Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, unsere Debatte in den Zusammenhang zu stellen, in den sie meiner Meinung nach gehört, in einen Zusammenhang, der mit dem Thema Globalisierung der Märkte und den damit verbundenen Folgen in der heutigen Debatte bereits eine Rolle gespielt hat.
Ich beziehe mich auf das, was der Kollege Dreßler gesagt hat. Es ist so, daß wir Zeitzeugen größter Umbrüche sind. Wir haben über die Veränderungen in diesem Hause schon des öfteren diskutiert. Die Probleme, die mit dem Computer, dem Internet und der Halbwertszeit des Wissens - sie beträgt fünf Jahre -zusammenhängen, können wir heute nicht so beantworten wie in den 70er Jahren, als Herbert Ehrenberg eine große Rolle gespielt hat. Die Welt hat sich vollkommen verändert.
Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert. Vor 100 oder 150 Jahren haben die Elektrizität und die Dampfmaschine solche Veränderungen mit sich gebracht. Das Problem besteht darin, daß wir infolge der Rationalisierung Jahr für Jahr ein immer größer werdendes Bruttosozialprodukt haben. Seit 10, 15 Jahren steigt das Bruttosozialprodukt. Der Unterschied zu früher besteht darin, daß das immer größer werdende Bruttosozialprodukt mit einem immer geringeren Arbeits- und Zeitaufwand erarbeitet werden kann.
Jetzt komme ich wieder auf die Umbruchsituation zurück. Der Eiserne Vorhang ist verschwunden, und die Nachfrage nach Arbeitsplätzen hat zugenommen, obwohl die Notwendigkeit, Arbeit aufzuwenden, um ein immer größeres Bruttosozialprodukt zu erarbeiten, geringer geworden ist. Wir müssen uns diesen Problemen stellen. Sie haben darauf keine Antwort gegeben.
Das sind die modernen Entwicklungen, und wir haben in Deutschland dadurch eine Sondersituation, daß der Eiserne Vorhang weggebrochen ist. Die Sowjetunion ist von der Weltkarte verschwunden. Wir sind ein vereintes Deutschland. Wir haben die Folgen dieser Umbrüche als Volk mitten in Europa in besonderer Weise zu tragen: Zwei Millionen Ausländer, eine Million Flüchtlinge. Diese Menschen haben zum großen Teil bei uns Arbeit gefunden, und dazu bekenne ich mich. Das ist aber doch eine andere Situation.
Wir hätten diese Situation nicht gehabt, wenn wir nicht auch die Folgen dieser Umbrüche tragen müßten. Wir können das als reiches Land. Sonst müßten wir diese Diskussionen gar nicht führen. Wenn Sie aber zu diesem Thema etwas Seriöses sagen wollen, dann müssen sie Ihre Debatte in den Gesamtzusammenhang stellen.
Ich will jetzt etwas zugunsten der Regierung sagen. Wir haben gewaltige Anstrengungen auch gegenüber Osteuropa unternommen. Bedenken Sie, was wir leisten mußten, um die durch den Sozialismus zerrütteten neuen Bundesländer wieder aufzubauen. Wir haben pro Jahr 120 bis 150 Milliarden DM aufgebracht. Das haben wir geleistet. Die Welt sagt: Das habt ihr gut und richtig gemacht, wir hätten es vielleicht gar nicht geschafft. - Wir haben das alles bei Preisstabilität und einer knallharten Währung geschafft.
Das ist ein Erfolg, den man nicht einfach wegwischen kann.
Sie reden immer von der Kindergelderhöhung, die um ein Jahr verschoben wird. Das ist keine große Freude, das weiß auch ich, aber ich muß noch einmal sagen: Die Tränen, die Sie in diesem Zusammenhang vergießen, können mich nicht rühren. Als Sie die Regierungsverantwortung getragen haben, haben Sie eine Kindergelderhöhung um 20 DM nicht um ein Jahr verschoben, sondern Sie haben den Leuten 20 DM weggenommen. Sie haben das Kindergeld gekürzt. Das war Ihre damalige Entscheidung, und zwar in einer ganz anderen Zeit.
Damals hatten wir - für die Lebenshaltung eines Kindes - eine Inflationsrate von 7 Prozent; heute haben wir Preisstabilität. Infolgedessen kann man, wenn auch schwer, eine Verschiebung um ein Jahr -es wird nicht gestrichen, sondern es wird um ein Jahr verschoben - sozialpolitisch verantworten.
Lassen wir also die Kirche im Dorf, und konzentrieren wir uns auf die eigentliche Situation! Wir haben eine Internationalisierung des Kapitals und auch des
Dr. Heiner Geißler
Wissens. Auf diese Situation kann man nicht antworten, wie wenn wir uns noch in den 70er Jahren befänden. Vielmehr werden wir eine Lösung nur erreichen, wenn wir im zweit- oder drittgrößten Industrieland der Welt und in der zweitgrößten Exportnation uns als reformfähig erweisen. Man kann, wenn die Verhältnisse sich vollkommen ändern, das System natürlich grundsätzlich erhalten; aber man muß in den Einzelheiten reformfähig bleiben. Das gilt auch für die Kostenstrukturen.
Im übrigen sind wir nicht die einzigen, die das genauso sehen. Wenn ich Ihre Debatte über die Wirtschaftspolitik gestern richtig verfolgt habe, dann hat Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Gerhard Schröder, gesagt, wir müßten die sozialen Leistungen in Deutschland den Realitäten der schmaleren Staatsfinanzen anpassen. Zwar müsse der Sozialstaat als sogenanntes Teilhabemodell - was immer das sein mag; das weiß ich nicht so richtig - zur Unterstützung der Bedürftigen erhalten werden - „Unterstützung der Bedürftigen", das sollte einmal einer von uns sagen
doch sollte diese Teilhabe „immer wieder neu festgesetzt werden" - eine komische sozialpolitische Perspektive. Aber jetzt kommt noch etwas ganz anderes: Er kritisierte in diesem Zusammenhang - das ist der Eindruck, den ich auch heute wieder von Ihnen gewonnen habe - die Zugewinnmentalität von Gewerkschaften und Teilen seiner Partei.
„Man kann nicht immer nur draufsatteln", so gestern Gerhard Schröder.
Wir sagen nicht einmal, daß wir Ihnen das vorwerfen würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Situation ist doch so: Wir sind die zweitgrößte Exportnation der Welt, nach den Vereinigten Staaten, vor Japan. Export von Produkten, Waren, Dienstleistungen bedeutet gleichzeitig Import von Arbeitsplätzen. Wir haben eine Globalisierung der Märkte. Wir müssen diesen Export in einer veränderten Situation erhalten. Das war gestern Ihr Thema. Dazu hat heute auch Herr Rexrodt, den ich für die Fraktion, aber auch persönlich sehr herzlich wieder in unserer Mitte begrüße - wir freuen uns, daß Sie wieder gesund sind; das haben Sie auch durch Ihre Rede gezeigt -,
Stellung genommen. Oskar Lafontaine hat gesagt, wir sollten wegen der Globalisierung der Märkte in keinen Wettlauf im Sozialdumping eintreten; wir sollten das international verhindern. Das ist keine ganz falsche Beurteilung.
Ich fühle mich in der jetzigen Situation manchmal an das erinnert, was vor 150 Jahren stattgefunden
hat, als die damals Verantwortlichen die alte soziale Frage auch nicht richtig verstanden haben. Leo XIII. hat 1891 die Enzyklika „Rerum novarum" als Antwort der katholischen Kirche auf diese alte soziale Frage geschrieben. Aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir, soweit wir Katholiken sind, sagen: Diese Antwort kam 43 Jahre zu spät; denn zwei andere hatten 1848 eine „Enzyklika" geschrieben, das Kommunistische Manifest als eine falsche Antwort auf eine richtig gestellte Frage. Weil die damals Verantwortlichen die alte soziale Frage im Ansatz nicht begriffen hatten, hat es 140 Jahre gedauert, bis die letzten Fetzen dieses Gespenstes verschwunden waren; einiges geistert leider Gottes immer noch herum, sogar im Deutschen Bundestag, wie wir gerade gehört haben.
Wir sollten die alten Fehler nicht wiederholen. Deswegen ist die Bekämpfung der Armut eine Aufgabe, und zwar eine internationale Aufgabe, auch eine Aufgabe der G-7-Staaten. Das ist auch meine Meinung. Aber eine Internationalisierung der sozialen Standards, um den Kostendruck auf die eigene Wirtschaft zu vermindern, ist eine Vorstellung, die Sie auf jeden Fall nicht einmal mittelfristig realisieren können.
Sie müssen Ihren Widerspruch in diesem Punkt einmal aufklären. Sie sagen auf der einen Seite: Wir müssen diese Standardisierung mittelfristig anstreben. Einige sagen: Das muß sogar sofort geschehen. Aber Standardisierung heißt doch auf jeden Fall, daß nicht unser hoher Sozialstandard von allen anderen Wirtschafts- und Industrienationen, die es auf der Welt gibt, übernommen werden kann. Das ist nicht einmal hier in Europa möglich.
Wenn Sie Ihre eigene Forderung ernst nehmen, daß der Globalisierung der Märkte auch eine Globalisierung der Sozialstandards entsprechen muß, dann bedeutet das doch in jedem Fall, daß unser Sozialstandard nicht noch einmal erhöht werden kann. Er muß vielmehr, so Ihre eigene Vorstellung, abgesenkt werden, in welcher Größenordnung auch immer.
Jetzt stelle ich mir einmal vor, in welche Diskussionen Sie da geraten: Wir legen ein Sparprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden DM auf. Das bedeutet eine Senkung des Sozialbudgets um 0,4 Prozent. Dieses geht nämlich von 33,4 auf 33,0 Prozent des Gesamthaushalts zurück. Kürzung des Sozialbudgets um 0,4 Prozent, davon 25 Milliarden DM in der Sozialversicherung - bei einem Gesamtvolumen der Sozialleistungen in Höhe von 1,2 Billionen DM.
Wie wollen Sie Ihre eigene Forderung - Internationalisierung der Sozialstandards, was notwendigerweise mit einer Absenkung unserer eigenen Standards verbunden ist - ernst nehmen, sie in Ihren eigenen Reihen durchsetzen und vor sich selber rechtfertigen, wenn Sie bei einer Kürzung des Sozialbud-
Dr. Heiner Geißler
gets um 0,4 Prozent solche Reden halten wie die, die wir von Ihnen, Herr Dreßler, heute gehört haben?
Sie sind ja noch nicht einmal jetzt in der Lage, entsprechende Vorschläge zu machen. Sie sagen zwar, Sie hätten alles mögliche vorgelegt. Sie beklagen sich darüber, daß man mit Ihnen nicht redet. Aber ich kann das nicht nachvollziehen. Man kann ja nur dann miteinander reden, wenn Vorschläge existieren.
Sie haben bisher keinen Sparvorschlag gemacht. Mir ist kein ernsthafter Vorschlag bekannt. Es hieß von Ihnen im Juni und im Juli: Nach der Sommerpause werden wir welche vorlegen. - Am Montag oder Dienstag soll ja vielleicht auch etwas kommen. Nun ist die Sommerpause vorbei, und wir haben Ende August. Sie müssen damit nun einmal rüberkommen. Wie lange wollen Sie eigentlich warten? Wir sind doch nicht in Afrika; in Afrika ist immer August.
Wir müssen von Ihnen endlich einmal hören, was Sie für richtig halten.
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn es um die Absenkung dieser Standards geht, dann heißt das ja nicht, daß wir auf portugiesisches Niveau gehen müssen. Ich habe es in der letzten Debatte dargelegt und möchte wiederholen, was Alex Trotman, der Sprecher von Ford, gesagt hat: Die Kosten einer Arbeiterstunde bei der Herstellung des Fiesta in Köln betragen 60 DM, in Dagenham, wo ebenfalls 140 000 Ford Fiesta gefertigt werden, liegen sie bei 31 DM, in Spanien bei 30 DM. - Aber er hat hinzugefügt: Die Kölner Autowerke benötigen 22, die englischen 27 und die Spanier sogar 29 Stunden, um das Auto herzustellen. Wir haben in Deutschland eine höhere Produktivität als dort. Auch diese muß natürlich erhalten bleiben.
Sie können darüber reden, soviel Sie wollen, wir wollen - das haben wir hier schon siebenmal gesagt, ich sage es jetzt ein achtes Mal - in Deutschland weder englische noch amerikanische Verhältnisse.
Mit dem Beschäftigungspaket, das wir hier verabschieden wollen, bekommen wir sie auch nicht. Wer so etwas behauptet, kennt sich weder in England noch in den Vereinigten Staaten aus. Das ist eine ganz andere Situation.
In England ist inzwischen jeder zweite Arbeitnehmer ein Gelegenheitsarbeiter. Und auf die veröffentlichte Arbeitslosenquote in Amerika können Sie pfeifen; sie wird demoskopisch ermittelt, per Umfrage bei 50 000 Arbeitnehmern. Die Realität sieht ganz anders aus.
Wir wollen nicht Millionen von Menschen ausgrenzen. Ich verbitte es mir, daß mir als langjährigem
Sozialpolitiker angesichts der Tatsache, daß das Sozialbudget um 0,4 Prozent gekürzt wird, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, vorgeworfen wird, wir machten den Sozialstaat platt. Das ist eine Unverschämtheit. Das ist nicht der Fall.
Herr Dreßler hat gefragt, wo bei diesem Programm die Arbeitsplätze herkommen sollen. Im übrigen sage ich noch einmal, auch für die eigenen Reihen: Es ist kein Sparprogramm. Wir sparen nicht um des Sparens willen. Man kann den Leuten die Vernunft nicht mit dem Finanzknüppel einbleuen. Wir sparen vielmehr, weil es einen Sinn hat. Wir wollen mit diesem Sparen mehr Beschäftigung erreichen.
Die Selbständigenquote - um nur ein Beispiel zu nennen - hat eine Größenordnung von 7,9 Prozent. In den Betrieben mit einer Belegschaft von unter 500 Beschäftigten arbeiten zwei Drittel aller Arbeitnehmer, in den Großbetrieben nur 35 Prozent, und um diese geht es. Zwei Drittel aller Lehrlinge und Gesellen, die in den Handwerksbetrieben ausgebildet worden sind, wollen sich nicht selbständig machen. 95 Prozent aller Fachhochschul- und Universitätsabsolventen wollen sich ebenfalls nicht selbständig machen. Da sind die Amerikaner besser.
Ich frage Sie einmal: Warum? Das hat etwas mit den Startchancen zu tun. Ich habe mit jungen Leuten geredet, die sich selbständig machen wollten. Sie haben das Problem, daß ein kleiner oder mittlerer Betrieb vor allem am Anfang Schwierigkeiten hat. Sie haben Angst davor, daß sie, wenn sie den sechsten oder siebten Arbeitnehmer einstellen und die Geschäfte nicht mehr so gut laufen, bei Entlassungen in Arbeitsgerichtsprozesse verwickelt werden und hohe Abfindungen zahlen müssen. Auch die Kostenlage ist zu nennen. Das haben wir alles miteinander erörtert. Das ist eine neue Situation.
Wenn der Zentralverband des Deutschen Handwerks sagt, daß ein Viertel der Handwerksbetriebe zugesagt hat, neue Leute einzustellen, dann sind das schon einmal 300 000, 400 000 neue Arbeitsplätze. Bernhard Jagoda sagt, daß bei den Familienarbeitsverhältnissen 800 000 bis 900 000 Arbeitsplätze möglich sind. Auch wenn es nur die Hälfte ist, ist es schon ein Fortschritt.
Wir wollen versuchen, vor allem bei den kleinen und mittleren Betrieben mehr Arbeitsplätze zu ermöglichen. Wir können keine Arbeitsplätze schaffen; aber wir wollen es denjenigen, die dazu in der Lage sind, erleichtern. Das ist der Sinn dieses Beschäftigungspaketes.
Sie können sich natürlich darüber beklagen - möglicherweise perspektivisch bis ins nächste Jahr hinein -, daß die Sozialversicherungsbeiträge weiter ansteigen. Sie steigen aber nur dann an, wenn dieses Beschäftigungspaket verhindert wird. Dies tun Sie. Sie haben das Beschäftigungspaket gestern abgelehnt. Damit haben Sie den Arbeitslosen einen schlechten Dienst erwiesen.