Rede von
Prof. Dr.
Erika
Schuchardt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Verehrte Parlamentskollegen! Liebe Zeitzeugen! Gibt es wohl ein geeigneteres Forum als unser Parlament, den Stimmen der von Tschernobyl betroffenen Menschen öffentlich Gehör zu verschaffen? Diese Stimmen sind es, die in allen - teilweise absurden - Zahlenspielen um Opfer oft ungehört verhallen. Aus den Leiden dieser Menschen entspringt unsere Sorge um die Sicherheit der Reaktoren im Osten, mit denen sich die vorausgegangenen Redner in ihren Beiträgen befaßt haben.
Der Entschließungsantrag der Koalition konnte auf diese Frage noch nicht im einzelnen eingehen. Darum bestand bei uns Einigkeit darüber, daß ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion innerhalb der Plenardebatte auf dieses Thema eingehe. Um das in Solidarität mit den betroffenen Menschen von Tschernobyl zu tun, teile ich meine Redezeit und leihe ihnen vorübergehend meine Stimme.
Da ist Tatjana, ein 14jähriges Mädchen aus Belynitschy, Weißrußland:
Das Grausamste ist für mich die Veränderung meiner Eltern: Sie sind so seltsam geworden, sie sitzen da, als wären sie überhaupt nicht da, apathisch, krank, desorientiert, ängstlich, unsicher, ohne Vertrauen, ohne Hoffnung. Wissen Sie, sie wurden zu oft belogen. Sie warten, aber sie wissen nicht, worauf sie warten, sie haben vergessen, daß niemand auf sie wartet.
Eine Frau aus Gomel, Weißrußland, Mutter von vier Kindern, 45 Jahre alt:
Wissen Sie, das Schlimmste im Leben ist das Gefühl, falsch informiert, getäuscht, belogen und schließlich vergessen zu sein. Dazu kommt das Verlassensein - auch von den eigenen Freunden, die, Sie wissen es ja, umgesiedelt worden sind. Wir, die wir geblieben sind, kommen uns vor wie lebendig begraben. Verstehen Sie, darum brauchen wir Hoffnung. Eine Fahrt ins Ausland ist wie ein Licht, das dort angezündet wird, und das, wenn es wieder zurückkommt, die Dunkelheit erhellt.
Ein 17jähriges Mädchen, Irina aus Mogilov:
... wir verraten unseren Jungen nicht, von woher wir kommen ... sonst würde keiner von ihnen mit ,so einer' so einfach ,gehen' ... Geschweige denn es mit solch einer ,ernst meinen' ... Die meinen, wir würden sie beim Küssen anstecken ... und natürlich später Mißgeburten zur Welt bringen . . .
Eine Schulklasse in Deutschland sagte im Rahmen eines deutsch-französischen Jugendaustausches kurzfristig die geplante Begegnung mit der belarussischen Gruppe ab. Die Begründung:
Die Angst vor ,radioaktiver Ansteckung' durch die belarussischen Kinder ist so groß, daß wir jede Begegnung vermeiden wollen.
Diese Stimmen der Kinder und ihrer Eltern aus Tschernobyl sowie aus Deutschland sind Mosaiksteine dessen, was ich als Erkenntnisse aus über 1 500 Befragungen und Interviews in den letzten sechs Jahren meiner Forschungsarbeit rund um Tschernobyl gewonnen habe. Ich war in den entlegensten Dörfern Weißrußlands und der Ukraine, habe mit den Menschen Tisch und Ofenbett geteilt, um Verdrängtes, ja Verborgenes wieder ans Licht zu bringen.
Die wichtigste Erkenntnis: Unabhängig von allen faktischen Zahlen besteht ein lebenslang vorhandener psychosozialer Streßfaktor, ausgelöst durch den Reaktorunfall, der unerbittlich forderte, mit Tschernobyl leben zu lernen. Insofern unterscheidet sich Tschernobyl deutlich von anderen Katastrophen. Es handelt sich nicht um eine punktuelle, sondern um eine lebenslange permanente Katastrophe.
Dieser psychosoziale Streßfaktor ist erstmalig vor zwei Wochen auf der internationalen TschernobylKonferenz in Wien - ausgerichtet von IAEO, WHO und EU - definiert und anerkannt worden, und zwar als die eigentlich grausame Hinterlassenschaft. Frau Ministerin Merkel hat sich diese Erkenntnis in ihrer Abschlußrede dankenswerterweise zu eigen gemacht und festgestellt, daß die Auswirkungen des Unglücksfalls im gesellschaftlichen Bereich bisher unterschätzt worden sind.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Entschließungsantrag ein erster Schritt. Ich wünsche mir, daß es uns gelingt, daß wir in allen zuständigen Gremien die notwendigen komplementären Schritte zur lebensverändernden psychosozialen Hilfe konkretisieren; denn angesichts des Streßfaktors können die Menschen nicht warten, bis ihre physische Gesundheit wiederhergestellt ist, um dann erst an die Verarbeitung ihrer psychosozialen Krise zu denken.
Sie brauchen nicht länger den Fisch, sie brauchen die Angel und Menschen, die sie angeln lehren helfen. Sie brauchen vorrangig Konzepte einer psychosozialen Hilfe durch Begegnung, Bildung und Begleitung, und zwar analog auswärtiger Kulturpolitik selbstverständlich nicht länger als eine Einbahnstraße von West nach Ost, sondern als Doppelbahnstraße, als Austauschprogramme zwischen Kindern mit ihren Familien und mit allen Menschen guten Willens.
Der in diesem Zusammenhang oftmals leichtfertig zitierte Kulturschock, von dem angeblich jene Kinder aus Tschernobyl bei ihren Aufenthalten im Westen betroffen werden sollen, ist ein Phantom; ein Phantom der künstlichen Mauern in den Köpfen de-
Dr. Erika Schuchardt
rer, die statt möglicherweise systemverändernder Begegnung ausschließlich die Devisen im Land sehen wollen.