Rede von
Andrea
Lederer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß das Instrument der Sondersitzung in diesem Deutschen Bundestag inzwischen mißbraucht wird.
Wir haben in dieser Sommerpause zwei Sondersitzungen gehabt, die vorher schon geplant waren. Die eine Sondersitzung fand mit ziemlich hohen Kosten statt, weil die Koalitionsregierung nicht in der Lage war, Gesetze richtig zu formulieren. Die zweite Sondersitzung findet aus reinen Termingründen statt, weil Sie befürchten, daß der Sozialabbau ansonsten zu spät kommt. Es ist einfach nicht zu akzeptieren, dafür weitere Staatsgelder zu vergeuden.
Dr. Gregor Gysi
Herr Bundesminister Blüm, Sie haben vorhin sehr einfühlsam Beispiele aus anderen Ländern genannt und darauf hingewiesen, daß dort ein viel drastischer Abbau stattfindet, den Sie Umbau nennen - dazu komme ich noch -, und daß die Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen im internationalen Vergleich besonders vorsichtig operiert und sich den internationalen Bedingungen nur schrittweise annähert. Ich frage mich allerdings, warum Sie dann nicht zum UNO-Report Stellung nehmen, der in Bonn am 15. Juli veröffentlicht worden ist. Die UNO ist bestimmt nicht PDS-nah und insofern unverdächtig, uns in irgendeiner Hinsicht zuzuarbeiten. In diesem UNO-Report heißt es, daß die Kluft zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern nicht etwa Schritt für Schritt schrumpft, sondern permanent und ganz deutlich wächst und daß sich die Einkommensunterschiede in den letzten Jahren sogar verdoppelt haben. Es wird dann ein Beispiel genannt. Ich finde diese Zahl so phantastisch und bestürzend, daß ich sie hier erwähnen muß. Nach diesem UNO-Bericht besitzen 358 Dollar-Milliardäre genausoviel Eigentum und Vermögen wie 45 Prozent der Weltbevölkerung, das heißt wie 2,2 Milliarden Menschen. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es gibt etwa so viele Dollar-Milliardäre auf der Welt wie Mitglieder der Bundestagsfraktion der CDU/CSU. Sie besitzen genausoviel wie die Hälfte der Menschheit. Wenn es vorher keinen Grund gegeben hätte, antikapitalistisch zu sein, so finde ich, daß dies ein in jeder Hinsicht ausreichender ist.
- Wir sind erst 30. Sie wissen, wir arbeiten noch an der Verzwölffachung. Wir sind auf dem besten Wege dahin, auch dank der F.D.P.-Politik.
Ich will noch auf etwas anderes hinaus. In diesem UNO-Bericht ist nämlich auch festgestellt worden, daß die Kluft zwischen Reich und Arm auch in den Industriestaaten selbst wächst. Jetzt kommt der internationale Vergleich, den Sie, Herr Bundesminister Blüm, hätten erwähnen sollen, weil er nämlich unmittelbar Ihr Ressort betrifft. Da gibt es in der UNO einen Index für menschliche Entwicklung, in dem drei Faktoren für die Bewertung zusammengezogen werden, nämlich die Lebenserwartung der Menschen, die Büdungschancen und die Kaufkraft der Individuen. Die Bundesrepublik Deutschland befand sich 1994 auf Platz 9. Jetzt hegen wir auf Platz 18. Das heißt, es ist innerhalb eines Jahres gelungen, die Lebensqualitäten in der Bundesrepublik Deutschland so zu verschlechtern, daß sie im Niveau hinter Spanien und andere Länder zurückgefallen sind. Das ist die Realität im internationalen Vergleich. Sie sagen aber kein Wort dazu, daß der Sozialabbau schon so weit forciert ist, daß wir jetzt den 18. Platz einnehmen.
Dann sprechen Sie davon, daß es keine Armut gibt. Warum beschäftigen Sie sich nicht mit diesen Schicksalen? Bedeuten 150 000 Obdachlose, darun-
ter eine Vielzahl von Kindern, keine Armut? Sind 1 Million Menschen in Notunterkünften nicht Ausdruck von Armut? Sind 2,3 Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die ständig nur von diesem Zuschuß leben, nicht Ausdruck von Armut? Wer in diesem Hause hat denn schon einmal versucht, von dieser Sozialhilfe zu leben? Dann wüßte er, was Armut in dieser Gesellschaft bedeutet.
Hinzu kommen noch Millionen Menschen, die Sozialhilfe, obwohl sie darauf Anspruch hätten, gar nicht beantragen, und zwar entweder weil sie nicht wissen, daß sie sie zu beanspruchen haben, oder weil ihnen der ganze Vorgang zu bürokratisch und zu demütigend organisiert ist. Ich behaupte, Sie haben das absichtlich so bürokratisch und demütigend organisiert, damit viele diese Ansprüche, die ihnen zustehen, gar nicht erst geltend machen. Dann kommen noch die vier bis sechs Millionen Arbeitslosen dazu. So ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die tief gespalten ist und die von Ihnen immer weiter gespalten wird. Sie sprechen davon, daß die Kassen immer leerer, daß die Mittel immer begrenzter werden und daß deshalb die Möglichkeiten, zu verteilen, durch objektive Zwänge nicht mehr vorhanden sind. Aber das ist doch nicht die Realität.
Das Geldvermögen ist im letzten Jahr in der Bundesrepublik um 8 Prozent gestiegen. Wir haben jetzt ein Geldvermögen in der Bundesrepublik von 4,6 Billionen DM. Aber das Interessante ist: Von diesen 4,6 Billionen DM besitzen 1,3 Prozent der Haushalte ein Viertel. Das heißt: 1,3 Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland verfügen über mehr als 1 000 Milliarden DM Geldvermögen. Wer nicht bereit ist, an dieses Vermögen heranzugehen, wer nicht bereit ist, eine Umverteilung von oben nach unten zu organisieren, der soll mir nicht mit sozialer Gerechtigkeit kommen, der soll mir nicht mit Geldknappheit kommen, der soll auch nicht ernsthaft behaupten, daß er in dieser Gesellschaft etwas gegen Arbeitslosigkeit unternimmt.
- Wenn Sie das Vermögen der Vorgängerpartei, aus der ich komme, richtig verwaltet hätten, anstatt damit über Jahre nur eine unfähige Kommission und eine noch unfähigere Treuhandanstalt zu finanzieren, dann wäre das inzwischen schon sehr sinnvoll in den neuen Bundesländern verwendet worden.
In der Zeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl wurde eine ganz bestimmte Politik betrieben. Es gibt Zahlen, die lassen sich einfach nicht leugnen. Eine dieser Zahlen lautet, daß von 1983 bis 1990 - die letzten sechs Jahre sind also noch gar nicht berücksichtigt, weil Sie nämlich aus nachvollziehbaren Gründen keine Statistik mehr veröffentlichen - die Zahl der Haushalte, die jährlich ein Einkommen von 250 000 DM oder mehr zu versteuern haben, um 116 Prozent gestiegen ist. Das heißt, die Zahl dieser Haushalte hat sich allein in dieser Periode mehr als verdoppelt.
Dr. Gregor Gysi
Sie können nicht bestreiten, daß die Reichen in der Zeit Ihrer Regierung immer reicher und die Armen immer ärmer geworden sind. Wenn dieser Prozeß nicht umgekehrt wird, dann wird es mit dem Sozialabbau so weitergehen. Dann sind aber Ihre angeblichen Sachargumente überhaupt nicht überzeugend.
Was mich übrigens in diesem Zusammenhang besonders traurig macht - auch das will ich einmal sagen -, ist der Umstand, daß ich von vielen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und anderen höre, daß, solange es die DDR gab, ein solcher Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland völlig undenkbar gewesen wäre, weil es auch einen sozialen Wettbewerb gab,
und daß erst mit dem Wegfall der DDR und des real existierenden Sozialismus in Osteuropa der Weg zum Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland geöffnet wurde. Das heißt, daß die DDR ihre besten Wirkungen in der Bundesrepublik hatte.
Das letzte, was ich gewollt hätte, wäre, daß mit ihrem Untergang hier der Sozialabbau gerechtfertigt wird. Anstatt die Vereinigung als Chance zu nehmen, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, haben Sie sie als Chance begriffen, die Sozialleistungen und den Sozialstaatskompromiß in der Bundesrepublik Deutschland aufzukündigen.
- Wenn Sie dies alles bestreiten, dann nennen Sie mir doch eine einzige gesetzliche Bestimmung aus Ihrem gesamten Paket, die Sie oder mich betrifft, eine einzige Bestimmung, die Menschen betrifft, die soviel wie wir oder noch mehr verdienen. Die wirklich Vermögenden und die Reichen haben nach Inkrafttreten Ihres Sparpakets nicht eine Mark weniger. Sie haben durch Streichung der Vermögensteuer im nächsten Jahr sogar noch deutlich mehr. Das ist die Sozialpolitik, die Sie hier seit Jahren betreiben.
Im übrigen ist das, was Sie betreiben, auch ökonomisch katastrophal: Sie reduzieren die Kaufkraft um 40 Milliarden DM - das entspricht etwa 150 000 Arbeitsplätzen - durch Rückgang von Nachfrage und durch Rückgang von Produktion und Dienstleistungen. Wodurch wollen Sie denn mit diesen Maßnahmen Arbeitsplätze schaffen? Nennen Sie doch einmal ein Beispiel, das zu einem Arbeitsplatz führt.
In den neuen Bundesländern werden jetzt schon die Planungen für Krankenhäuser und Sanatorien eingestellt, weil die Verantwortlichen wissen, daß es Kürzungen im Gesundheitswesen gibt. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden nicht mehr verlängert, da man weiß, daß sie gestrichen werden sollen. Das ist vorauseilender Gehorsam: Bevor die Gesetze in Kraft getreten sind, werden sie schon umgesetzt. Dies ist leider auch eine Wahrheit.
Sozialkürzungen führen nicht zu Arbeitsplätzen. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit der Frauen, die sich unmittelbar gegen den Teil der Gesellschaft richtet, der die meisten Lasten zu tragen hat, hat mit Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie verschlechtern dadurch die Chancen der jüngeren Generation.
Ihre Maßnahmen, die den Kündigungsschutz betreffen, bringen arbeitsmarktpolitisch gesehen ebenfalls überhaupt nichts. Natürlich gäbe es Möglichkeiten, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, und zwar gar nicht wenige. Wir brauchen einen öffentlichen Beschäftigungssektor. Wir müßten ein Investitionsklima schaffen.
Ein Investitionsklima schaffen Sie nicht mit einer Steuerpolitik, bei der es sich in erster Linie lohnt, Geld aus Geld zu machen. Sie müßten einmal dafür sorgen, daß Geld wieder aus Produktion und Dienstleistung entsteht. Dann würde es auch mehr Arbeitsplätze in dieser Gesellschaft geben.
Sie könnten bei der Lohnnebenkostenentwicklung viele Reformen durchführen. Warum berechnen wir sie nicht nach dem Umsatz, anstatt sie immer nach der Bruttolohnsumme und der Zahl der Beschäftigten zu berechnen, was die Unternehmen mit vielen Beschäftigten permanent mehr belastet? Wir könnten an eine Umbewertung der Arbeit denken. Wir könnten endlich eine soziale Grundsicherung einführen. Wir könnten eine nachhaltige ökologische Entwicklung einführen. Tun Sie nicht so, als ob dieser Bereich alternativlos ist; es gäbe Alternativen, und das Geld dazu ist da.
Ich habe von den 4,6 Billionen DM Sparvermögen gesprochen. Es gibt das frei vagabundierende Kapital von 750 Milliarden DM. Es gibt Ihre sinnlosen Ausgaben für den Transrapid und für Prunkbauten in der Hauptstadt Berlin. All das wäre nicht nötig. Diese Bundesrepublik leidet nicht an zu wenig Geld; sie gibt es nur ungerecht aus.
Sie überläßt es den Falschen in viel zu großer Höhe.