Liebe Frau Blank, ich beantworte zuerst Ihre erste Frage: Ich habe Sie gerade in meinen Ausführungen ausdrücklich ausgenommen, und zwar deshalb, weil ich Ihnen sehr dankbar war, daß Sie als einzige auf die Schäden und Probleme hingewiesen haben. Die Einzelhändler in meiner Familie tun das auch. Das tun alle - wenn Sie so wollen - ernsthafte Leute, die sich mit dem Problem auseinandersetzen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Mir sind die Vorschläge bekannt. Ich darf noch einmal festhalten, was Sie vielleicht auch Ihrem Kollegen Röttgen gelegentlich sagen sollten: daß Entkriminalisierung in diesen Vorschlägen gerade nicht verlangt wird, sondern daß es um eine andere Form der Strafverfolgung geht, um eine, die wirksamer ist, die flächendeckend greift, die nicht selektiv wirkt und die tatsächlich das, was man gegen Ladendiebstahl und Schwarzfahren tun kann, auch durchsetzt. Dazu sage ich gleich etwas. Ich würde Sie bitten, meine weiteren Ausführungen einmal anzuhören.
Ladendiebstahl verursacht erstens extrem viele Schäden, frustriert zweitens die Polizei, weil die feststellt, daß sie ermittelt und dann meistens für den Papierkorb der Justiz arbeitet. Drittens verärgert er die Einzelhändler, weil die feststellen: Es passiert gar nichts, wenn sie einen Ladendieb erwischt haben und anzeigen.
Diese Umstände fordern uns alle zum Handeln auf. Deswegen, nachdem das jetzt schon zum drittenmal so ist, auch der Vorwurf an die Kollegen im Rechtsausschuß, soweit sie der CDU/CSU oder auch der F.D.P. angehören: Wir alle sind wirklich gefordert; wir müssen wirklich etwas dagegen tun. Ihre dummen Polemiken haben überhaupt keinen Wert.
- Nein, Sie haben in diesem Punkt meines Erachtens wirklich unrecht. Das werden Sie aber auch wissen. Sie haben ja nicht umsonst Ihren schwachen Wahlkampfantrag hier mit eingebracht.
Jetzt lassen Sie mich noch einmal wiederholen, wie es bei der Polizei aussieht. Damit Sie wissen, worum es hier geht, greife ich jetzt die Zahlen aus BadenWürttemberg auf. Das wird Ihnen, Herr Hornung, recht sein, weil Sie wissen, daß dort der jüngere Bruder Ihres Fraktionsvorsitzenden Justizminister ist und weil Sie dann vielleicht auch einsehen, daß es Probleme gibt.
Die Probleme sind folgende: Der Innenminister Birzele hat sich bei der Einsetzung des Polizeidirektors von Pforzheim vor 14 Tagen darüber beschwert,
Dr. Herta Däubler-Gmelin
daß die Polizei frustriert sei, weil sie keine Lust mehr habe, für den Papierkorb der Justiz zu arbeiten. Warum hat er dieses gesagt? - Er hat die Zahlen angeführt und hat gesagt: Alleine im Jahr 1994 sind in Baden-Württemberg von der Justiz 84 000 von der Polizei ausermittelte Verfahren wegen Ladendiebstahls eingestellt worden. In Prozentzahlen - das ist übrigens die Statistik des Justizministers von BadenWürttemberg - heißt das: 25 Prozent dieser Ladendiebstähle wurden ohne jeden Strafbefehl und ohne Anklageerhebung, 33 Prozent durch die Staatsanwaltschaft ohne eine Auflage eingestellt. Das heißt auf deutsch: Zwei Drittel der von der Polizei mit Hilfe der Einzelhändler ermittelten Straftäter sind nicht verfolgt worden.
Herr Hornung, auch Sie werden dann zustimmen, daß man dagegen etwas tun muß.
- Natürlich steckt da etwas dahinter. Darauf komme ich gleich zu sprechen. Mir wäre es schon recht, wenn Sie endlich einmal mit mir der Meinung wären, daß man einen solchen Antrag, wie Sie es getan haben, nicht formulieren kann, wenn man sich mühsam für die Einzelhändler und gegen die Ladendiebe einsetzen will. Dann muß man zusammen mit den Justizministern und mit den Fachkollegen, die davon etwas verstehen, vernünftige Änderungsvorschläge machen.
Alles auf die Landesjustiz zu schieben geht nicht. Auch die Justizminister sagen: Es tut uns furchtbar leid, wir bekommen keine Stelle mehr. Das stimmt. Deswegen habe ich es nicht ganz verstanden, daß Sie sich, Herr Bundesjustizminister, soeben darauf beschränkt haben, den Ländern zu raten, sie sollten weniger Leute einsparen. Es dürfte doch gerade hier im Bundestag nicht unbekannt sein, daß gespart werden muß, und zwar auch in jedem einzelnen Land, in jedem einzelnen Behördenbereich, auch auf Bundesebene. Das heißt: Die Frage der Stellenvermehrung stellt sich nicht. Sie verbreiten schon wieder eine Illusion, indem Sie sagen: Die Justiz könnte konsequent verfolgen, wenn sie mehr Leute einstellte. - Das wird nicht gehen.
Hinzu kommt noch etwas anderes - das hat Herr Beck sicherlich gemeint; jedenfalls nehme ich das an -: die Schwerpunktressourcen, die Mittel für die Kriminalitätsbekämpfung, wenn schon nicht die Stellenzahlen vergrößert werden können, dürfen nicht schwerpunktmäßig im Bereich der Kleinkriminalität angesetzt werden, sondern sind bei der Gewaltbekämpfung und bei der Bekämpfung von Vermögenskriminalität anzusetzen.
Wenn Sie das wie auch wir durchsetzen wollen und zustimmen, daß es dafür nicht mehr Leute gibt, dann müssen Sie die Frage beantworten: Was können wir im Bereich der Kleinkriminalität rechtlich verändern, damit hier Rechtssicherheit und zusätzlich die Strafverfolgung im Bereich der Schwerpunktkriminalität möglich wird? Das ist doch keine Frage der Ideologie, sondern eine schlichte Frage des Nachdenkens, Herr Röttgen.
Das heißt ganz konkret, daß Sie aufgerufen sind - aus dieser Verpflichtung werden wir Sie nicht entlassen, ganz egal, ob Ihre Kollegen Ihnen den Rücken stärken; Sie werden selber darauf kommen -, gemeinsam mit dem Einzelhandel wirksame Konzepte vorzulegen, die den Leuten dort nicht Steine statt Brot geben und nicht nur Wahlkampfgeklingel veranstalten.
Die Entlastung durch staatsanwaltliche Einstellungsmöglichkeiten haben wir schon längst ausgereizt. 1993 schon hat es diese Entlastungsgesetze gegeben. Und wie wirken sich diese aus? - So, wie ich es Ihnen gesagt habe.
Ich kann Ihnen auch noch einmal die Zahlen in bezug auf das Schwarzfahren im Bundesgebiet vortragen: Im Jahr 1994 sind über 110 000 Täter ermittelt worden. Unabhängig von den jeweiligen Parteibüchern sind durch die Gerichte noch nicht einmal 15 000 verurteilt worden. Und da gehen Sie her und sagen, das sei ein Problem von Rot-Grün oder von Ideologie! Es ist ein Problem der Überlastung der Justiz, ein Problem des nicht sinnvollen Einsatzes von Ressourcen und ein Problem von Denkfaulheit Ihrer Seite in diesem Haus, weil wir neue Formen der Bekämpfung dieser Art der Kriminalität brauchen und Sie uns daran hindern.
Diese Formen, Herr Hornung, können Sie sich von Kollegen, die davon etwas verstehen, nochmals vortragen lassen.
Jetzt will ich erklären, warum einige der Landesjustizminister darauf verfallen sind, zu sagen, daß eine Bußgeldregelung heute besser wäre als das, was wir jetzt an Strafverfolgung haben. Das ist deswegen so - das können Sie nachprüfen, weil hier, wenn Sie zum Beispiel falsch parken oder gegen einen sonstigen Bußgeldtatbestand verstoßen oder heute bei Verkehrsdelikten erwischt werden, sofort ein Bußgeld bekommen. Wenn Sie heute als Ladendieb oder als Schwarzfahrer erwischt werden, haben Sie zu zwei Dritteln die Chance, zu überhaupt keiner Sanktion im Rahmen der Strafverfolgung herangezogen zu werden,
- Strafbefehle eingeschlossen. Wenn das nicht zu verändern ist - und mehr Leute kriegen Sie nicht -, dann ist der Ruf nach einem Bußgeld vernünftiger, weil die erwischten Ladendiebe dann zumindest alle sofort eine Strafe aufgebürdet bekommen.
Das ist besser, als zu sagen, wie Sie es jetzt tun: Wir lassen alles beim alten und tun nichts.
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Ich persönlich - das weiß Herr Röttgen - habe dazu im Rechtsausschuß auch in dieser Legislaturperiode schon einige Male vorgetragen - unsere Anträge befinden sich seit Jahren dort; wir machen auch eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema -, würde mich lieber für ein Strafgeld entscheiden, eine in der Tat bürokratieärmere Sanktion, die in jedem Fall bezahlt werden muß.
- In jedem Fall, Herr Hornung. Das wissen Sie aber alles selbst.
Ich hätte gerne die Zustimmung der CDU, der CSU und der F.D.P., diese Form rechtsstaatlich sauber auszugestalten, anstelle dieses Zeugs, das Sie uns in Zeiten des Wahlkampfs in die Augen streuen.
Diejenigen, die sich für Änderungen einsetzen, diskutieren heute, ob Bußgeld oder Strafgeld besser wäre. Ich kann Ihnen noch eine Alternative nennen: eine neue Form der Übertretung, die bürokratieärmer, aber in jedem Fall flächendeckend greifend ausgestaltet sein muß. Die könnte abschreckend wirken, weil sie nicht selektiv wirken würde. Das wäre gut für den Rechtsstaat und das Rechtsbewußtsein. So könnte man auch die Abenteuerdiebstähle, die so vielen Einzelhändlern Schwierigkeiten machen, besser in den Griff kriegen.
Ich habe mich gewundert, daß Sie darauf nicht konkret eingegangen sind. Das hätte ich erwartet, und ich erwarte es weiter. Wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht mehr entlassen.
Jetzt kommt noch ein weiterer Punkt, den ich Ihnen nahezu übel nehme, Herr Röttgen. Es ist der Punkt, den Sie eingangs erwähnt haben. Lesen Sie noch einmal nach; dann werden sie feststellen: Sie sind bei der Wortwahl Ihrer Definition der Staatsaufgaben schlicht beim Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts angekommen.
- Ja, das tue ich doch. Wenn Sie mir einen Moment zuhören, dann werden Sie mir sogar recht geben.
- Ja, ich weiß, Herr Marschewski. Ich will jetzt zu Ihnen nichts sagen, sondern konzentriere mich auf Herrn Röttgen. Da lohnt es sich hoffentlich.
Herr Röttgen, der Punkt ist folgender: Sie haben den Staat praktisch auf den Bereich des Nachtwächterstaats zurückgenommen. Wenn Sie sich jedoch die Statistiken über den Anstieg der Kleinkriminalität anschauen, dann werden Sie feststellen, daß das, was ich vorher als Abenteuerkriminalität - das heißt Ladendiebstähle oder Schwarzfahren - bezeichnet habe, heute längst nicht mehr den Anstieg bedingt. Wenn man diese Zahlen aus der Statistik rausrechnet
- das kann man, dazu gibt es Untersuchungen -, stellt man fest, daß der Anstieg im Osten, in großen Städten, bei Kindern, bei Jugendlichen und in Armutsbereichen zu verzeichnen ist. Das ist leider so. Das gleiche haben Sie bei anderen Randgruppen wie Aussiedlern und nichtseßhaften Ausländern. Das wird - nehme ich an - auch Herr Kanther Ihnen schon berichtet haben. Ihm liegt eine Untersuchung vor, die besagt, daß der Anstieg mit dem Zusammenschneiden sozialer Leistungen stark korreliert. Sie können das selbst feststellen.
- Ich weiß, Herr Marschewski, Sie möchten das nicht hören. Das genau ist der Ärger mit Ihrer Politik. Deswegen werden Sie auch nichts ändern und nichts erreichen.
Ab dem Zeitpunkt, in dem Sie die finanziellen Integrationsleistungen bei den Aussiedlern zusammengestrichen haben - genau das können Sie feststellen -, steigen die Zahlen dieser Formen der Armuts-
und Kleinkriminalität.
Nochmals: Wenn Sie das nicht hören wollen, werden Sie niemals in der Lage sein, vernünftige Dinge dagegen zu tun. Wir fordern Sie auf, genau das zu machen! Nochmals, Herr Röttgen: Sie müssen Ihren Staatsbegriff wieder ausdehnen. Es ist nicht alles, was nicht liberaler Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts ist, dummes Zeug.
Das Grundgesetz geht vielmehr davon aus - ich hoffe, daß Sie daran inhaltlich festhalten -, daß die soziale Sicherung, die Gerechtigkeit und die Rechtsgebundenheit der Politik selbstverständlich eine Verpflichtung darstellen, der Sie sich auch in Wahlkampfzeiten nicht entziehen können.
- Nein, wir tun das auch nicht - Gott sei Dank.
Das zweite, was Sie sehen sollten, ist folgendes. Es hat viel mit der Vorbildfunktion von Politik zu tun. In diesem Zusammenhang hat der Kollege Beck - wie ich finde - einen weiteren nachdenkenswerten Punkt getroffen. Wenn man mit der Regierung jahrelang darum raufen muß, daß zum Beispiel Schmiergelder nicht mehr als Betriebsausgaben steuerlich angesehen werden, wenn man mit Ihnen jahrelang darum raufen muß, daß Steuerhinterziehung bzw. das Ins-
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Ausland-Schieben von Geldern in Milliardenhöhe - also am Finanzamt vorbei -
strafbar sein muß
- wir mußten bei Ihnen sogar erstreiten, auch wenn ich gerade mit großem Vergnügen gelesen habe, daß Sie in diesem Bereich endlich, wenn auch zu langsam einlenken, daß man Geldwäsche vernünftig verfolgt -,
dann dürfen Sie sich nicht wundern, daß über Ihrer Regierungspolitik mittlerweile nicht mehr das Motto steht, mit dem Sie angetreten sind.
Ich darf Sie noch einmal daran erinnern: Bundeskanzler Kohl ist vollmundig mit dem Satz angetreten: Wir schaffen die geistig-moralische Wende. Was Sie heute von den Leuten hören, auch von denen, die durchaus eher Ihrem Lager angehört haben, klingt ganz anders. Die sind nämlich der Meinung, daß der Satz „Der Ehrliche und der Schwächere sind die Dummen„ besser zu Ihrer Politik paßt. Das müßte Ihnen doch zu denken geben.
Gerade wenn Sie über schwindendes Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl klagen, müssen Sie doch auch überlegen, ob Sie denn bei Einsparungen und bei Umgestaltungen in schweren Zeiten ein Vorbild an Solidarität und an Gerechtigkeit sind. Und Sie sollten von den Leuten nicht mehr verlangen, als Sie von sich selber verlangen.
Das ist doch die Frage der Werte. Dagegen verstoßen Sie ständig.
Hören Sie also auf, auch mit der Alltagskriminalität Wahlkampf zu machen! Sie wissen ganz genau, daß Ladendiebstahl nicht durch Ihren hingeschluderten Antrag und auch nicht dadurch verhindert werden kann, daß Sie den Ländern - übrigens allen Ländern - irgendeine Schuld aufbürden.
Sie wissen vielmehr ganz genau, daß wir gemeinsam bürokratieärmere Formen einer flächendeckenden, greifenden Strafverfolgung finden müssen, damit die heutigen Justizressourcen nicht nur gegen die Kleinkriminalität, sondern schwerpunktmäßig gegen die große Kriminalität eingesetzt werden können.
Wir werden Sie, wie gesagt, jedes Vierteljahr dazu herausfordern, bis Sie Ihre Politik ändern.
Herzlichen Dank.