Rede von
Renate
Rennebach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Sekten und Psychogruppen brennt unter unseren Nägeln. Es ist allerhöchste Zeit, daß wir uns hier im Deutschen Bundestag damit beschäftigen und damit die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Problemfeld endlich auch dorthin bringen, wo sie im Grunde genommen schon wesentlich früher hingehört hätte.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über den Antrag der SPD-Fraktion, eine EnqueteKommission zum Thema „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" beim Deutschen Bundestag einzusetzen. Ich möchte Ihnen gern nochmals die Gründe erläutern, warum wir eine solche Kommission für das einzig vernünftige und richtige Gremium auf der bundespolitischen Ebene halten. Zugleich möchte ich mit diesen Argumenten nachdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dafür werben, diesem Antrag zuzustimmen.
Es darf nicht passieren, daß dieses Thema - hier appelliere ich eindringlich an alle Kolleginnen und
Renate Rennebach
Kollegen -, bei dem es unter Demokraten in der Zielsetzung eigentlich keinen Dissens geben kann, in die parteipolitischen und parteitaktischen Tretmühlen gerät. Denn niemand - das muß uns allen klar sein - außer den Sekten und Psychogruppen selbst würde davon profitieren.
Wir alle wissen, daß eine Enquete-Kommission immer dann das richtige Instrumentarium ist, wenn wir es mit einem Problemfeld zu tun haben, das erstens grundlegende und gesellschaftliche Bedeutung sowie ebenso grundlegende und gesellschaftliche Ursachen hat, bei dem zweitens neben kurzfristigem Handlungsbedarf auch hinsichtlich der perspektivischen Entwicklung Regulierungsnotwendigkeiten bestehen
und bei dem schließlich drittens externer Sachverstand - in weit größerem Maße als bei dem Zwischenrufer - hinzugezogen werden muß, und zwar bei der Erstellung einer fundierten Problemanalyse und der darauf aufbauenden Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber.
Diese drei Punkte, meine Damen und Herren, sind beim Thema Sekten und Psychogruppen unzweifelhaft gegeben. Wir stehen vor der Situation, daß Menschen in psychische und finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse getrieben werden, daß Kinder stundenlang mit Silikonstöpseln in den Ohren und mit verbundenen Augen meditieren müssen, daß schlimmste Ängste geschürt werden und Menschen übelsten Praktiken der psychischen Indoktrination ausgesetzt sind, die dann zum Beispiel dazu führen, daß sie sich prostituieren oder gar ihre Kinder für sexuelle Abartigkeiten zur Verfügung stellen. Wir stehen vor der Situation, daß Menschen notwendige medizinische Hilfe verweigert wird, daß Familien zerstört werden, daß ganze Wirtschaftszweige unterwandert und Betriebe in den Konkurs getrieben werden
und - das sage ich vor allem im Hinblick auf das Jahr 2000 und vor dem Hintergrund entsprechender Informationen, die uns vorliegen - daß sogar Massenmorde oder Massenselbstmorde, von denen unser Land bisher glücklicherweise verschont geblieben ist, zu befürchten sind.
All dies kann und darf unseres Erachtens nicht geschehen - auch nicht, wenn es angeblich oder tatsächlich Teil einer Religionsausübung ist.
Meine Damen und Herren, wer Verantwortungsbewußtsein für sich reklamiert, dem muß klar sein, daß wir dem nicht länger tatenlos zusehen dürfen. Wir müssen endlich Abschied nehmen von der Haltung, wir hätten es nur mit einem größer gewordenen Markt der Religionen und Weltanschauungen zu tun und daher mit einer Entwicklung, die den Staat nichts angehe, sondern nur die Kirchen. Uns geht es wohlgemerkt nicht darum, uns in religiöse Angelegenheiten einzumischen, etwa in der Form, daß wir zwischen guten und schlechten Religionen unterscheiden. Es wird auch nicht in jedem Falle leicht sein, zwischen tatsächlichen und angeblichen Religionen und Weltanschauungen zu unterscheiden. Es muß aber klar sein, daß wir Kriterien dafür finden müssen, wann bestimmte Praktiken für den einzelnen gefährlich sind und wann, wie zum Beispiel bei Scientology, als Religionsgemeinschaft getarnte Organisationen mit ihren totalitären und faschistoiden Zielsetzungen eine Gefahr für unsere demokratische Grund- und Werteordnung darstellen.
Deshalb geht es uns auch nicht darum, als verlängerter Arm der Kirchen deren Geschäft zu betreiben und ihnen dabei zu helfen, lästige Konkurrenz auszuschalten. Nein, meine Damen und Herren, uns geht es darum, eben diese in Art. 4 unseres Grundgesetzes verbriefte Religionsfreiheit zu schützen. Wir können und wollen es nicht zulassen, daß mit diesem wertvollen Grundrecht, einem zentralen Element unserer demokratischen Gesellschaftsordnung, Schindluder getrieben wird, daß es mißbraucht wird und daß sein wahrer Sinn und Zweck quasi durch die Hintertür immer weiter ausgehöhlt wird. Nicht die Religionsfreiheit ist das Problem, sondern ihr Mißbrauch, meine Damen und Herren. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich betonen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich unseren Antrag ansehen, dann erkennen Sie vier wesentliche Auftragselemente für die von uns beantragte Enquete-Kommission:
Erstens. Erstellung einer grundlegenden, umfassenden und bewertenden Analyse der in der Bundesrepublik agierenden sogenannten Sekten und Psychogruppen, und zwar unter Einbeziehung der verstreut bei staatlichen, kirchlichen und privaten Stellen vorhandenen Informationen und Materialien. Eine solche Analyse fehlt schlichtweg. Aber ohne eine Definition des Problembereichs, ohne eine Auflistung der Einzelprobleme werden wir über das Stadium des Troubleshootings oder des Kaffeesatzlesens nicht hinauskommen bzw. mit Schnellschüssen operieren, die niemandem helfen.
Bei geschätzten 600 Sekten und Psychogruppen mit etwa 2 Millionen Anhängern reicht es eben nicht, nur über die Gefährlichkeit von Scientology zu lamentieren und nach dem Verfassungsschutz zu rufen, wie die Minister Blüm und Frau Nolte es tun. Da muß mehr her, nicht nur in bezug auf diese Organisation, sondern auch in bezug auf die 599 anderen mit den von ihnen verursachten Problemen; denn diese fühlen sich in der Zwischenzeit pudelwohl im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit von Scientology.
Der zweite Arbeitsschwerpunkt für die Kommission muß nach unserer Vorstellung sein, die Gründe für die Mitgliedschaft in einer Sekte oder Psychogruppe herauszuarbeiten und damit auch die
Renate Rennebach
Gründe für das stetige Ausbreiten dieser Organisationen. Es reicht eben nicht, nur mit den Begriffen „Orientierungslosigkeit" und „zunehmende Individualisierung " zu jonglieren. Das erklärt nämlich nichts. Es impliziert zudem, daß nur Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur in die Fänge solcher Gruppierungen geraten können, und das ist eben falsch.
Was wir statt dessen dringend brauchen, ist eine fundierte, eine vor allem soziologische Antwort auf die Frage: Welche Bedingungen sind dafür verantwortlich, daß immer mehr Menschen in die Fänge von solchen Organisationen geraten, und zwar nicht nur Jugendliche, liebe Frau Ministerin Nolte, sondern Menschen aller Altersklassen und sozialer Schichten? Das Thema ist heute nämlich kein vorwiegend jugendpolitisches Problem mehr, als das es noch vor etwa 20 Jahren angesehen werden konnte, und die Gruppen, mit denen wir es zu tun haben, sind auch keine Jugendsekten. Allein die immer noch und nicht zuletzt auch von der Bundesregierung immer wieder verwendete Bezeichnung „Jugendsekten" zeigt schon, wie überfällig eine solche von uns geforderte Analyse ist. Wenn Sie ein Beispiel brauchen, dann sage ich Ihnen: Scientology interessiert sich für jeden, der Geld bringt, und dazu gehören in der Regel die Jugendlichen nicht.
Den dritten Schwerpunkt unseres Auftrags für die Enquete-Kommission sollen die unterschiedlichen Probleme bilden, die eine Mitgliedschaft in einer Sekte oder Psychogruppe mit sich bringt, und zwar sowohl für die Mitglieder selbst als auch für deren Angehörige - ich denke zum Beispiel an die vielen Sorgerechtsfälle - und für Unternehmen, Verbände und andere Institutionen. Dort reichen die Probleme von Werbeaktivitäten einzelner Mitglieder bis hin zu systematischen Strategien zur Unterwanderung ganzer Unternehmen oder gar Wirtschaftszweige.
Zu diesem Arbeitsschwerpunkt zählt aber auch die in der öffentlichen Diskussion bislang fast gänzlich vernachlässigte Frage der Regelung bzw. Bereitstellung eines Angebotes für Beratung und Information, für Ausstiegshilfen, für Hilfen zur Wiedereingliederung und auch der psychologischen und psychosozialen Betreuung.
Uns ist die verfassungsrechtliche Problematik bei einem staatlichen Engagement durchaus bewußt. Uns ist aber auch bewußt, daß wir dringend eine Lösung finden müssen. Denn es kann nicht länger angehen, daß wir diese Aufgaben auf private Initiativen abwälzen, die sich eher zufällig irgendwo gebildet haben und nicht selten auch überfordert sind.
Auch das bestehende kirchliche Angebot darf und kann ein staatliches Engagement nicht ersetzen. Hier sind wir und - ich muß mich da nochmals kritisch an die Regierung wenden - auch der Bund in der Pflicht. Der Bund kann sich nicht länger aus der Verantwortung in der Sektenpolitik stehlen. Es sind eben nicht immer nur die Länder, Kommunen oder Kirchen, die die Probleme lösen sollen. Es handelt sich vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der alle an einem Strang ziehen müssen und die wir nicht gelöst bekommen, wenn einer, nämlich der Bund, permanent ausfällt und nicht mitzieht.
Kolleginnen und Kollegen, den vierten Arbeitsschwerpunkt in unserem Antrag haben wir mit „Aufarbeitung der bisherigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen" überschrieben. Damit soll die Aufgabe umrissen sein, ohne Vorbehalte, ohne politisch-ideologische Brille, sachlich, aber auch kritisch - durchaus auch selbstkritisch - und vor allem unter Einbeziehung aller notwendigen Institutionen zu Empfehlungen an den Deutschen Bundestag zu kommen, die dem vielschichtigen Problemfeld und dem ebenso vielfältigen Handlungsbedarf angemessen und auch wirkungsvoll Rechnung tragen.
Ich sage nochmals: Wir halten eine Enquete-Kommission für das einzig sinnvolle parlamentarische Gremium; denn nur diese kann die skizzierten Aufgaben angemessen angehen. Nur eine EnqueteKommission - das sage ich in Richtung der Kolleginnen und Kollegen, die zumindest in der Vergangenheit alternativ einen Unterausschuß gefordert haben - hat einen Auftrag, der erstens klar definiert, zweitens zeitlich begrenzt und drittens auch das notwendige Maß an Transparenz bei der anstehenden Arbeit hat.
Wer sogar glaubt - auch davon soll es in diesem Haus Verfechter geben -, durch die Vergabe von Gutachten zu gleichen, aber kostengünstigeren Ergebnissen zu kommen, der muß nicht nur bereits über das notwendige umfassende Grundlagenwissen verfügen, sondern auch eine ebenso umfassende Konzeption haben, bei der nur noch die Fragen der Umsetzung zu klären sind. Dann frage ich, warum uns die ganze Zeit all diese wichtigen Informationen vorenthalten worden sind. Wer das, was wir brauchen, schon hat, nämlich eine substantielle Analyse und eine umfassende Konzeption, der möge sie doch bitte hier und heute auf den Tisch legen und sie erläutern.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich Sie noch einmal alle auffordern, unserem Antrag auf Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission zuzustimmen. Lassen Sie uns versuchen, aus einer gemeinsamen Aufgabe auch eine gemeinsame Sache zu machen!
Wenn Sie für die Enquete stimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen - dies ist mein letzter Hinweis -, dann bleibt Ihnen in Zukunft auf jeden Fall das erspart, was nun der Bundesregierung auf Grund ihrer, ich sage es einmal sehr höflich, nicht sonderlich aktiven und erfolgreichen Sektenpolitik widerfahren ist, nämlich daß Sie in einem Schreiben von Scientology, das heute allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages zugegangen ist, für deren Zwecke mißbraucht werden. Denn Scientology führt unter anderem Ergebnisse von Studien an, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben haben soll, um uns alle von der Harmlosigkeit dieser Organisation und der Unbegründetheit des SPD-Antrages zu überzeugen. Ich
Renate Rennebach
bin davon überzeugt, daß wir alle uns so etwas ersparen sollten, und hoffe, Sie stimmen zu.
Vielen Dank.