte darüber zu verharren, dann will ich Ihnen ein Wort des Augustinus ins Gedächtnis rufen.
- Sie werden noch einige Male Gelegenheit haben, Ihre christliche Überzeugung dadurch zu beweisen, daß Sie den Männern und Frauen, die in diesem Geiste argumentieren, mit Hohnlachen entgegentreten, so wie eben!
Dieser kluge Mann hat vor 1 500 Jahren gesagt:
Staaten, die der Gerechtigkeit entbehren, sind eine große Räuberbande.
Wenn Gerechtigkeit in der gleichen Würde jedes einzelnen Menschen wurzelt, dann verletzen Sie eine historische Erfahrung und eine Grundlage, die wir für die Zukunft unverzichtbar brauchen. Ihre Politik ist zutiefst ungerecht gegenüber den Menschen in Deutschland.
Vor wenigen Wochen hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gesagt - ich bin gespannt, ob das Hohnlachen sich fortsetzt -:
Was wir vor allem brauchen, ist eine gerechtere
Lastenverteilung, die die gesamte Solidarge-
Rudolf Scharping
meinschaft umfaßt und dem unterschiedlichen Leistungsvermögen Rechnung trägt. Die Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme ist doch in erster Linie darauf zurückzuführen, daß den Beitragszahlern entgegen diesem Gebot der sozialen Gerechtigkeit zunächst sachfremde Aufgaben aufgebürdet wurden.
Recht hat der Mann, und Sie sollten damit beginnen, endlich zu beherzigen, daß Gerechtigkeit für die Zukunft das tragende Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein hat.
Bischof Lehmann fährt fort:
Soziale Leistungen sind kein Luxusgut, das man sich nur in besseren Zeiten leisten kann. Sie sind vielmehr ein Gebot sozialer Gerechtigkeit.
Wie vereinbart sich mit diesem Anspruch die Politik einer Koalition, die, im Osten wie im Westen des Landes, gegenüber den Frauen und den Männern, gegenüber den Älteren und den Jüngeren, eine gerechte Perspektive nicht entwickelt? Mit Blick auf die F.D.P. habe ich manchmal den Verdacht, daß sie gar nicht mehr den Willen hat, eine gerechte Perspektive zu entwickeln.
In einer Predigt, von der ich weiß, daß sie dem Bundeskanzler viel Ärger gemacht hat, und zwar sichtbaren Ärger, hat der Präses der Rheinischen Landeskirche in der Ludwigskirche in Saarbrücken am 3. Oktober gesagt:
Eine Gesellschaft, die sich weigert, den Anwälten der Schwachen Gehör zu schenken, verspielt ihre Zukunft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die Schwachen vor den Ellenbogen der Starken zu schützen, verliert seine Würde. Gebt den Zynikern keine Chance. Zukunft kann gewonnen werden.
Ich füge hinzu: Mit Ihrer Politik wird Zukunft verspielt, wird Zukunft gefährdet.
Sie geben den Anwälten der Schwachen kein Gehör mehr, sondern denunzieren sie sogar als diejenigen, die scheinbar an Besitzständen festhalten würden. Eine zynische Argumentation gegenüber den Wohlfahrtsverbänden und den Menschen, um die sich diese Wohlfahrtsverbände kümmern!
Das alles begründen Sie dann mit weltweiten Herausforderungen. Ich will darauf gleich noch eingehen. Sie weisen darauf hin, so sei das eben. Manche von Ihnen haben immer gerne Lord Dahrendorf zitiert. Er hat im September, in diesem Monat, ein hochinteressantes Gespräch geführt. Ich sage das mit Blick auf die F.D.P.
Lord Dahrendorf erklärt: „Ich bin in den letzten Jahren ganz von allen Theorien abgekommen, die entweder einen Primat der Ökonomie oder einen Primat der Politik postulieren." Er sagt, daß wir uns um mehr soziale Kohäsion und Solidarität kümmern müssen, daß in anderen Ländern in einer gewissen Weise die Gesellschaft dem Wettbewerb geopfert worden sei, Gott sei Dank noch nicht - ich zitiere ihn: noch nicht! - unter Gefahr für die freiheitlichen Institutionen.
Ich halte Ihnen das deshalb entgegen, weil Ihre Politik nicht nur das Gebot der Gerechtigkeit, nicht nur die Perspektive für die Zukunft verletzt und belastet, sondern weil sie auch weit hinter den internationalen Anforderungen und weit hinter den internationalen Diskussionen zurückbleibt. Ihre Debatte ist für die Zukunft gefährlich. Sie ist provinziell.
Dann begründen Sie alles das mit den Erfordernissen der deutschen Einheit. Es gibt einen klugen Mann,
der einmal gesagt hat:
Als erste Maßnahme wird sich eine Währungsneuordnung, die Eingliederung in unser Währungssystem, als unerläßlich erweisen. Damit vollzieht sich zwangsläufig eine Anpassung des Preis- und Lohnniveaus an die in der Bundesrepublik herrschenden Verhältnisse. Mit diesem Prozeß
- so fuhr er fort -
wird die wirtschaftliche Lage schonungslos offengelegt. Es kann kein Zweifel bestehen, daß das Resultat betrüblich, vielfach sogar niederschmetternd sein wird. Das heißt, daß wir mit einem starken Leistungsgefälle zwischen Ost und West rechnen müssen und daß sich daraus schwerwiegende Konsequenzen für die sozialen Verhältnisse der Bevölkerung ergeben werden.
Das war Ludwig Erhard 1953. Er war damals schon schlauer als Helmut Kohl mit seinem gefährlichen wirtschaftlichen und sozialen Illusionismus und den Folgen, die wir heute dafür tragen müssen.
Denn Helmut Kohl hat damals im Deutschen Bundestag wortwörtlich in der Sitzung am 12. September gesagt:
- Warum lachen Sie über die Äußerung Ihres Kanzlers? Das verstehe ich überhaupt nicht.
Rudolf Scharping
Wann je wollen die Deutschen die Frage der Einheit auch wirtschaftlich meistern, wenn nicht jetzt, da wir von der wirtschaftlichen Dynamik der DDR alle profitieren . .
- Wissen Sie, ich bin der Meinung, es ist ganz vernünftig, die Politik dieser Regierung und der sie tragenden Koalition mit den eigenen Ansprüchen zu konfrontieren.
Sie haben die Menschen belogen. Sie haben Illusionen erzeugt. Jetzt gehen Sie zu denselben Menschen hin und sagen: Ihr seid selbst schuld. Das nenne ich eine zynische und für die Demokratie sogar gefährliche Argumentation, weil es dazu führt, daß Sie nicht Ihre Politik korrigieren, sondern die Opfer Ihrer Politik zu den Schuldigen erklären. Das ist unverantwortlich.
Ein kluger Kanzler hätte die deutsche Einheit und den Epochenbruch genutzt, um eine neue Perspektive zu entwickeln. Er hätte darauf geachtet, wie das Wertgefüge ist und was für eine soziale Ausgestaltung der Demokratie unverzichtbar ist. Von daher erhalten die aktuellen Debatten ihren eigentlichen Stellenwert.
Man könnte über Einzelheiten Ihrer Entscheidungen sinnvoll streiten. Da sie aber in eine seit Jahren sichtbare Generallinie gehören, die nicht mehr Gerechtigkeit als Ausfluß der Würde jedes einzelnen Menschen und als gleichberechtigtes Prinzip betrachtet, und weil Sie unter schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Verhältnissen auch nicht mehr in den Kategorien der gleichen Zumutbarkeit denken, wird Ihre Politik zu einer Gefahr für die Zukunft.
Sie versperren den Weg, Sie blockieren die Kräfte. Deutschland hätte die Kraft. Es hat verantwortungsbewußte Menschen; es hat kluge Ingenieure; es hat qualifizierte Arbeitnehmer; es hat genügend sozial verantwortliche Menschen. Sie blockieren diese Kraft. Sie werden zu unserem größten Hindernis auf einem fortschrittlichen, modernen Weg in die Zukunft.
Kürzung der Lohnfortzahlung, Aushöhlung des Kündigungsschutzes, die Heraufsetzung der Altersgrenze für den Rentenbezug bei Frauen - das alles ist, für sich genommen, schon ärgerlich und ungerecht, es ist aber zugleich die Fortsetzung einer Politik, die den sozialen Zusammenhalt unseres Landes immer stärker reduziert, immer stärker mindert und die kühlen Egoismus an die Stelle sozialen Zusammenhaltes setzt.
Das ist auch gegen unsere ökonomischen Interessen. Denn wer das international vergleicht - und das tun Sie ja so gerne -, der wird feststellen, daß im Gefolge Ihrer Politik der Anteil der Arbeitnehmer am gemeinsam Erwirtschafteten immer weiter abgefallen ist, jetzt schon deutlich unter das Niveau Großbritanniens, Japans oder der USA. Er wird feststellen, daß bei aller Notwendigkeit der Unternehmensgewinne, der Investitionen usw. eine Wirtschaft ohne Kaufkraft nicht funktionieren kann.
Er wird feststellen, daß wir in Deutschland mit den Familien schlechter umgehen als fast alle europäischen Länder, ja sogar schlechter als Mexiko.
Ja, das ist die Wahrheit, selbst wenn Sie es nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Ein verheirateter Industriearbeiter mit zwei Kindern hat in Deutschland nach den Abzügen weniger als sein Kollege in fast allen europäischen Ländern.
Sie haben die Familien zum Lastesel der Nation gemacht, Sie haben Sonntagsreden gehalten und sechs Tage in der Woche gegen Ihre eigenen Prinzipien gehandelt.
Wenn Sie schon so gerne international vergleichen, dann sage ich: Bitte vollständig! Dann fragen Sie sich doch einmal - und die Antwort liegt auf der Hand -, warum in Deutschland das wirtschaftliche Wachstum so schwach ist, warum die Erwerbsquote in Deutschland zurückgeht und die Arbeitslosigkeit steigt, warum wir, anders als alle unsere Wettbewerber, das bescheidene wirtschaftliche Wachstum kaum noch mit einem Wachstum der Beschäftigung verbinden.
Eine Politik, die mit zukunftsweisendem Realismus an diese Herausforderung ginge, eine Politik, Herr Bundeskanzler, die den Menschen Mut machte, statt den Mißmut zu fördern, eine solche Politik würde die globalen Herausforderungen als Chance zu neuer Gestaltung annehmen und sie nicht zum Vorwand für gesellschaftliche Konfrontation im eigenen Land mißbrauchen. Eine solche Politik würde Stärken ausbauen und Schwächen beseitigen; sie würde dafür sorgen, daß Deutschland im globalen Wettbewerb ein festes, ein wetterfestes, ein stabiles Haus auf dem gemeinsamen europäischen Kontinent bleibt.
Eine solche Politik würde Globalisierung, die ja stattfindet und gegen die Opposition zu machen überhaupt keinen Sinn hat, nicht als Falle, nicht als Angriff auf Wohlstand und Gefahr für die Demokratie verstehen, sondern sie würde auf internationale Kooperation setzen und dafür sorgen, daß von Deutschland entsprechende Signale kommen.
Sie, Herr Bundeskanzler, Sie ganz persönlich haben im Juli 1994 bei dem Weltwirtschaftsgipfel einen Vorstoß unserer amerikanischen Freunde, die dabei übrigens von den Franzosen unterstützt wurden, zu-
Rudolf Scharping
rückgewiesen. Sie haben es abgelehnt, in den Welthandelsabkommen soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren. Sie haben das abgelehnt.
In anderen Ländern ist die Bereitschaft dazu da, und ich möchte wissen, wie die Bundesrepublik Deutschland jetzt in die neue Runde über die Welthandelsabkommen gehen will. In Rio große Reden schwingen, auf der Folgekonferenz in Berlin große Reden halten und dann nicht die Chance wahrnehmen, gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren und damit eine Möglichkeit der Kooperation zu nutzen, das ist unverantwortliche Politik.
Ein Kanzler mit einem zukunftsweisenden Realismus würde Deutschland fest in Europa verankern. Ich bestreite Ihnen Ihr aus meiner Sicht außerordentlich glaubwürdiges europäisches Engagement nicht. Aber, Herr Bundeskanzler, ich füge hinzu: Auch wenn das so ist, glauben Sie denn im Ernst, daß ein Europa, das nur für die Stabilität des Geldes, der Aktienkurse und der Währungen, nicht jedoch für die Stabilität der sozialen Beziehungen und der Beschäftigung zuständig ist, funktionieren kann und von den Menschen akzeptiert wird? Ich glaube es nicht. Solange Sie nicht anfangen, jedesmal offensiv zu widersprechen, wenn eine Entlassung in einem großen Industrieunternehmen zugleich zu einer Siegesfanfare an der Börse gemacht wird,
verletzen Sie die wirtschaftlichen Zukunftserfordernisse und den Anspruch Ihrer eigenen Politik.
Sie waren es, Herr Bundeskanzler, der in Florenz alle Initiativen zu einer gemeinsamen europäischen Beschäftigungspolitik blockiert hat.
Ich kann nur warnen: Verwechseln Sie nicht permanent das Ansehen, das Deutschland genießt, und den Respekt wegen seines großen wirtschaftlichen und politischen Gewichts mit persönlicher Wertschätzung. Manches ist auch der Tatsache geschuldet, daß dieses Land gebraucht wird. Viele beklagen, daß dieses Land unter Ihrer Führung nicht das Notwendige, nicht das Mögliche tut, um in Europa die Stabilität der Währung und des Geldes mit der Stabilität der sozialen Beziehungen zu verknüpfen und Beschäftigungspolitik zu betreiben.
Auch dadurch erhalten die aktuellen Entwicklungen ihren langfristigen Ort. Viele warnen vor den Gefahren; manche machen Gestaltungsvorschläge. Aber in Deutschland sinkt die Erwerbsquote, und die Arbeitslosigkeit steigt. Das Wachstum bleibt bescheiden, folglich das Wachstum bei den Arbeitsplätzen ebenso; es findet überhaupt nicht mehr statt. Die
Lohnquote in Deutschland ist dramatisch niedrig. Die Lohnstückkosten sind in Deutschland deshalb gestiegen, weil Sie aus der deutschen Einheit die finanziell und finanzpolitisch . falschen Schlüsse gezogen haben, mit dem Ergebnis, daß die D-Mark heute überbewertet ist und Arbeitsplätze ausgelagert werden. Das ist nicht eine Frage der Schwäche des Standorts oder der Unwilligkeit der Arbeitnehmer, sondern die ganz normale Folge der Markterschließung und der Tatsache, daß mit der Aufwertungsdynamik der D-Mark als Folge Ihrer Politik automatisch eine schwere Beschädigung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbunden ist.
Ich plädiere für das europäische Haus auch deshalb, weil es dabei nicht nur um betriebswirtschaftliche oder Konkurrenzerfordernisse geht, sondern weil zivilisatorische Modelle miteinander ringen. Wohlstand und soziale Sicherheit, Individualität und gegenseitige Verantwortung, Freiheit und gemeinsame Rücksichtnahme - das neu zu verbinden und stärker zu befestigen ist die Aufgabe deutscher Politik. Sie werden dieser Aufgabe nicht gerecht.
Ein weitsichtiger Kanzler würde helfen, daß es verläßliche Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Modernisierung gibt. Wir brauchen eine Regierung, die den Menschen Mut macht und verläßliche Rahmenbedingungen zur Modernisierung in Deutschland setzt, anstatt immer neue Gefahren für den sozialen Frieden heraufzubeschwören.
Wir brauchen eine Regierung, die endlich mit diesem würgenden und entwürdigenden Wettlauf um Ausbildungsplätze in jedem Jahr Schluß macht. Es ist eine Schande für ein reiches Industrieland, daß Regierung und Arbeitgeber immer nur mit Worten allerlei beschwören, anstatt endlich dafür zu sorgen, daß in den nächsten Jahren jeder junge Mensch garantiert einen Ausbildungsplatz erhält. Das brauchen wir für die Zukunft.
Ein weitsichtiger Kanzler hätte nicht diese Appelle, diese symbolischen Gesten - du, du, du; ich nehme euch nicht mehr im Flugzeug mit! - verwendet. Man macht sich doch als Kanzler einer reichen Industrienation lächerlich, wenn man nur solche symbolischen Gesten anwendet, anstatt dafür zu sorgen, daß im Handwerk und im Mittelstand die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Ausbildung gestärkt werden und daß die anderen, die sich heraushalten, wenigstens an der Finanzierung der Ausbildung beteiligt werden. Sie machen die Politik lächerlich, wenn Sie so fortfahren.
Rudolf Scharping
Diese Politik führt uns nicht in eine wirtschaftlich moderne Zukunft. Sie gefährdet eines der größten Potentiale, das Deutschland hat: die Qualifikation seiner Menschen, ihre Phantasie, ihr Verantwortungsbewußtsein. Das ist nicht ein quantitatives Problem nach dem Motto: Wir haben es mit Hängen und Würgen geschafft, jetzt auf nur noch 20 000 oder 50 000 zu kommen. - Es ist ja schon schlimm genug, wenn gesagt wird: Es sind „nur noch" 20 000 oder 50 000. - Nein, eine verantwortungsbewußte und weitsichtige Politik würde sagen: Es muß von vornherein in die Energie und in die Ausbildung der jungen Leute selbst investiert werden und nicht in den Wettlauf um einen Ausbildungsplatz.
Eine verantwortungsbewußte und weitsichtige Politik würde zur Kenntnis nehmen, daß Deutschland noch nie so viele gut ausgebildete Frauen hatte wie heute. Sie würde ihnen eine Chance geben. Sie würde dafür sorgen, daß Gleichberechtigung nicht nur als Postulat im Grundgesetz steht, sondern in der wirtschaftlichen Alltagsrealität erfahren wird.
Ein weitsichtiger Kanzler würde neue Technologien, Forschung und Entwicklung voranbringen und nicht einfach zusehen, wie sein Zukunftsminister - wie er sich manchmal so stolz nennen läßt - wunderschöne Reden hält
und gleichzeitig sein Finanzminister alles reduziert, was für die Zukunft Deutschlands auf innovatorischem Gebiet notwendig ist.
In Japan sitzen die Verantwortlichen zusammen und machen eine gemeinsame Perspektive: Japan nach 2000. In den USA sitzen sie mit den Unternehmen und mit vielen anderen zusammen und fragen: Wie sieht zivile Verantwortung, wie sieht Solidarität in einer globalen Wettbewerbsgesellschaft aus? Japan und die USA diskutieren solche Fragen, mittlerweile sogar auch Großbritannien.
Wer gelesen hat, was gestern und heute in den französischen Zeitungen über die Folgen der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik für den europäischen Zusammenhalt steht, wird nachdenklich werden und hinzufügen: Man kann im globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn man innovatorisch und technologisch eine Provinz bleibt. Und Sie machen Deutschland auf diesem Gebiet zu einer Provinz.
Der Bundespräsident sagt zu Recht: Die Zukunftsfähigkeit entsteht im Kopf. Herr Rüttgers sagt übrigens auch zu Recht: Wir stehen am Beginn eines Zeitalters des Wissens.
Sogar der Bundeskanzler sagt, daß Forschung, Technologie und Innovation immer mehr zu den entscheidenden Quellen für Wachstum und Arbeitsplätze von morgen werden. Ja, wenn das alles stimmt: Wie können Sie dann verantworten, daß Ihre Politik nicht der Modernisierung dient, sondern daß auf den wichtigsten Zukunftsfeldern zusammengestrichen wird? Wie wollen Sie das verantworten?
Ein weitsichtiger Kanzler würde die soziale und ökologische Modernisierung unseres Landes zum Leitbild der Entwicklung machen und sie nicht verkommen lassen zu einem Abfallprodukt betriebswirtschaftlicher Kalkulation.
Sie machen weder die soziale noch die ökologische Erneuerung unseres Landes zum Leitbild für die Zukunft.
Sie suggerieren, daß man unter dem Druck des weltweiten Wettbewerbs Wohlstand und soziale Sicherheit, Individualität und gegenseitige Verantwortung, Freiheit und gemeinsame Rücksichtnahme nicht mehr miteinander verknüpfen könnte. Sie suggerieren, daß wir den Sozialstaat abbauen müßten. Aber tatsächlich ist es doch so, daß Ihre Unfähigkeit bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Wurzel allen Übels ist.
Sie suggerieren, wir müßten billiger werden als die anderen, obwohl jeder weiß, daß wir besser bleiben müssen als die anderen. Noch sind wir wettbewerbsfähig. Für die Zukunft muß jedoch einiges getan werden. Dieser Haushalt aber, diese Politik, das, was Sie in den letzten Jahren gemacht haben, führt nur zu dem, was jüngst der „Spiegel" ausführlich beschrieben hat: Wir verlieren die Köpfe. Junge, risikobereite Menschen gehen ins Ausland. Allerdings werden wir weder die soziale noch die ökologische Modernisierung unseres Landes schaffen, wenn sich dieser Trend fortsetzt. Wir sind auf diese Qualität der Köpfe angewiesen, und es ist ein bedenkliches Zeichen, daß immer mehr ins Ausland gehen.
Deshalb würde ein mutiger Kanzler Recht und Ordnung auch in der Wirtschaft durchsetzen und nicht suggerieren: Immer weniger, immer weiter runter mit den sozialen Standards, immer mehr Vernachlässigung von diesem und jenem, insbesondere der ökologischen Modernisierung. Er würde, Herr Bundeskanzler, vielmehr sagen: Recht und Ordnung gel-
Rudolf Scharping
ten auch in der Wirtschaft. Wer Menschen ausbeutet - und nichts anderes sind die 590-Mark-Jobs -,
darf davon keinen Wettbewerbsvorteil haben!
Ich bin mal sehr gespannt, ob sich die Koalition wenigstens darauf verständigt, jenen einen Beitrag zur Rentenversicherung abzuverlangen, die eine normale Tätigkeit haben und gleichzeitig nebenbei noch einen solchen Job ausüben.
Ein mutiger Kanzler würde Recht und Ordnung auch durchsetzen beim Entsendegesetz, bei illegaler Beschäftigung, er würde es durchsetzen in der Arbeitswelt, in der Wirtschaft und gegenüber der wachsenden Bedrohung durch organisierte Kriminalität. Ein modernes Land muß auch die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger ganz ernst nehmen. Sie ist eine Parallele, die Wechselseite der Medaille zur Freiheit.
Aber das, was Sie uns vorgelegt haben zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, was Sie uns vorgelegt haben zur Korruption - erinnern Sie sich an die ganzen Debatten über Geldwäsche usw. -, ist alles halbherzig; es ist alles unbrauchbar, was Sie gemacht haben. Das Wachstum der Korruption und der organisierten Kriminalität bestätigt, daß Sie die Sicherheitserfordernisse der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr so ernst nehmen, wie es einem demokratischen Rechtsstaat gebührt.
Ein mutiger Kanzler würde sagen: Es geht so nicht weiter. Man kann Steuerhinterziehung nicht als ein Kavaliersdelikt behandeln, schon deshalb nicht, weil damit die demokratischen Institutionen geschädigt werden, vom Verfall der öffentlichen Moral gar nicht zu reden. Ein Staat, der einem Steuerschuldner, Steuerhinterzieher und Steuerflüchtling zweistellige Millionenbeträge erläßt - das ist ja in Deutschland geschehen -,
und die Politikerinnen und Politiker, die das verantworten, verlieren jedes moralische Recht, jede Glaubwürdigkeit, wenn sie bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das abkassieren wollen, was sie anderen hinterherwerfen. Es ist obszön, was Sie mit den Familien und dem Kindergeld im Verhältnis zur Vermögensteuer treiben.
Wir plädieren für Entlastung, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von Unsicherheiten, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von Bedrohungen im Alltag, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von immer neuen sozialen Ungewißheiten, für Entlastung von Steuern, Entlastung von Bürokratie.
Diese Debatte findet an einem Tag statt, an dem ein sogenannter Sozialexperte ankündigt, ja, da müsse halt in der Arbeitsmarktpolitik, da müsse da und dort eben weiter reduziert werden. - Könnten Sie denn nicht einmal auf die Idee kommen, daß Gemeinsinn und Gemeinwohl einen höheren Stellenwert haben als Egoismus? Muß eine sich christdemokratisch nennende Politik immer stärker den kühlen, nackten Egoismus, der sich vielerlei Rücksichtslosigkeiten ergibt, fördern, anstatt zur Schaffung von Gemeinsinn und Gemeinwohl einen fairen Lastenausgleich zu entwickeln? Müssen Sie sich dem Diktat der F.D.P. beugen, die nach der Methode handelt: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht? Müssen Sie sich dem wirklich beugen?
Offenkundig müssen Sie das ja; offenkundig wird das bei Ihnen zum Teil auch noch richtiggehend überhöht.
Ich habe mit großem Erstaunen - nicht im Sinne einer Überraschung, sondern einer Bestätigung für einen kaltherzigen Kurs - gelesen, was der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU jüngst im „Focus" gesagt hat: Bei den unteren Einkommensschichten sei alles gemacht; da gebe es überhaupt keinen Spielraum mehr. Das heißt doch auf gut deutsch: Die Entlastung muß woanders ansetzen. Wir sagen: Die Entlastung muß bei denen ansetzen, die mit ihrer Leistung, mit ihrer alltäglichen Arbeit, mit ihren Chancen und Möglichkeiten, mit ihrem Verantwortungsbewußtsein und ihrem Können als Arbeitnehmer, als Ingenieure, als Handwerker das Land am Laufen halten. Für sie muß Entlastung her, damit sich Arbeit und der Einsatz für unsere Zukunft lohnen.
Das ist der Grund, weshalb wir für eine Senkung der Lohnnebenkosten plädieren. Sie haben, systemwidrig und unvernünftig, die Finanzierung der deutschen Einheit zu einem ganz, ganz großen Teil in die Sozialversicherung verbannt. Jetzt versuchen Sie, den Menschen einzureden, der Sozialstaat sei zu teuer. Dazu sage ich: Nein, uns kommt Ihre Unfähigkeit zu teuer, nicht nur die, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern auch die, zu einer fairen Finanzierung des gemeinsamen Aufbaus in Deutschland beizutragen.
Das ist der Grund, weshalb wir für eine Entlastung bei den Arbeitseinkommen plädieren; das ist der Grund, weshalb die Lohnnebenkosten herunter müssen, und das ist der Grund für uns, einen fairen Lastenausgleich anzumahnen. Mittlerweile schreibt ja sogar die Zeitschrift „Capital" ausdrücklich: Es fehlt das Geld; der Konsum geht zurück, weil die Nettolöhne sinken. Inzwischen hat es- sich bis dort herumgesprochen; das ist gut so. Bei Ihnen hat es sich allerdings noch nicht herumgesprochen.
Rudolf Scharping
Ich bin ganz sicher, es wird auch schwer werden, Ihnen klarzumachen, was jeder in der Bevölkerung sofort versteht: Deutschland, das Land unter den Industriestaaten, das seine Arbeitsplätze, über die Arbeitnehmer und ihre Einkommen genauso wie über die Arbeitgeber und ihre Gewinne und Beiträge am stärksten belastet und seine Vermögen am geringsten, handelte schier widersinnig, wenn es in dieser Situation auch noch die Vermögensteuer abschaffen wollte. Das wäre ein schierer Widersinn.
Ein einziges Mal will ich mit einer Zahl argumentieren. Würden die Vermögen in Deutschland so besteuert wie in jenem Land, das man das Mutterland des Kapitalismus nennt, nämlich wie in den USA, dann hätten wir 50 Milliarden DM mehr in der öffentlichen Kasse. Die SPD allerdings sagt: Wir wollen diese 50 Milliarden DM nicht behalten; der Druck in Hinsicht auf Haushaltskonsolidierung und Ausgabendisziplin muß erhalten bleiben. Also, laßt uns einmal überlegen, ob wir nicht wie die Schweden, die Amerikaner, die Briten und andere den Beziehern besonders hoher Einkommen - nicht im Sinne von Neid, sondern im Sinne jener Aufforderung, die John F. Kennedy einmal so formuliert hat: Fragt nicht immer, was das Land für euch tun kann; tut etwas für das Land - einen solidarischen Beitrag abverlangen, so daß wir dann den Solidaritätszuschlag abschaffen und die Lohnnebenkosten senken können, damit Arbeitsplätze entstehen. Alle haben einen Vorteil davon, alle.
Sie sind zu einem fairen Lastenausgleich nicht in der Lage. Manche von Ihnen können nicht; manche von Ihnen wollen nicht. Die Leidtragenden sind die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Gemeinden, der Ort, an dem Demokratie am unmittelbarsten erfahren wird, an dem die Gestaltung des Alltagslebens stattfindet, an dem der kulturelle Reichtum unseres Landes gepflegt oder beschnitten wird, je nach Situation. Die Leidtragenden sind die Menschen im Osten Deutschlands, sind die Schwächeren in Deutschland. Ein Land aber, in dem es einen fairen Lastenausgleich gibt, würde, Herr Bundeskanzler, dafür sorgen, daß mehr Perspektive, mehr Hilfe, mehr Mut entstehen.
Es ist hochinteressant zu sehen: In Amerika gibt es, angestoßen von klugen Leuten, in den Unternehmen und in der Öffentlichkeit seit langem eine Diskussion über die gegenseitige Verantwortung. Die große Mehrzahl der amerikanischen Unternehmer sagt mittlerweile: Wir haben eine Verantwortung für die Produkte, ihre Qualität, die Gewinne, die Erträge; wir haben aber auch eine Verantwortung für die Arbeitsplätze und für die soziale Stabilität. In den USA gibt es eine Diskussion über den Kommunitarismus, gegenseitige Verantwortung. Sogar in Großbritannien gibt es sie mittlerweile, während Sie hier jeden Versuch, gemeinsame Verantwortung einzuklagen, denunzieren.
Sie sind unfähig, die Teilhabegesellschaft zu verwirklichen,
die Teilhabegesellschaft, die nicht nur auf den Ertrag des investierten Geldes schaut, sondern auch auf den Ertrag des investierten Könnens, der investierten Leistung, der investierten Arbeit, die Teilhabegesellschaft, die Eliten fördert, aber auch fordert, Arbeitnehmer am Produktivkapital beteiligt, Gleichberechtigung ernst nimmt, den Schwachen hilft. Das wäre eine Politik, die Deutschland zur Zeit vermißt, eine Politik, die der Demokratie inneren, nämlich sozialen, Halt geben würde, eine Politik, die Jüngeren Mut machen würde, Engagement und Begeisterung wecken könnte, weil sie eine Perspektive für die Zukunft eröffnen würde, eine Politik, die Gerechtigkeit verwirklichen könnte, anstatt das Ringen um Gerechtigkeit abzutun mit dem Hinweis darauf, das gehe betriebswirtschaftlich nun mal nicht mehr.
Meine Damen und Herren, ich weiß, manchmal kommt man in die Gefahr, sich wie Sisyphos zu bewegen, jener Mann, den Homer den Klügsten unter den Menschen genannt hat, keinen Philosophen, aber auch keinen Trickser. Man erzählt sich, daß es Sisyphos gelungen sei, den Tod zu fesseln, daß dieser sich aber befreit habe. Sisyphos habe ihn ein zweites Mal fesseln können - unter der Bedingung, daß er, von Zeus auferlegt, den Stein immer den Berg habe hinaufrollen müssen.
Nur dann sei Frieden zwischen den Menschen und zwischen den Völkern zu sichern.
Mag sein, daß angesichts der Sturheit, die sich als Prinzipientreue tarnt und angesichts der Ignoranz Ihrer Politik das Anargumentieren gegen Ihre Politik und für eine bessere Perspektive unseres Landes manchmal den Charakter einer Sisyphosarbeit annimmt. Aber, Herr Bundeskanzler, anstatt mit einer in Teilen ja verständlichen, selbstzufriedenen Attitüde dem Tag entgegenzusehen, an dem Sie Konrad Adenauer in bezug auf die Amtsdauer als Bundeskanzler überholen, sollten Sie den Lebensstandort Deutschland wieder ernster nehmen:
für die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen, für die abhängig Beschäftigten und für die Selbständigen, für die Frauen und für die Männer, für die Ostdeutschen und für die Westdeutschen, für die Jungen und für die Alten. Deutschland braucht eine mutige, realistische Politik, zielbewußt und leidenschaftlich.
Alles das ist Ihre Politik nicht mehr.
Rudolf Scharping
Wir aber werden so sein: mutig, realistisch, zielbewußt und leidenschaftlich.
So sind wir als Opposition, und so wollen wir auch nach 1998 Deutschland regieren.