Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mir gern selbst eine sehr strenge Gliederung meiner Rede auferlegen, und zwar in drei Punkte. Die Tragödie von Tschernobyl ist eine menschliche, eine technische und - bitte ganz zuletzt - eine politische Angelegenheit. Die menschliche Seite ist mir bisher bei manchem Redner zu kurz gekommen.
Man muß sich überlegen, was da eigentlich passiert ist. Der Bundesregierung wurde beispielsweise vorgeworfen - auf diese Art und Weise wird es leider politisch -, daß die Informationspolitik schlecht war. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines Einwohners von Pripjat bei Tschernobyl. Wenn man morgens noch gesagt bekommt: „Die Welt ist in Ordnung, es hat im Kraftwerk gebrannt", nichts weiter, und der Parteisekretär bestätigt das, dann heißt das, daß man mit den Menschen dort in einer Weise umgegangen ist, die - da bin ich ganz sicher - bei uns unvorstellbar gewesen wäre.
Wenn man dann die Opfer- und Hilfsbereitschaft von Hunderttausenden von Leuten herausfordert, die freiwillig sozusagen in die Hölle kommen, ohne zu wissen, daß das die Hölle ist, und die sich dabei gesundheitliche Schäden einhandeln, deren Ausmaß sie nicht kennen konnten, dann ist das eine menschliche Tragödie, ganz zu schweigen von den Opfern, die es heute noch gibt, und davon, daß auch heute noch Zahlen verschwiegen werden, die man eigentlich wissen müßte, um das Ausmaß dieser Katastrophe zu kennen. Dann wirkt manches, was in diesem Hause aus politischen Gründen gesagt wird, vielleicht ein bißchen kleinlich. Denn ein Mensch hat nur ein Leben, und mancher hat das bei dieser Katastrophe verwirkt.
Deswegen bitte ich darum, daß wir in dieser Stunde des Fast-Gedenktages in erster Linie daran erinnern, daß Menschen gestorben sind, daß Menschen Heldentum für die falsche Sache bewiesen haben; sie haben es für ihre Mitmenschen links und rechts neben sich getan. Vor diesen Menschen muß man Respekt haben.
Natürlich liegt darin ein wenig Gesellschaftskritik des Sozialismus. Warum gab es Kernkraftwerke in der Sowjetunion, deren technischer Stand uns heute unvorstellbar primitiv erscheint? Dieses Land Sowjetunion, wie es hieß, war die Nummer 1 im sozialistischen Lager und hat Raumfahrt betrieben - in Konkurrenz und mit Erfolg gegenüber den USA, der technisch fortgeschrittensten Macht der westlichen Seite. Ich weiß ganz genau aus eigener Erfahrung - jeder von Ihnen weiß, daß ich aus dem Osten komme -, daß die Sowjetunion im Grunde genommen aus zwei Ländern bestand: einerseits aus dem High-Tech-Land Sowjetunion und andererseits aus dem sehr primitiven Land, das wir heute als RestRußland erleben müssen. Dort sind - für uns unvorstellbar - Millionen und Milliarden aufgewendet worden, und zwar aus Prestigegründen. Zum Prestige gehörte auch, daß Kernenergie ein Markenzeichen der neuen Gesellschaft namens Sozialismus gewesen ist. Es wurde alles versucht, dieses Markenzeichen in höchster Brillanz darzustellen, auch unter Verlust aller Kontrollen, die wir in Akribie durchführen.
Es ist - nun komme ich fast zum Technischen - üblich geworden, das schreckliche Unglück von Tschernobyl als Beweis dessen anzusehen, daß Nutzung von Kernenergie nicht des Menschen Sache sei. Dieser scheinbaren Kausalität ist nur schwer zu erwidern, weil die emotionale Belastung durch eine Tragödie solcher Dimension natürlich jede Art von logischer Besinnung als unbarmherzig, technokratisch, gewissenlos und fortschrittsgierig erscheinen lassen muß. Aber Fortschritt war das, was in der Sowjetunion Kernkraftwerk hieß, beileibe nicht. Keine technische Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland hätte diese Gerätschaft auch nur im mindesten durchgehen lassen. Deswegen ist der Vergleich, der hier angestellt wird, völlig unzulässig.
Ich habe an anderer Stelle bei einer ähnlichen Debatte meine Erlebnisse im Forschungszentrum für Kernwissenschaft in Dubna, im internationalen Zentrum des sozialistischen Lagers, schon berichtet. Ich möchte heute nicht noch einmal darauf eingehen. Was dort als Sicherheitsvorschriften galt, das wäre hier für jeden eine Aktuelle Stunde und eine Bundestagsdebatte wert. Das ist eine Tatsache.
Dr. Rainer Ortleb
Das Kernkraftwerk Tschernobyl stellt nicht den Fortschritt dar, den Sie geißeln. Vielmehr findet der Fortschritt in Deutschland statt. Diesen glaubhaft herüberzubringen ist unsere politische Aufgabe. Überwachung deutscher Kernkraftwerke bedeutet, daß man Listen bekommt, in denen selbst jede ausgefallene Glühbirne im Sicherheitsbereich ein Berichtsgegenstand ist. Das hat in Tschernobyl weiß Gott nicht stattgefunden.
Wer die Mentalität dieses Landes ein bißchen kennt und in Presseberichten, die in letzter Zeit veröffentlicht wurden, darüber gelesen hat, wie die Bedienmannschaften die letzten Stunden in Tschernobyl verbracht haben, der weiß den Rest dieses Liedes zu singen. Das heißt: Vergleiche sind unangemessen.
Lieber Kollege Müller, Sie gehen vom deutschen Standard aus, aber ich bin völlig sicher, Sie würden schlicht und ergreifend Ihr Auto in Rußland nicht reparieren lassen. Es gibt eine Befangenheit, die erklärlich ist: Wenn eine Katastrophe, die die Natur hervorgerufen hat, eintritt, dann sind wir als Menschen bereit, den Kopf zu neigen und zu sagen: Es war Schicksal. Wenn die Katastrophe dadurch herbeigeführt wurde, daß unsere eigene Technik versagte, sind wir Gott sei Dank als Menschen kritisch gegenüber uns selbst und fragen uns: Wieviel Schuld haben wir?
- Herr Müller, das Schicksal von Herrn Gagarin kenne auch ich. Sie brauchen mich nicht zu belehren.
Über Sturmfluten und Vulkane diskutieren wir nicht. Aber mit Recht diskutieren wir über Dinge, wo wir als Menschen versagt haben. Die Mahnung und Botschaft von Tschernobyl kann natürlich nur sein: Was bei uns als perfekt gilt, muß immer perfekter werden.
- Das Beispiel des Flughafens war an dieser Stelle unpassend, weil hier vor allen Dingen auch menschliches Versagen eine Rolle gespielt hat. Aber ich will nicht einer Untersuchung vorgreifen, die noch nicht stattgefunden hat.
Ich möchte jetzt noch zum technischen Bereich sagen, daß die Frage, welche Energiebasis wir im nächsten Jahrzehnt haben wollen, in einer Weise behandelt werden muß, die der Komplexität des Themas angemessen ist. Was wir uns heute noch nicht vorstellen können, kann morgen Wirklichkeit sein. Die Gewissenhaftigkeit des Menschen darf man, glaube ich, aber nicht unterschätzen; sie wird immer gegeben sein. Ich glaube, daß gerade unsere Vorschriften in Deutschland ein Vorbild sein können. Ich bin immer in einer sehr schwierigen Lage, wenn ich sage, daß Deutschland Vorbild sein muß, aber in diesem Falle würde ich behaupten: Wir tun nur Gutes, wenn wir nicht aus der verfemten Kernenergie aussteigen, sondern zeigen, daß sie beherrschbar ist und in der Weise, wie wir sie nutzen, Vorbild für die ist, die noch mit einer Kerntechnik arbeiten, die zugleich Elemente der Zukunft und der Steinzeit enthält. Dagegen muß man kämpfen, und dabei muß man auch helfen.
Ich will Ihnen Zahlen darüber nennen, welche westlichen Hilfen für die GUS und die MOE-Staaten gegeben worden sind und in welcher Verteilung das geschah: Die westlichen Hilfen verteilten sich zu 34 Prozent auf die Verbesserung der Betriebssicherheit, zu 28 Prozent auf kurzfristige Sicherheitsverbesserungen, technische Maßnahmen sozusagen, und zu 12 Prozent auf den Aufbau von Aufsichtsbehörden. Sie sehen daran, daß der Schwerpunkt vor allen Dingen auf der Verbesserung der Betriebssicherheit lag. Das ist der Weg, den wir hier gehen müssen.
Ich komme jetzt zum Politischen. Es kommt mir sehr darauf an, deutlich zu sagen: Ein Aufrechterhalten der Option Kerntechnik ist kein Beispiel für eine leichtsinnige Technikgläubigkeit, sondern darin äußert sich einfach die Verantwortung, daß eine Technik, die sich am Horizont abzeichnet, von denen gemacht werden muß, die sie am besten beherrschen. Da glaube ich, daß wir im westlichen Teil Europas die besten Voraussetzungen haben. Ein Ausstieg bedeutet, daß wir Scharlatanen das Handwerk überlassen. Das darf nicht sein.
Die Möglichkeit und Zahl von Unfällen können durch Vorsicht und Aufwendungen in den Griff bekommen werden. Das ist leider auch eine Rechenaufgabe. Damit werde ich wieder zum Technokraten, was man mir immer dann vorwirft, wenn es Ernst wird.
Die Entscheidung zwischen Ausstieg oder Sanierung stellt sich. Sanierung ist nötig; denn diejenigen, die diese Kernkraftwerke betreiben, haben Bodenschätze in Größenordnungen, von denen wir nur träumen. Also gibt es doch einen Grund, daß sie die Kerntechnik nutzen. Not kennt kein Gebot. Je größer die Not ist, um so mehr wird man auch das nutzen, was nicht perfekt ist. Also haben wir die Aufgabe zu helfen, damit Perfektion erreicht wird.
Meine Damen und Herren, wenn ich es ganz sarkastisch formuliere: Es wird immer gesagt, Deutschland hätte mehr Hilfen leisten müssen. Es ist manchmal eine Frage des Setzens von Prioritäten. Wenn ich mich in die Lage eines Ukrainers, eines Weißrussen oder eines Menschen, der in Tschernobyl wohnt, versetze und ich ihm erklären muß, daß wir Deutschen Priorität im Umweltschutz darin sehen, Straßenrückbau zu betreiben und Hindernisse zur Verkehrshemmung aufzubauen, die viel Geld kosten, dann frage ich mich: Sollten wir die Mittel für diese Maßnahmen nicht vorbildlich für zehn Jahre zur Verfügung stellen, um Tschernobyl wieder zu retten? Wäre das nicht ein Weg?
Dr. Rainer Ortleb
Meine Folgerungen zum Schluß können nur sein: Die Hilfe für die betroffenen Regionen ist nach wie vor unabdingbar. Wir müssen uns dieser Aufgabe stellen, privat wie durch Zivilcourage und natürlich auch durch die Regierung.
Kernkraftwerke vom Typ Tschernobyl repräsentieren nicht moderne Energiegewinnung durch Kernkraft. Proteste in reichen Ländern können - bitte denken Sie daran - Hohn für arme Länder sein.
Tschernobyl liegt nicht in Deutschland, aber Deutschland muß für Tschernobyl fühlen.
Ich danke Ihnen.