Rede von
Kurt-Dieter
Grill
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung von Bundesministerin Angela Merkel hat deutlich gemacht, in welch umfassendem Sinn - und eben nicht nur auf Tschernobyl bezogen, Herr Kollege Müller - Fragen der nuklearen Sicherheit von dieser Bundesregierung im internationalen Kontext Schritt für Schritt zu einer gemeinsamen Politik im Sinne einer globalen ' Sicherheitspartnerschaft ausgebaut werden.
Ich denke, daß wir bei aller kritischen Diskussion über das, was die Zukunft betrifft, uns an dieser Stelle schon einmal in Erinnerung zurückrufen sollten, daß es vor fünf Jahren an dieser Stelle noch eine globale Konfrontation gegeben hat und daß wir aus dieser globalen Konfrontation eine globale Partnerschaft gemacht haben, die für alle Menschen ein Mehr an Sicherheit bedeutet.
Das, was wir in dieser Debatte auch zur Kenntnis nehmen müssen - Frau Merkel hat es in ihrer Rede angedeutet -, ist die Tatsache, daß erst mit dem Umbruch 1990, also sozusagen mit dem Verlust der Bipolarität dieser Welt, in Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion die Offenheit eingetreten ist, die uns die Möglichkeit gegeben hat, über Ursache und Wirkung des Unglücks von Tschernobyl nicht nur in Deutschland zu diskutieren, sondern auch dort, wo dieses Unglück stattgefunden hat und wo im Grunde genommen die Dinge wieder in Ordnung zu bringen sind.
Auch wenn, wie gesagt, nicht alle Ergebnisse dieser Konferenz schon so aussehen, wie wir es uns vielleicht vorstellen können, ist festzuhalten, daß die beharrliche Position und die Umsetzung der Initiativen der Bundesregierung uns an diesen Punkt gebracht haben und daß wir auf der Basis gleichberechtigter Partnerschaft jedenfalls eine bessere Chance haben, Herr Müller, als wenn wir im Deutschen Bundestag beschließen wollten, was in Rußland, in Weißrußland, der Ukraine und anderswo in Europa an Energiepolitik zu geschehen hat, ohne auf Befindlichkeiten, technische und wirtschaftliche Möglichkeiten dieser Länder Rücksicht zu nehmen.
Ich behaupte, daß wir, wenn wir Ihre Forderungen, den Kurs der Opposition, zum Maßstab unserer Politik gemacht hätten und machen würden, nicht die Einflußmöglichkeiten auf das hätten, was sich in den Bereichen Technik, Wirtschaft und Sicherheit im Ostblock verändern muß.
Kurt-Dieter Grill
Tschernobyl ist einerseits natürlich ein Vehikel einer nach innen gerichteten Diskussion; denn in Wahrheit - das ist hier wieder deutlich geworden, meine Damen und Herren - versuchen Sie auf dem Hintergrund von Tschernobyl die Kernenergiedebatte in Deutschland zu gestalten und vergessen dabei andererseits, daß dies ein Kurs der Anmaßung und der Belehrung ist, alles besser zu wissen und alles besser zu können als diejenigen, die Verursacher und, ich füge hinzu: massiv betroffene Opfer ihrer Politik gewesen sind.
Das Leid der Menschen darf nicht die Grundlage vordergründiger Argumente und polemischer Attakken auf diese Bundesregierung sein, die für das Unglück von Tschernobyl nicht verantwortlich ist.
Dies ist in einem gewissen Sinne sogar eine Verhöhnung der Opfer von Tschernobyl, wo sie vorgibt, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein.
Unsere Verantwortung ist, die Folgen zu beseitigen, das zu verändern, was geändert werden muß, und den betroffenen Menschen, insbesondere den Kindern, mit unserer Hilfe wieder eine Zukunft zu geben.
Der Weg der Opposition in diesem Hause ist eher der Weg des Ausblendens aus der internationalen Sicherheitsdebatte. Ich bestreite nicht, daß die Frage des Reaktorunglücks von Tschernobyl nicht nur eine Frage der technischen Ursachen und ihrer Wirkungen ist, sondern es ist zugleich eine Diskussion über die Frage des politischen Systems, die Frage der Entwicklung einer demokratischen Ordnung, in der die Gewalten getrennt sind, in der wir zur Kenntnis nehmen, daß uns Technik nicht in den Stand versetzt, alles zu machen, und daß das Risiko auch der Wegbegleiter von Technologie ist.
Es gibt einen schmalen Grad nicht nur bei der Kernenergie, sondern in vielen anderen Bereichen auch, wo der Nutzen der Technik, die wir nutzen, und das Risiko nebeneinanderliegen. Wir werden immer wieder vor dieser Herausforderung stehen. Ich denke, daß wir in diesem Sinne die Sorgen der Menschen in Tschernobyl zu unseren Sorgen gemacht haben.
Es ist bei aller Schwierigkeit notwendig, daß die Ängste der Menschen, die dadurch entstanden sind, nicht durch eine Überbetonung dieser Ängste, sondern durch den Versuch einer rationalen Diskussion bekämpft werden müssen. Ich denke, daß in diesem Sinne die Wiener Konferenz ein erster erfolgreicher Schritt der offenen Diskussion war. Die Kritik, die Sie an der Wiener Konferenz geäußert haben, unterläßt vollkommen die Betrachtung, was es eigentlich bedeutet, daß in diesem Umfang, in diesem Ausmaß diejenigen, die in Tschernobyl für Technik und vieles andere verantwortlich sind, heute offen mit den Vertretern des Westens darüber diskutieren, was zu tun ist.
Ich meine, daß die Konsequenzen, die wir aus dem Unglück in Tschernobyl in Deutschland gezogen haben, die richtigen gewesen sind im Sinne einer Überprüfung unserer Sicherheit, im Sinne einer Vorsorge für das, was zur Krisenbeherrschung dazugehört, aber auch das, was zur Weiterentwicklung unserer Sicherheitstechnik gehört.
Die Rolle Deutschlands in dieser Diskussion der Bewältigung der Folgen von Tschernobyl sollte nicht ohne ein ausdrückliches Lob an all diejenigen privaten und kirchlichen Einrichtungen in unserem Lande betrachtet werden, die sich der menschlichen Aufarbeitung der Probleme von Tschernobyl zugewandt haben
und dieses in einer sehr aufopferungsvollen und manchmal sehr stillen und wenig auf Publizität ausgerichteten Art und Weise getan haben.
Ich denke aber auch, daß die internationale Hilfe, wie wir sie nach dem G-7-Gipfel in Moskau zur Kenntnis nehmen können, nicht zuletzt nur denkbar gewesen ist auf dem Hintergrund der Initiativen des Bundeskanzlers, der Organisationen der internationalen Hilfe, auch durch die Bundesrepublik Deutschland, und daß wir selber Maßstäbe gesetzt haben für das, was man im Sinne von internationaler Solidarität voreinander bringen muß.
Dies ist zugleich die Chance, die politischen Veränderungen im Osten zu nutzen, um offene Diskussion zu führen und gleichzeitig eine neue Energiepolitik zu installieren.
Es ist unbestreitbar, daß wir uns durchaus ein schnelleres Tempo der Veränderungen bei der Frage der Nachrüstung der problematischen Reaktoren in der Sowjetunion, in der Ukraine vorstellen können. Aber es ist ebenfalls unbestreitbar - dies macht auch der Bericht der Bundesregierung deutlich -, daß die energiepolitische Hilfestellung für die Ukraine, für Rußland, für Weißrußland und andere Staaten nicht allein auf die Kernenergie ausgerichtet ist, sondern auch auf die Wasserkraft, Kohleeffizienz, Gaskraftwerke und vieles andere.
Wer Verantwortung an dieser Stelle einfordert, muß auch Verantwortung selber wahrnehmen. Die Situation in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wird nicht nur von der Aufarbeitung der Technologie bestimmt, sondern man muß zugleich zur Kenntnis nehmen, daß die ökonomischen Bedingungen in diesen Ländern eine wichtige Voraussetzung dafür sind, das Ziel der Sicherheit auf höchstem Niveau zu erreichen.
Die Gesprächspartner in Rußland und anderswo werden uns nicht folgen, wenn sie unsere Forderungen nicht nachvollziehen können. Sie müssen nachvollziehbar bleiben, weil der wirtschaftliche Fortschritt, der mit der Energieversorgung unmittelbar und untrennbar verbunden ist, zugleich die Voraussetzung dafür ist, daß es in Osteuropa zu stabilen De-
Kurt-Dieter Grill
mokratien kommt. Diese Veränderung des politischen Systems ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß wir nicht wie früher Genehmigungsbehörde, Betreiber und Antragsteller auf einer Seite und in einem Hause haben, sondern daß es zu einer Gewaltentrennung kommt und auch zu einer verbesserten Kontrolle dessen, was dort betrieben wird.
Ich werfe der Opposition an dieser Stelle vor, daß sie die Eigenständigkeit und die politische Eigenverantwortung im Grunde genommen vernachlässigt. Ich will hier nur hinweisen auf das Beispiel Mochovce. Wir haben hier, genauso wie Sie das für Tschernobyl und die nachfolgenden Einrichtungen tun, von Ihnen einen großartigen Maßnahmenkatalog vorgelegt bekommen, mit der Forderung, daß die Slowakei das tun soll, was wir hier im Deutschen Bundestag beschließen. Die Slowakei hat auf die Kredite der EBRD verzichtet. Sie macht das jetzt aus eigener Kraft, und sie macht es so, wie sie es will.
Dies ist genau der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik: Wir nehmen die Leute so, wie sie sind, wie sie in ihrer politischen und psychologischen Befindlichkeit sind, und versuchen, von dort aus eine Partnerschaft aufzubauen. Sie versuchen, von hier aus zu bestimmen, was freigewählte Parlamente nach 70 Jahren kommunistischer Diktatur selber beschließen sollen. Dies sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Deutschland hat sich in dieser Frage massiv finanziell engagiert.
- Herr Fischer, ich hatte nicht die Hoffnung, daß ich Sie heute morgen überzeugen könnte. - Deutschland steht an der Spitze aller, die sich finanziell engagieren. Aber ich denke, daß die Frage der Aufarbeitung von Tschernobyl, die Frage von mehr Sicherheit im nuklearen Bereich, nicht nur eine Frage des Geldes ist, das wir geben. Vielmehr geht es zugleich um die Frage, die Einsicht in das Notwendige dort zu veranlassen und zu befördern, wo die Dinge in Ordnung gebracht werden müssen, und Eigenverantwortung da zu installieren, wo früher auf Verschleiß gewirtschaftet worden ist.
Von der Blockade zur Sicherheitspartnerschaft in den letzten fünf Jahren ist ein, zeitlich gesehen, kurzer Weg. Aber wir im Deutschen Bundestag können nicht ignorieren, wenn sich in Rußland die Duma mit großer Mehrheit für die Weiternutzung der Kernenergie einsetzt. Dann ist unser Recht auf Einflußnahme begrenzt, und wir sollten in die Bekenntnisse über die Machbarkeit, die Sie, Herr Müller, hier ablegen, mit einschließen, daß wir nicht die besseren Menschen sind, sondern daß wir genauso Schwierigkeiten haben können wie diejenigen, über deren Schicksal wir hier reden.
Die Forderung nach Sensibilität gegenüber russischen Interessen ist eine Forderung, die Sie an anderer Stelle stellen. Wenn man die Rolle Deutschlands mitten in Europa insgesamt so beschreiben will, daß wir, auch mit Rücksicht auf unsere Vergangenheit, mit Bescheidenheit auftreten sollen, was alle anderen Fragen der Sicherheitspartnerschaft in Europa betrifft, dann frage ich mich allen Ernstes, warum Sie auf dem einen Feld uns dazu veranlassen wollen, bescheiden aufzutreten und die Eigenständigkeit Rußlands und seine Bedeutung als ehemaliger Weltmacht mit all den Folgen, die damit verbunden sind, zur Kenntnis zu nehmen, dann aber andererseits in den Fragen der Energiepolitik aus der Mitte dieses Bundestages heraus diesen Ländern vorschreiben wollen, was sie zu tun haben.
Dies sind die zwei Seiten der gleichen Medaille.
Es geht doch nicht nur - wie Sie das immer darstellen - um das Problem des Exports westlicher Technologien. Wenn Sie sich die konkreten Hilfsprogramme anschauen, dann geht es darum, die Menschen dort, wo sie leben, wo sie arbeiten, in die Lage zu versetzen, Sicherheit in bezug auf Technik selber zu produzieren, dadurch Beschäftigung zu sichern und selber für ihre Reaktoren, für ihre und unsere Sicherheit verantwortlich zu sein. Wer zuviel will, wer die Menschen an dieser Stelle überfordert, könnte am Ende den geringeren Erfolg einfahren.
Die gemeinsame Sicherheitsforschung in und für Westeuropa eröffnet uns doch erst die Chancen, die Angela Merkel hier beschrieben hat. In diesem Sinne sollten wir darüber nachdenken, wie wir die Sicherheitspartnerschaft, wie wir die Kontrolle über das, was dort passiert, verbessern können, etwa auch in gemeinsamen Institutionen der OECD.
Dies gilt auch für den bedeutenden Bereich der Sicherheitspartnerschaft bei der sicheren Beseitigung des Waffenplutoniums. Nicht umsonst ist meines Erachtens gerade aus der hessischen Friedensforschung der Vorschlag gekommen, daß Waffenplutonium nicht einfach in Zwischen- oder Endlager gebracht werden soll, wodurch die Unsicherheit und das Risiko des Wiederzugriffs besteht, sondern daß in Anlehnung an das Wort „Schwerter zu Pflugscharen" aus Waffenplutonium Energie hergestellt werden soll, um zwei Ziele damit zu erreichen: erstens sichere Energie und zweitens einen sicheren Verschluß des Waffenplutoniums, damit daraus nie wieder Waffen werden können.
Wer sich dieser Diskussion verweigert, nimmt nicht zur Kenntnis, daß das Risiko eben nicht nur „Tschernobyl" heißt, sondern daß ein Risiko auch darin besteht, daß wir durch die Vernichtung der Waffen ein großes Potential an Nuklearmaterial bekommen. Wenn Sie diese Diskussion so betreiben, wie Sie sie hier im Deutschen Bundestag bisher geführt haben, dann werden Sie weder in Rußland noch in der Ukraine, noch irgendwo sonst Zustimmung zu diesen politischen Forderungen finden, sondern die Menschen und die politische Führung in diesen Staaten werden sich von Ihnen abwenden und sagen: Wir machen es allein; wir lassen uns nicht vorschreiben und diktieren, was wir zu tun haben.
Kurt-Dieter Grill
Dieser Wechsel von der militärischen zur zivilen Nutzung ist meiner Ansicht nach anders zu betrachten als der Zusammenhang, den Sie in der zivilen Nutzung der Kernenergie und dem militärischen Risiko sehen.
Lassen Sie mich noch einmal ganz deutlich darauf hinweisen: Die Welt wird sich nicht nur an der deutschen Befindlichkeit orientieren. Nehmen Sie dies doch einmal zur Kenntnis. Wenn wir nicht versuchen, die politischen Führungen und Menschen in diesen Ländern durch Dialog, durch Gespräche, durch Überzeugung und nicht nur durch Geld und Besserwisserei auf den Weg unserer Sicherheitsphilosophie zu bringen und mit ihnen gemeinsam aus der Konfrontation in eine Partnerschaft überzugehen, dann haben wir die Lehren aus Tschernobyl falsch gezogen.
Am Schluß möchte ich bezüglich der Vorlage der Koalition zwei Aspekte deutlich herausheben:
Erstens. Die gesundheitlichen und psychosozialen Folgen - wie sie auch Kollegin Professor Schuchardt in ihrem Buch beschrieben hat - sind die eine Seite, die deutlich macht, daß sich die Hilfe eben nicht nur auf das Technische beschränken darf, sondern daß wir auch die gesundheitlichen Probleme ernst nehmen müssen.
Zweitens. Nicht nur in Deutschland - so wie die Bundesumweltministerin es beschrieben hat -, sondern auch in Rußland und in der Ukraine muß eine umfassende Energiepolitik durchgeführt werden. Wenn Sie darüber reden, dann sollten Sie eines zur Kenntnis nehmen - ich will das bewußt an den Schluß stellen -: Wer zum Beispiel fordert, daß die Ukraine aus der Kernenergie aussteigen und in die Energieproduktion durch Gaskraftwerke einsteigen soll, der fordert zwar technisch etwas Richtiges. Er vergißt aber möglicherweise, daß auch die Befindlichkeit der Ukraine hinsichtlich der Abhängigkeit von Rußland als Faktor in unsere Überlegungen mit einzubeziehen ist.
Meine Damen und Herren, das Fazit heißt also: Wir sollten uns in diesem Hause nicht anmaßen zu wissen, was diejenigen, die von Tschernobyl unmittelbar betroffen sind, zu tun haben, sondern im Sinne von Partnerschaft und Gleichberechtigung unsere Hilfe anbieten, damit die Menschen unsere Wünsche, unsere Ängste, aber auch unsere Anliegen ernst nehmen und mit uns gemeinsam handeln.
Danke schön.