Rede von
Prof. Dr.
Martin
Pfaff
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich habe die Frage doch eindeutig beantwortet.
- Herr Möllemann, ich schlage vor, daß ich diesen Dialog mit Ihnen in einem Privatissimum fortsetze; denn dann gibt es offensichtlich größere Chancen, die Botschaft rüberzubringen, als in einem solchen öffentlichen Dialog.
Sie wollen den Kassenanteil bei Brillengestellen streichen, und das soll die große finanzpolitische Stabilisierung der öffentlichen Haushalte bringen. Sie wollen Leistungskürzungen bei stationären Kuren. Darüber könnten wir diskutieren. Aber ich kann nicht erkennen, warum, wenn in einem Fall eine drei- oder vierwöchige Kur medizinisch erforderlich ist und in einem anderen Fall nur eine zweiwöchige Kur, alle über einen Kamm geschoren werden sollen. Sie haben eine Rasenmähermethode vorgeschlagen, die dem gesundheitlichen Bedarf nicht gerecht wird.
Das alles heißt doch: weniger Solidarität. Das Kürzungspaket nagt am sozialen, am gesellschaftlichen Kontrakt.
Ich könnte das alles verstehen, wenn das Ihre Ziele wirklich realisieren würde, wenn Sie sagen würden: Ja, in einer Situation finanzieller Krisen ist uns ein Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Aber kein einziger von Ihnen glaubt, daß damit die Haushalte der Institutionen der sozialen
Dr. Martin Pfaff
Sicherung oder gar die öffentlichen Haushalte stabilisiert werden. Es müßte doch wohl der letzte der Naiven sein, der das annimmt. Das ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.
Zweitens. Wenn es wirklich so wäre, Herr Möllemann und andere, daß es zwei Systeme gäbe - das eine ist hart, konkurrierend, produktiv, innovativ, aber ungerecht in der Verteilung, das andere weich, sozial, schwammig, aber verteilungsgerecht -, dann könnte man politisch darüber diskutieren, ob man das erste oder das zweite will. Was ich will, das weiß ich. Tatsache ist, daß weltweit Systeme der sozialen Sicherung, die solidarisch finanziert werden, nicht nur verteilungsgerechter, sondern sogar kosteneffektiver sind. Das ist doch die Ironie. Dies ist eine Diskussion für Doofe. Dies ist keine rational begründbare Diskussion.
Ja, der Sozialstaat muß weiterentwickelt werden, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändern. Aber Sozialabbau heißt nicht Weiterentwicklung.
Diese ganze Diskussion ist auch volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Ich kann es auf den Punkt bringen: In Zeiten stagnierender Binnennachfrage Kaufkraft auch in diesem Bereich abzuschöpfen ist - das muß doch jedem klar sein - Gift für die Konjunktur, führt zu mehr und nicht zu weniger Arbeitslosigkeit, zu weniger und nicht zu mehr Beschäftigung.
Bei einer internationalen Tagung in Washington, nicht von der Wissenschaft ausgerichtet, sondern von einer bekannten deutschen, international agierenden Automobilfirma, wurde ich voller Neid von Vertretern der Ford Motor Company angesprochen, die mir auf Dollar und Cent vorrechneten, wie hoch die Gesundheitskosten pro Ford-Auto sind, und sagten: Wären wir doch in Deutschland, dann wären wir wettbewerbsfähiger. - Das darf ich hier auch zur Diskussion stellen, und ich fordere Sie auf, endlich dieses unselige Gerede, das Herunterreden des Standortes Deutschland zu beenden.
Was die Lohnstückkosten angeht, möchte ich nicht groß in die Details einsteigen. Sie sind in den anderen Industrienationen in den letzten zwei Jahrzehnten um das Fünffache, bei uns um das 2,5fache gestiegen. Die Zuwachsraten in anderen Bereichen und die Belastungen der Haushalte und der Unternehmen wären ein Thema für sich.
Das Problem ist aber, daß dieses Paket letztlich keine finanzielle Konsolidierung bringt, weder in den Systemen der sozialen Sicherung noch in den öffentlichen Haushalten. Schon in der zweiten Vorlesung Volkswirtschaftslehre bringen wir unseren Studenten bei, daß die Volkswirtschaft ein Kreislauf ist, daß man nicht hier etwas an Kaufkraft abzapfen und dann erwarten darf, daß die Nachfrage in anderen Teilen der Volkswirtschaft nicht entsprechend sinkt, daß nicht die Beschäftigung beeinflußt wird.
Deshalb muß dieses sogenannte Sparpaket wieder versagen. Jeder kann heute schon sagen: Die Konsolidierungsziele dieses Pakets werden sicher nicht erreicht werden. In einigen Monaten werden wir uns wiederum darüber zu unterhalten haben, was zu tun ist. Dies ist kein Weg zur finanziellen Steuerung; dies ist der Weg des Sozialabbaus.
Auch daß dieses Paket sozialpolitisch unsinnig ist, sollte klar sein. Denn mit der genialen Einfachheit des Umlageverfahrens sind unsere Systeme der sozialen Sicherung so konstruiert, daß in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit die Leistungen erhöht werden, wodurch ein kontrazyklischer Stabilisierungsfaktor, ein Gegendruck entsteht. Jetzt, wo wir finanzielle Engpässe aus Gründen haben, die ich nicht wiederholen muß, zu sagen: „Jetzt bauen wir den Sozialstaat ab; jetzt kürzen wir Leistungen", ist ungefähr so intelligent wie das Handeln eines Mannes, der weiß, daß er mit seinem Auto in ein Urlaubsland mit schlechten Straßen fährt, und an der Grenze die Stoßdämpfer ausbaut, um sie nicht zu beschädigen. Das ist das Niveau der Intelligenz einer solchen Politik.
Gesundheitspolitisch ist dies ein deutlicher Rückschritt, weil die Strukturelemente, die im Gesundheitsstrukturgesetz enthalten sind, wieder ausgehebelt werden. Wir mußten leider wieder erleben, daß die Konzeption von Lahnstein nicht durch Zufall, nicht durch andere Faktoren, sondern bewußt von Ihnen und Ihrer Regierungskoalition ausgehebelt wurde.
Da wundern Sie sich, daß jetzt die Ausgabendynamik im Gesundheitswesen die altbekannte Form annimmt. Erste Phase: Ein Gesetz wird diskutiert - Ankündigungseffekt; die Kosten steigen, die Beiträge steigen. Zweite Phase: Das Gesetz wird umgesetzt -Stabilisierung, weil dieselben Dinge nicht mehr in Anspruch genommen werden, dieselben Kosten nicht mehr verursacht werden. Dritte Phase: Es geht wieder locker weiter.
Genau aus diesem Dilemma, aus diesem Zyklus wollten wir heraus. Was aber haben Sie, Herr Bundesminister, getan? Sie haben zunächst einmal die Positivliste nicht umgesetzt, die erste Bremse an einem Rad abgebaut. Sie haben als nächstes die Bundespflegesatzverordnung so umgesetzt, daß die Ziele der Ausgabensteuerung im Krankenhaus nicht erreicht werden konnten - zweite Bremse abgebaut. Sie haben drittens auch in anderen Bereichen - ICD- 9 und -10 - die Transparenz ausgesetzt. Ich könnte die Liste fortsetzen.
Und jetzt wundern Sie sich, daß die alte Lokomotive der Ausgabendynamik wieder so fährt wie vorher. Das ist von Ihnen ganz persönlich und von Ihrer Regierungskoalition zu verantworten.
Das ist nicht das Produkt bünder Mächte, das ist nicht das Produkt unausweichlicher Entwicklungen, das ist nicht das Produkt der Demographie, der wirtschaftlichen Entwicklung. Das ist die logische Konse-
Dr. Martin Pfaff
quenz der Maßnahmen, die Sie selber zu verantworten haben.