Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns in der heutigen Debatte mit neuen Verkehrstechnologien, mit der Telematik. Ich glaube sagen zu können, daß wir uns mindestens über eines einig sein dürften: Wir müssen vom einseitigen Verkehrswachstum auf der Straße wegkommen und statt dessen mehr Verkehr auf Schiene, Wasserstraße und ÖPNV bringen, weil wir alle wissen, daß die Umweltverträglichkeit der Verkehrsentwicklung für ein funktionsfähiges und gesellschaftlich tragfähiges Verkehrssystem eine entscheidende Rolle spielt. Was wir brauchen, ist ein leistungsfähiger Mobilitätsverbund, das heißt, ein Verkehrssystem, in das alle Verkehrsträger integriert und bei dem sie alle intelligent miteinander verknüpft sind.
Jeder, der sich damit näher befaßt, weiß, daß einer der wichtigsten Bausteine für ein solch intelligentes Verkehrssystem die moderne Kommunikations- und Informationstechnologie, die Telematik, ist. Es ist wahrlich an der Zeit, daß sich auch der Verkehr stärker als bisher dieser Technologie bedient, ohne die in anderen Wirtschafts- und Lebensbereichen schon lange nichts mehr läuft, und daß auch der Bundestag diesem bisher eher nur im fachlichen Teil betrachtete Thema die Aufmerksamkeit schenkt, die es braucht.
Wir wissen, daß Experten schätzen, daß in den nächsten zehn Jahren in der Europäischen Union ein Marktvolumen für Telematik in Höhe von 200 Milliarden DM entstehen dürfte. Daraus ersehen wir, daß es nicht nur um die intelligente Lösung von Verkehrsproblemen, sondern auch um wirtschaftliche Dynamik und um Arbeitsplätze geht, wenn wir über dieses Thema heute und morgen sprechen.
Mit dem Einsatz von Verkehrstelematik wollen und werden wir zum einen die Verkehrsträger an ihren Schnittstellen verknüpfen und damit die Bildung umweltschonender Transportketten erleichtern, zum zweiten die bestehende Verkehrsinfrastruktur effizienter nutzen und Engpässe beseitigen, zum dritten die Verkehrsabläufe rationalisieren und ineffizienten und überflüssigen Verkehr vermeiden - ich nehme dieses Wort bewußt in den Mund - und zum vierten die Sicherheit und Umweltverträglichkeit der Verkehrsabwicklung wirksam verbessern.
Viele, die sich mit dem Thema Telematik befassen, wissen: Es geht nicht um reine Zukunftsmusik. In allen Verkehrsbereichen gibt es schon heute Telematikanwendungen, die sich im praktischen Einsatz be-
Bundesminister Matthias Wissmann
währen und ihren Nutzen unter Beweis stellen. Lassen Sie mich nur einige Beispiele herausgreifen:
In den Häfen entstehen mit Unterstützung der Bundesregierung Informationsverbände zwischen den beteiligten Verkehrsträgern, Unternehmen der Hafenwirtschaft und Behörden, die sich auf entsprechende Telematikdienste stützen. Hier sind wir ein Vorreiter in Europa und der Welt.
Ein anderes Beispiel: Immer mehr Transportunternehmen setzen rechnergestützte Logistik- und Flottenmanagementsysteme ein.
Damit läßt sich der immer noch viel zu hohe Anteil der Leerfahrten im Güterverkehr drastisch reduzieren.
Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel, die CityLogistik. Wir haben inzwischen in vielen Städten und Gemeinden hervorragende Beispiele mit einem modernen Verkehrsmanagement: durch logistische Planung, durch elektronische Vernetzung von Speditionen, Fuhrunternehmen, Händlern, Gemeinden und Städten.
Wenn gut geplant ist, dann fahren eben nicht 30 Lkw mit jeweils einem Paket zum selben Handelsunternehmen, sondern ein Lkw mit 30 Paketen.)
Ergebnis: Weniger Verkehr, die Belastung der Bürger wird reduziert, Lärmschutz und Umweltschutz werden konkret.
Wir haben Beispiele der City-Logistik, wo es durch solche intelligente, logistisch vernetzte Planung zu einer Reduzierung der Fahrten in die Stadt von bis zu 60 Prozent gekommen ist.
Oder nehmen Sie den ÖPNV. Durch Einsatz von Betriebsleitsystemen im ÖPNV werden die Umlaufzeiten um bis zu 15 Prozent verkürzt. Zusätzliche Kundendienste, wie zum Beispiel elektronische Fahrplanauskunftssysteme und die Einführung bargeldloser Zahlungsmittel, erhöhen merklich die Chancen des ÖPNV, sich neue Kundenkreise zu erschließen.
Ein anderes Beispiel. Rechnergesteuerte Parkleitsysteme sorgen in manchen Städten bereits für eine beträchtliche Abnahme des Parksuchverkehrs, der ansonsten in Spitzenzeiten in manchen Städten 20 und mehr Prozent des fließenden Verkehrs ausmacht.
Oder nehmen Sie ein Beispiel, das im nächsten Jahr mehr und mehr für den Bürger erfahrbare Wirklichkeit wird. Schon Mitte nächsten Jahres wird die digitale Ausstrahlung von automatisch generierten Verkehrswarnmeldungen auf der Basis hochaktueller Verkehrsdaten, RDS/TMC genannt, in Deutschland flächendeckend möglich sein.
Um es etwas populärer zu sagen: Während man heute die Staumeldungen meist erst dann bekommt, wenn der Stau schon wieder vorbei ist, wird man dann die Staumeldung nicht nur unmittelbar bekommen, sondern man wird sie mit Knopfdruck auch für den Bereich abrufen können, in dem man fährt, und nur der Bereich interessiert ja auch wirklich.
Auch dies ist ein sinnvoller Fortschritt.
Oder, meine Damen und Herren, ich nehme die Systeme zur Steuerung der Betriebsabläufe im Schienenverkehr. Wir setzen zunehmend ein Zugsteuer- und Betriebsleitsystem ein, das sich in ganz Europa ohne Hindernisse im Hochgeschwindigkeitsverkehr, aber auch in anderen Bereichen realisieren läßt.
Ich will überhaupt betonen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es uns bei Telematik - ich habe es bereits an einigen Beispielen gesagt - keineswegs nur, wie mancher glaubt, um die Straße geht. Es geht uns um die Vernetzung der Systeme, und es geht uns genauso wie urn die Straße auch um den ÖPNV, den Bahnverkehr, den Schienenverkehr.
Wenn wir jetzt das erste Mal auf der Strecke BaselOffenburg mit dem sogenannten Computer integrated Railroading Geld einsetzen - was heißt: Zugabfolgen werden elektronisch gesteuert, der Zugführer kontrolliert noch, aber er fährt nicht mehr selbst -, dann hat das eine ganz praktische Folge. Ohne ein Gleis auszuwechseln, wird die Kapazität auf diesem Schienenteilstück um bis zu 30 Prozent erhöht.
Meine Damen und Herren, mit intelligenter Technik bessere Verkehrslösungen - das ist unsere Strategie für die Zukunft des Verkehrs.
Gemeinsam mit der EU sind wir dabei, ein globales, nach zivilen Kriterien zu betreibendes Satellitennavigationssystem zu entwickeln, das die für viele Telematikanwendungen erforderliche Standortbe - stimmung von Fahrzeugen und Gütern deutlich verbessern soll.
In einer Industriegesellschaft muß sich die Politik als Wegbereiter für den Einsatz moderner Technologien und Innovationen verstehen; sie muß die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, bürokratische Hemmnisse beseitigen und auch, wo notwendig, eine Anstoß- und Moderatorenrolle zusammen mit Wirtschaft und Gesellschaft übernehmen.
Ich habe deswegen im Dezember vergangenen Jahres unter dem Dach des Wirtschaftsforums Verkehrstelematik Spitzenvertreter der Verkehrspolitik aus Bund, Ländern und Gemeinden, der Industrie und der öffentlichen Verkehrsträger, der Bahn, unter meiner Leitung zusammengebracht.
Ziel dabei ist es, die Einführung von Verkehrstelematik in einem integrierten Gesamtverkehrskonzept am Standort Deutschland zu koordinieren und voranzutreiben. Sinn dieses Forums ist kein unverbindlicher Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Es geht uns darum, gezielte, von Politik und Wirtschaft gemeinsam getragene Entscheidungen und deren konsequente Umsetzung voranzubringen. Daß es allen Beteiligten damit ernst ist, hat bereits die erste Sitzung bewiesen, in der konkrete Vereinbarungen getroffen worden sind:
Bundesminister Matthias Wissmann
Erstens. Wir waren uns einig: Telematik ist vorrangig Aufgabe der Privatwirtschaft, für die sie neue Chancen im Wettbewerb entwickeln muß. Aufgabe des Staates ist es, die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Zweitens. Wir waren uns einig - übrigens auch mit den Vertretern der Automobilindustrie -, daß Vorrang integrierte Telematiksysteme haben und Ziel nicht die isolierte Verbesserung des einzelnen Verkehrsträgers, sondern die Optimierung des Gesamtsystems sein muß.
Drittens. Die Wirtschaft wird auf der Grundlage breiten Wettbewerbs Endgeräte entwickeln, die dem Telematiknutzer eine individuelle Auswahl der jeweils gewünschten Dienste ermöglichen soll. Dabei sollen unterschiedliche Grundtechnologien durch gemeinsame Schnittstellen verbunden werden können. Dem Nutzer, dem Bürger, soll ein System zur Verfügung stehen, das einfach, sicher, kostengünstig und für vielfache Anwendungen tauglich ist.
Viertens. Dreh- und Angelpunkt einer effektiven Telematikanwendung in einem auch wirtschaftlich zusammenwachsenden Kontinent ist ein Optimum an Standardisierung und Interoperabilität der Systeme in Deutschland wie in ganz Europa, denn nur interoperable Telematikdienste verschaffen dem Nutzer die größstmöglichen Vorteile. Nur so läßt sich ein verkehrsträgerübergreifender und grenzüberschreitender Verkehr sinnvoll organisieren.
Fünftens. Die Entwicklung privatwirtschaftlich aufgebauter und betriebener Telematikdienste erfordert den Zugriff auf vorhandene Verkehrsdaten der öffentlichen Hand und deren Verknüpfung mit Verkehrsdaten privater Dienstleister. Ziel ist es daher, ein verkehrsträgerübergreifendes Verkehrsdatenmanagement zu entwickeln und zu implementieren, das die von der öffentlichen Hand und von privaten Dienstleistern erhobenen Verkehrsdaten zusammenführt. Damit wird ein praktisches Beispiel für Public-
private-partnership auf dem Gebiet der Telematik realisiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei genauer Betrachtung, glaube ich, können wir feststellen, daß wir in Telematikfragen in Deutschland die Chance zu einem großen Konsens - auch die Gewerkschaften unterstützen diese Idee -, aber auch die Chance zu einer Avantgarderolle auf dem Kontinent wie weltweit haben. Deswegen will ich zum Schluß den Satz des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Technologie in Erinnerung rufen, den er uns vor einiger Zeit zugerufen hat. Er hat gesagt: In der Welt des 21. Jahrhunderts, in einer Welt globalisierter Märkte besiegen nicht die Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.
Ich will am Beispiel der neuen Verkehrstechnologien sagen: Je schneller wir, Politik auf allen Ebenen, Wirtschaft und Gesellschaft, bei dem Einführen von modernen Telematiksystemen vorankommen, je eher wir Pilotprojekte umweltverträglichen Verkehrsmanagements in Deutschland schaffen, desto größer ist die Chance, daß daraus auch weltweit eine industriepolitische Strategie für unser Land wird. Insofern können sich Verkehrspolitik, Umweltpolitik und Industriepolitik am Beispiel der Telematik zu einem sinnvollen Gesamtkonzept vernetzen.
Ich danke für Ihr Interesse.