Rede von
Ursula
Schönberger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, die Bundesregierung habe von Anfang an eine offene Informationspolitik gemacht. Unser
Freund Eduard Bernhard vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, der diese Debatte am Fernsehen mitverfolgt, hat uns dankenswerterweise ein Fax mit folgendem Zitat geschickt:
Am 29. April 1986 sagte abends in der ARD Bundesinnenminister Zimmermann, der damals zuständige Minister, wörtlich: „Die Auswirkungen von Tschernobyl werden nur im Umgebungsbereich von 30 bis 50 km auftreten."
Das war die offene Informationspolitik der Bundesregierung, und so handelt die Bundesregierung heute noch.
Zehn Jahre nach dem Eintritt der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl brennen die Wälder um den Katastrophenreaktor. Wieder werden durch die Thermik des Brandes radioaktive Partikel aufgewirbelt und großflächig verteilt. Die UN-Wirtschaftskommission für Europa hält die Wälder um Tschernobyl für eine ständige Gefahr. Bei großen Waldbränden wird radioaktive Asche auch Hunderte von Kilometern entfernt niedergehen. Die Wälder sind mit Cäsium, Strontium und Plutonium dauerhaft verseucht. Eine Dekontamination der Wälder ist unmöglich.
Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, darum lieber nicht von einem Jahrestag der Katastrophe reden, als gehe es darum, ein Jubiläum zu feiern. Lassen Sie uns ungeschminkt feststellen, daß vor zehn Jahren eine Katastrophe mit verheerenden Auswirkungen auf unabsehbare Zeit begann.
Es ist zynisch, wenn es dann seitens interessierter Lobbyeinrichtungen wie der Internationalen Atomenergie-Organisation heißt, es habe als Folge von Tschernobyl 30 Tote gegeben, und in den nächsten Jahren würden vielleicht insgesamt noch 400 hinzukommen. Ebenso zynisch, Frau Merkel, ist Ihre heutige Aussage, nach allem, was Sie heute wissen, sei die Zahl von Tausenden von Toten völlig überzogen.
Wir wissen doch, wie systematisch die sogenannten Liquidatoren aus der gesamten Sowjetunion zusammengeholt und nach erfolgter Bestrahlung wieder verstreut wurden, um eine Bewertung der Folgen zu verhindern. Wir wissen, daß es in weiten Teilen der Ukraine und Weißrußlands außerhalb der Todeszone Gebiete mit einer Belastung von 1,5 Millionen Becquerel pro Quadratmeter gibt, wo die Menschen auf Grund ihrer sozialen und ökonomischen Situation gar nicht anders können, als sich von dem zu ernähren, was auf diesem Grund und Boden wächst.
Wir wissen auch, daß das Volk der Weißrussen faktisch vom Aussterben bedroht ist, weil die Geburtenrate inzwischen weit hinter der Sterberate zurückbleibt.
Angesichts dieser dramatischen Situation in den besonders betroffenen Ländern ist die Bereitschaft zu internationaler Hilfe geradezu beschämend. Damit
Ursula Schönberger
meine ich natürlich nicht die aufopferungsvolle und dankenswerte Hilfe, die gerade auch in Deutschland von privater Seite geleistet wird. Ich meine die Bereitschaft der westlichen Industriestaaten. Die Atomkernspaltung wurde in Berlin entdeckt, die Atomtechnik in den USA entwickelt, nicht in der Ukraine, und die Republik Belarus hat nicht einmal eigene Atomkraftwerke.
Tschernobyl ist das kollektive Menschheitserbe einer verfehlten Technikentwicklung, und wir sollten den Opfern gegenüber gemeinsam dafür geradestehen.
Hilfe, Frau Merkel, heißt nicht Nachrüstung der mittel- und osteuropäischen Atomkraftwerke. Hilfe heißt nicht, Siemens einen neuen Markt in Mittel- und Osteuropa zu eröffnen. Hilfe heißt, Hilfe zu geben für moderne, hocheffiziente Gaskraftwerke. Hilfe heißt, Hilfe zu geben für Energieeinsparmaßnahmen.
Das ist, Herr Grill, kein Vorschreiben von Energiepolitik für Mittel- und Osteuropa. Was Sie machen, ist ein Vorschreiben, in dem Sie sagen: Wir geben nur Geld für die Nachrüstung von Atomkraftwerken, aber nicht für die Energieumstrukturierung.
Es gibt einen zweiten Punkt, worüber wir reden müssen. Von interessierter Seite, auch von Ihnen heute wieder, wird in Orwellscher Zwiesprachlichkeit gern behauptet, Katastrophen wie die in Tschernobyl könnten in westlichen Reaktoren nicht passieren. Das ist insofern richtig, als es bei den meisten westlichen Reaktoren kein Graphit gibt, das brennen könnte. Das ist dann aber auch schon alles.
Neben den großen westlichen Katastrophen und Beinahe-Katastrophen, die es gegeben hat, bescheinigt auch Phase B der Deutschen Risikostudie eindeutig die Möglichkeit von Kernschmelzunfällen. Ablauf und Folgen solcher Katastrophen in Reaktoren westlicher Bauart wären anders als in Tschernobyl; das ist klar. Die Folgen, die Auswirkungen auf die Menschheit, sind aber mindestens genauso schlimm wie in Tschernobyl, können bei einem 1 300-Megawatt-Reaktor sogar schlimmer sein.
Der „Stern" hat in der Ausgabe der letzten Woche die Verstrahlungskarte von Tschernobyl auf einen Unfall in Biblis projiziert. Sehen Sie sich das einmal an, meine Damen und Herren von der Regierung und den Koalitionsparteien, und sagen Sie mir dann, wie Sie eine Stadt wie Frankfurt sofort evakuieren wollen, wenn eine solche Katastrophe in Biblis stattfinden würde.
Sagen Sie mir dann auch, woher Sie das Recht nehmen, die Menschen einem solchen Risiko auszusetzen und den Tod vieler Menschen billigend in Kauf zu nehmen.
Sie wissen, daß es neben der Gefahr unbeherrschbarer Reaktorkatastrophen weitere nicht vertretbare Folgen dieser Technik gibt. Atomenergie ist von Anfang bis Ende mit Verstrahlung, Krankheit und Tod verbunden. Bereits beim Uranabbau werden seit Jahrzehnten viele Menschen in vielen Teilen der Erde verstrahlt. In der Umgebung von Atomanlagen treten signifikant mehr Fälle von Leukämieerkrankungen auf. Krümmel und Rossendorf sind nur zwei besondere Beispiele dafür. Sagen Sie den Kindern aus der Elbmarsch oder aus Lohmen, die zur Chemotherapie müssen, die wissen, daß sie vielleicht sterben müssen, doch ins Gesicht, daß das eben das Risiko ist, das sie persönlich zu tragen haben.
Mit dem Atommüll bürden wir den zukünftigen Generationen ein Hunderttausende von Jahren andauerndes Problem auf. Mit jedem Tag, an dem die Atomkraftwerke laufen, werden diese Probleme mehr und mehr.