Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Worte sind genug gewechselt.
Ich kann die Debatte schreiben, die jetzt gleich geführt wird. Ich weiß, was der Kollege Dreßler sagt; ich weiß, was der Kollege Schreiner schreit.
Und wenn Sie wissen wollen, was ich zu sagen habe: Es muß entschieden werden. Die Diskussion ist zu Ende.
Es gibt kein neues Argument; es gibt nur Flucht vor der Entscheidung oder Entscheidung. Davor stehen wir heute. Mut zur Entscheidung ist gefragt, nicht Vorliebe für Wortgeklingel.
Die Alternativen sind klar: Die Koalition handelt, die Opposition redet.
Wir sind uns einig: Neue Arbeitsplätze braucht unser Land. Wir sind uns einig: Unsere Wirtschaft - ob kleines Unternehmen, ob großes Unternehmen -braucht Kostenentlastung. Es gibt niemanden, der dem widerspricht. Wir sind uns einig: Die Beitragszahler brauchen Entlastung - ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber. Wir sind uns einig: Die Bürgerinnen
und Bürger erwarten Entscheidungen, keine Fortsetzung der Diskussion.
Der Beschluß des Vermittlungsausschusses, die
Spargesetze aufzuheben, bedeutet keine Entscheidung. Er bedeutet Fortsetzung der Debatte ohne Entscheidung. Wir können uns vieles leisten; nur eines können wir uns nicht leisten: Vertagung von Entscheidungen.
Der Deutsche Bundestag ist ein Entscheidungsgremium, keine Vertagungsanstalt. Ohne Entscheidung, meine Damen und Herren, heißt nicht: ohne Folgen. Das ist ein Irrtum. Ohne Entscheidung, das heißt, die Kosten für die Beitragszahler steigen weiter. Ohne Entscheidung, das heißt, die Arbeitsplätze werden teurer. Ohne Entscheidung, das heißt, die Arbeitslosigkeit steigt. Ohne Entscheidung, das heißt, die Verschuldung steigt. Wir können den Teufelskreis „mehr Kosten - mehr Arbeitslosigkeit; mehr Arbeitslosigkeit - mehr Kosten" nur durch eine Entscheidung zur Entlastung der Wirtschaft und zur Entlastung der Arbeitsplätze durchbrechen.
Meine Damen und Herren, auch wenn es sich viele vormachen: Sparen ohne Einschränkungen - das gibt es nur in Märchen; sparen ohne Einbußen - das gibt es nicht. Deshalb muß der Antrag des Vermittlungsausschusses abgelehnt werden. Der Antrag ist eine Hilfe zur Flucht aus der Verantwortung. Wir haben die Verantwortung für unseren Staat.
Die Nachfrage nach Diskussion ist gesättigt; Entscheidungsangebote werden verlangt.
Und die Opposition? Gute Vorsätze, aber keine Vorschläge. Ankündigungen sind noch keine Ausführungen. Die Zahl der Absichtserklärungen der Sozialdemokratischen Partei steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Konkretisierung. Man kann den Satz aufstellen: Je wortreicher, um so handlungsärmer.
Ich habe hier eine Liste Ihrer Ankündigungen: vor der Sommerpause, nach der Sommerpause, bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz, nach der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz. Ich kann die Liste auch schriftlich verteilen. Es werden Verhandlungskommissionen gebildet und drei Wochen später wieder außer Betrieb gesetzt. So kommen wir nicht weiter. Es langt nicht, zu sagen, die Lohnnebenkosten müssen sinken. Das ist ja wie ein Refrain der SPD, aber es gibt keinen Text für die Strophen.
Oskar Lafontaine sagte im „Spiegel" vom 26. Februar dieses Jahres: „Dringend erforderlich ist eine Verständigung über Senkung der Lohnnebenkosten. " Über ein Null-Angebot kann man sich aber nicht verständigen. Es gibt von Ihnen keine Vorschläge. Rudolf Scharping sagte im „Stern" vom 3. April 1996: „Wir müssen runter von den Lohnnebenkosten." Wo, Herr Scharping, ist Ihr konkreter Vorschlag?
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Von „Umbau" und von „Wegfall der Fremdleistungen" - darauf komme ich noch zu sprechen - einmal abgesehen, wo sind die konkreten beitragsentlastenden Vorschläge der SPD? Sie werden bis heute gesucht.
Gerhard Schröder wiederholt seinen kraftvollen Ausspruch „tief ins soziale Netz einschneiden" - das Bild ist aus dem Wörterbuch eines Unmenschen. Ich sehe außer markigen Sprüchen nichts. Die SPD kommt mir vor wie ein Schmied: In der Esse keine Glut, in der Zange kein Eisen, aber mit dem Hammer immer auf den Amboß schlagen. Der Schmied hat gar kein Werkstück in der Hand, er haut nur auf den Amboß.
Statt dessen gibt es tausend höchst unterschiedliche Vorschläge. Ein gackernder Hühnerhaufen ist eine Parademarschkompanie im Vergleich zum heutigen Zustand der SPD.
Es muß entschieden werden, und zwar zugunsten der Arbeitnehmer, zugunsten von neuen Arbeitsplätzen und zugunsten der Unternehmer. Wir brauchen Kostenentlastung. Wir sparen doch nicht aus Lust und Laune. Wir sparen, um das größte soziale Übel, die größte soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen: die Arbeitslosigkeit.
Ihr Vorschlag Abbau von Fremdleistungen ist richtig. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich mich dem anschließe.
Wir müssen besser zwischen Leistungen, die von Beitragszahlern finanziert werden, und Leistungen der Allgemeinheit unterscheiden. Das ist aus zwei Gründen notwendig: erstens zur Entlastung der Arbeitsplätze, zweitens aus Gründen der Gerechtigkeit. Wenn allgemeine Aufgaben von den Beitragszahlern bezahlt werden, ist das eine ungerechte Lastenverteilung, weil an dieser allgemeinen Finanzierung ein Teil der Bevölkerung gar nicht und ein anderer Teil nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze beteiligt ist.
Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, hier umzufinanzieren. Die Fahrtrichtung der Umfinanzierung geht weg von der Belastung der Arbeitsplätze hin zur Belastung des Verbrauchs, und zwar wegen der Arbeitsplätze, aber auch wegen des Umweltschutzes. Aber Umfinanzierung heißt doch nicht weniger Finanzierung; Umfinanzierung heißt doch noch nicht Gesamtentlastung. Sie haben doch nicht weniger Druck auf der Achse, wenn Sie die Frachtgüter auf dem Lastwagen verschieben. Wir brauchen eine Gesamtentlastung des Steuerzahlers, des Beitragszahlers. Wir brauchen mehr Schwung in unserer Wirtschaft. Deshalb sind diese Gesetze unumgänglich.
Zu den Fremdleistungen - ich habe sie ja mit problematisiert - nur so viel: So, wie die Diskussion geführt wird, hat sie eine Schlagseite. Es ist entgegen anderslautenden Meldungen nicht so, als würde der Staat die Rentenversicherung im Stich lassen. 76 Milliarden DM, fast jede fünfte Mark des Bundeshaushaltes, geht als Bundeszuschuß oder in Form einer Erstattung an die Rentenversicherung. Die Bundesanstalt für Arbeit hat in den letzten vier Jahren 55 Milliarden DM an Bundeszuschuß erhalten. Angesichts dieser Tatsachen kann doch niemand sagen, der Bund würde die Sozialversicherung im Stich lassen.
Wir brauchen einen Umbau. Dies heißt aber nicht -dieser Auffassung möchte ich mich ausdrücklich anschließen -, daß das Haus eingerissen wird. Es heißt allerdings auch nicht, nur die Tapeten zu wechseln und den Vorgarten herzurichten.
Andere sind weiter als die SPD. Ich zitiere:
Der Ruf, der Staat bzw. der Gesetzgeber wird's schon richten, ist in der Umsetzungsphase neuer Strukturen ebenso unangebracht wie hartnäckiges Festhalten.
Das entnehme ich einer beachtenswerten Schrift, einer von der Hans-Böckler-Stiftung mitfinanzierten Studie. So weit ist die SPD noch nicht. Der Ruf nach dem Staat ist noch immer der erste Ruf.
Andere sind viel weiter. Man braucht sich nur umzusehen. Dabei muß man nicht die ganze Welt im Blick haben, Europa reicht aus. Wo ich auch hinsehe, überall gibt es einen Umbau: in Schweden, in Finnland, in den Niederlanden, in Portugal und in Griechenland - überall mit Regierungen, an deren Spitze Sozialdemokraten stehen.
In Österreich wird es in den Jahren 1996 und 1997 eine Entlastung der öffentlichen Haushalte von
100 Milliarden Schilling geben. Auf unser Sozialprodukt und unsere Bevölkerung umgerechnet, wäre das mit einer Einsparung von 140 Milliarden DM vergleichbar. Das ist zweieinhalbmal soviel, als wir auf die Waage bringen. Wo ist der Vranitzky der SPD in Deutschland? Wo ist derjenige, der so viel Mut hat wie die Sozialdemokraten um uns herum?
Zur Altersgrenze. In Schweden wird sie auf bis 70 Jahre angehoben; auch in Finnland, in Österreich, in Portugal und in Griechenland ist sie höher - alles sozialdemokratisch geführte Regierungen.
Zu den Kuren. Hierzu kann ich wiederum aus der beachtenswerten, von der Hans-Böckler-Stiftung -das ist ein ehrenhafter Name - mitfinanzierten Studie zitieren: Kuren für alle werden abgeschafft. Weiterhin Anspruch haben sollen Schichtarbeiter, Beschäftigte mit hohem arbeitsbedingten Gesundheitsrisiko und Monatseinkommen von bis zu 6 000 DM. - Das steht in einer vom DGB, von der Hans-Böckler-Stiftung mitfinanzierten Studie.
So weit gehen wir gar nicht. Lieber Kollege Dreßler, lieber Kollege Schreiner, ihr redet erst nach mir, aber ich weiß, was ihr wieder sagen werdet: Abbau, Untergang, Zerstörung des Sozialstaates. Lest einmal die Texte der Sozialdemokraten in der Welt, die
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Texte aus der Hans-Böckler-Stiftung! Dann müßt ihr eure Sprüche unterlassen.
Der Sozialstaat wird nicht ruiniert; wir verteidigen ihn. Ein Drittel der Ausgaben sind für Soziales. Niemand kann sagen, wir würden den Sozialstaat ruinieren. Aber: Wasch mir den Pelz, und mach mich nicht naß - diese Melodie paßt nicht mehr, auch wenn sie von den Sozialdemokraten hier gesungen wird.
Zur Lohnfortzahlung. Ich weiß aus der Historie -mein Verständnis habe ich hier schon zum Ausdruck gebracht -, daß dies ein schwieriges Thema ist. Dennoch: Unter den Sozialdemokraten im „Volksheim" Schweden gibt es eine Lohnfortzahlung in Höhe von 75 Prozent und einen Karenztag, in den Niederlanden zwei Karenztage und seit dem 1. Januar 1994 eine Lohnfortzahlung von 70 Prozent.
Auch hier wird in den Texten der von der HansBöckler-Stiftung mitfinanzierten Studie eine Enttabuisierung vorgenommen:
Das Instrument Reinvestition könnte auch der Diskussion um den Karenztag eine neue Richtung geben. Das von den Arbeitgebern dadurch eingesparte Geld muß bundesweit auf einem Gute-Arbeit-Konto angelegt werden und in den Unternehmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen investiert werden.
Wie auch immer, jedenfalls ist dieses Thema enttabuisiert. Es ist zur Diskussion gestellt, der Sie sich ja verweigern.
Ich füge allerdings hinzu: Wenn Einschränkung der Lohnfortzahlung, dann auch Einschränkung der Bezüge der Beamten. Das müssen Sie sich heute auch noch einmal vorhalten lassen, daß sie möglicherweise einer Gesetzgebung die Bahn brechen, wo Arbeiter und Angestellte in der Lohnfortzahlung anders behandelt werden als die Beamten.
- Ja, doch! - Ich bleibe dabei: Wenn wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dann geht es nicht durch den Austausch von Worten, sondern dann müssen Entscheidungen her. Deshalb kann heute die Entscheidung nicht durch den Beschluß des Vermittlungsausschusses vertagt werden. Wir müssen der Arbeitslosen wegen dieses Sparpaket durchbringen. Darum geht es!
Das ist auch der wichtigste Beitrag. Hunderttausend Arbeitnehmer, die beschäftigt sind, zahlen 2 Milliarden DM Beitrag. Wir können gar nicht so viel sparen, wie neue Beschäftigung an Einnahmen hervorbringt. Aber wir müssen sparen, damit es zu neuer Beschäftigung kommt.
Hunderttausend arbeitslose Geldbezieher kosten die Bundesanstalt für Arbeit 3 Milliarden DM. Demgegenüber sind unsere Sparansätze noch bescheiden. Sie sehen: Wir brauchen in der deutschen Wirtschaft
einen neuen Anfang, und - das füge ich hinzu - deshalb muß jetzt entschieden werden. Wir haben nicht die Wahl: Später oder jetzt. Jeder Tag ist verloren. Wer zu spät spart, den bestraft der Sozialstaat.
Wer zu spät spart, muß mehr sparen. Wer zu spät spart, wird ganz andere Probleme zu lösen haben. Ablehnen heißt Nichtstun.
Aber ich wende den Blick schon über diese Auseinandersetzung hinweg. Die Welt geht auch nach unseren Entscheidungen weiter. Deshalb rufe ich dazu auf, über diesen Pulverdampf der Auseinandersetzung nicht die gemeinsame Verantwortung zu verkennen. Die Notwendigkeit der Kooperation besteht mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgebern und mit der Opposition. Es gibt auf allen Seiten viele Gutwillige. Es geht um ein neues Bündnis der Gutwilligen. Es geht auch darum, daß wir zu einer Zeit, wo es 4 Millionen Arbeitslose gibt, nicht hinnehmen können, daß Arbeitsplätze leer bleiben, weil sie für unzumutbar erklärt werden. Das können wir uns nicht leisten. Wenn in Oberhausen bei einer neuen Ansiedlung 14 Tage vor der Eröffnung noch Arbeitsplätze offenstehen, dann stimmt bei 4 Millionen Arbeitslosen etwas nicht in unserem Sozialstaat.
Die Aussicht ersetzt nicht die Einsicht, daß jetzt gehandelt werden muß. Wir brauchen auch einen Aufbruch derjenigen, die Mut machen. Es ist ein ermutigendes Zeichen, wenn Herr Necker vom BDI vor ein paar Tagen 50 Unternehmer versammelt hat, die nicht geklagt, sondern neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Wir brauchen „Einsteller", nicht „Entlasser". Die „Einsteller" müssen gelobt werden, nicht die „Entlasser". Wir brauchen einen neuen Auf-bruchsoptimismus, daß wir es schaffen können. Das geht allerdings nicht ohne Anstrengung und nicht ohne Entscheidungen, die, wenn auch schmerzlich, dennoch richtig sind. Deshalb fordere ich dazu auf, nicht weiter zu vertagen - wir haben genug vertagt -, sondern zu handeln. Die Alternative - ich wiederhole mich - ist: Die Opposition redet, die Koalition handelt. Das ist die Alternative heute.