Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht gut, daß wir über diese beiden Anträge auf Einsetzung von Enquete-Kommissionen heute hintereinander diskutieren.
Viele von Ihnen wissen nicht, daß die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ganz zu Beginn der Legislaturperiode einen Antrag auf eine Enquete „Neugestaltung der Arbeit" eingebracht hatte. Damals ist uns im Verfahren, in den Verhandlungen gesagt worden, die Geschäftsführer hätten sich darauf geeinigt, daß die Zahl der Enqueten während dieser Legislaturperiode aus Kostengründen auf vier beschränkt sein sollte. Wir haben deswegen die Enquete im Verfahren gelassen, aber sie nicht auf die Tagesordnung setzen lassen, weil wir davon ausgegangen sind, daß innerhalb der Legislaturperiode eine der Enqueten zum Abschluß kommen würde und wir dann dieses Thema erneut aufrufen könnten.
Die Tatsache, daß die Fraktion der SPD von sich aus eine fünfte Enquete fordert, nämlich die Enquete „Sekten", bedeutet, daß das Feld offensichtlich wieder geöffnet ist, daß die Maxime, es solle nur vier Enqueten geben, nicht mehr gilt. Deswegen bringen wir unseren Antrag jetzt hier ein, damit er im Geschäftsordnungsausschuß noch einmal verhandelt werden kann.
Unseren Antrag auf Einrichtung einer Enquete hatten wir eingebracht - und ich möchte noch einmal betonen, daß das zu Beginn der Legislaturperiode, vor dem „Bündnis für Arbeit", war -, weil wir zu der Einschätzung gekommen waren, daß die Arbeitswelt vor dramatischen Veränderungen steht, die wir gar nicht alle überblicken und bei denen wir zum Teil nicht übersehen können, was an gesetzgeberischen und ordnungspolitischen Initiativen dieser veränderten Arbeitswelt folgen müßte. Niemand von uns - ich glaube, wenn wir ehrlich sind, können wir uns das zugestehen - weiß wirklich genau, wie, in welche Richtung sich Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnisse, Arbeitsstrukturen und Arbeitsorganisationen in den kommenden Jahren verändern werden.
Wir wissen alle, daß es rasante Veränderungen gibt, wir wissen aber zum Beispiel nicht einmal, wie sich das viel beschworene Verhältnis von Dienstleistungssektor und industriellem Sektor in unserer Gesellschaft verschieben wird. Eines jedenfalls ist klar: Das Normalarbeitsverhältnis der klassischen, alten Form, das sich um die Jahrhundertwende herausgebildet hat, ist dabei, zu erodieren. Von konservativer Seite und auch von seiten der Unternehmerverbände ist diese Erosion auch politisch gewollt. Sie ist die Antwort auf die hohe Erwerbslosigkeit. Die Antwort erfolgt im Bereich Deregulierung, Absenkung der Standards, Flexibilisierung, auch im Bereich der Modelle des Längerarbeitens. All das ist in der Debatte.
Dem wird von der anderen Seite des Hauses ein anderer Gesellschaftsentwurf entgegengehalten, der vor allen Dingen fordert, daß Arbeit gerade dort, wo sie sich im Erwerbsbereich offensichtlich reduziert und zu einem knappen Gut wird, neu und umverteilt wird. Das brauchen wir nicht nur wegen der Erwerbslosen; das brauchen wir auch, weil sich das Geschlechterverhältnis ändert und Frauen es nicht mehr hinnehmen, daß sie in so starkem Maße vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, wie dies nach wie vor der Fall ist. Darüber haben wir in der vergangenen Woche hier debattiert.
Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses - man kann es auch positiv als Ausdifferenzierung bezeichnen - führt zu vielen Formen von Beschäftigungsverhältnissen, für die es bis heute keine korrespondierende Gesetzgebung gibt. Ich nenne nur die ungeschützte Beschäftigung - damit quälen wir uns bis zum heutigen Tage herum -, die Heim- und Telearbeit, die Leiharbeit sowie Scheinselbständigkeiten als vier Beispiele für diese Erosion, der wir politisch wenig entgegenzusetzen haben.
Außerdem hat diese Erosion weitreichende Auswirkungen auf die Einkommensverhältnisse und die soziale Sicherung. Hinsichtlich der Einkommensverhältnisse wird nach wie vor davon ausgegangen, daß das Normalarbeitsverhältnis, die Vollerwerbstätigkeit, der Einkommenssicherung dienen muß. Wenn aber genau dieses Normalarbeitsverhältnis erodiert, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Einkommen nicht mehr über Lohnerwerb sichern können, stetig zu. Das ist in der Gesellschaft auch zu beobachten und erfordert eine korrespondierende gesellschaftspolitische Tätigkeit zur Gestaltung von Transferabkommen und zur Absicherung von Existenzen.
Das gilt auch für das gesamte soziale Sicherungswesen, das an eine Vollerwerbsbiographie angelehnt ist, die sich 40 Jahre lang durchgängig durch das Leben zieht. Darauf bauen die Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und alle anderen sozialen Sicherungssysteme auf. Wir reden alle vom Umbau des Sozialstaates; wenn wir aber ehrlich sind, wissen wir nicht, wie nun dieser Umbau des Sozialstaates, wenn er kein Abbau sein soll, mit dieser Ausdifferenzierung wirklich korrespondieren müßte und welche Maßnahmen anzustreben sind, um das soziale Sicherungssystem, das sich tendenziell vom Erwerbssystem löst, neu zu stricken, damit die Menschen, die auf dieses System angewiesen sind - sei es in Erwerbsunterbrechungen, sei es im Alter -, nicht in Armut fallen.
Die Ausdifferenzierung der Arbeitsverhältnisse bringt auch die Notwendigkeit mit sich, das Arbeitszeitrecht neu zu regeln. Flexibilisierung ist ja schön und gut. Aber es kann hier niemand bestreiten, daß Flexibilisierung auch eine Gefahr für die Arbeitnehmer mit sich bringt, wenn sie ihre Zeit vollkommen den Bedürfnissen der Unternehmen unterwerfen sollen, wenn also nicht den Flexibilisierungsbestrebungen der Unternehmen auf der einen Seite das Recht auf Zeitsouveränität auf seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entgegengestellt wird. Auch hier brauchen wir ein modernes Arbeitszeitrecht, das den veränderten Verhältnissen entspricht.
Marieluise Beck
Auf das Geschlechterverhältnis bin ich eben kurz eingegangen. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in der Praxis eher ein Mythos. Die Neuverteilung der Arbeit auch zwischen Männern und Frauen bedeutet, daß die Arbeitsstrukturen und die Arbeitszeitverhältnisse ganz einschneidend verändert werden müssen, damit für Männer und Frauen ein Leben mit Kindern und Beruf auch wirklich möglich ist, damit Optionen dafür eröffnet werden, damit Ein- und Ausstiege hergestellt werden, damit Unterbrechungen und Wiedereinstiege möglich werden, ohne daß dies mit Erwerbslosigkeit bezahlt werden muß.
Auch das Arbeitsvertragsrecht steht vor neuen Anforderungen. Die Arbeitswelt verändert sich in ihrer Organisation extrem. Das hat viel mit den Informations- und Kommunikationsmedien zu tun. Der alten tayloristischen Fertigung haben als Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerseite vor allen Dingen gewerkschaftliche, also kollektivrechtliche Ansätze entsprochen. Diese werden aufgeweicht, weil die Arbeitsorganisation immer stärkere Individualisierungen mit sich bringt. Dem muß auch eine Zunahme von individualisierten Schutzrechten auf seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsprechen, und diese neuen Schutzrechte müssen neben die kollektivrechtlichen Schutzrechte gestellt werden, damit nicht diejenigen durch die Maschen fallen, die eben nicht mehr von diesen Kollektivrechten geschützt werden können.
Es geht also um Reregulierung statt Deregulierung.
All das sind große Regelungsbereiche. Die Wissenschaftler, die in diesem Bereich forschen, sagen, daß diesem Hause eigentlich riesige Gesetzesnovellierungen gut anstünden, daß aber im Parlament und in den Fraktionen nicht die erforderlichen Kapazitäten vorhanden seien, zumal noch nicht vollkommen klar sei, wie diese denn tatsächlich in der Ausdifferenzierung aussehen müßten.
Ich möchte nur ganz kurz auf die Entsenderichtlinie verweisen. Die Entsenderichtlinie ist ein winziger Ausschnitt des europäischen Arbeitsrechts, das wir eigentlich bräuchten. Wir alle haben gesehen, wie schwer sich die Regierung und das Parlament getan haben, um nur diesen kleinen Bereich so zu regeln, daß er den realen Veränderungen in der Gesellschaft entspricht.
Das alles führt uns zu der Schlußfolgerung, daß wir - ich erwarte, daß das gleich als Argument kommt - nicht behaupten können, wir wüßten, wo die Probleme auf dem Arbeitsmarkt lägen; jetzt sei Handeln angesagt. Eine Enquete-Kommission widerspricht nicht der Notwendigkeit, gegen millionenfache Erwerbslosigkeit jetzt tätig zu werden. Trotzdem müssen wir uns, wenn wir nicht blind von einem Stöckchen zum nächsten hüpfen wollen, in diesem Haus Zeit für Reflexion nehmen, für die Auseinandersetzung darüber, wo die Arbeitswelt hingeht und was geleistet werden muß - auch im ordnungspolitischen Raum -, um der sich verändernden Arbeitswelt ein modernes Recht gegenüberzustellen.