Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der höchsten Arbeitslosigkeit in der deutschen Nachkriegsgeschichte müssen wir endlich die Standortdebatte vom Kopf auf die Füße stellen und sie von einer Kostende-
Wolfgang Thierse
batte in eine Innovations- und Modernisierungsdebatte umwandeln. Darauf zielt unser Antrag.
Die Verringerung von Kosten kann selbstverständlich Probleme verringern; das ist unstrittig. Aber ich warne vor der fatalen Verengung der Standortdebatte auf eine Kostensenkungsdebatte, wie sie von Bundesregierung und Arbeitgeberfunktionären in immer schärferer Form geführt wird. Diese Verengung erzeugt die gefährliche Illusion, daß wir auf dem Sektor der Arbeitskosten mit Ländern wie Polen, Rußland, Korea oder Thailand konkurrieren könnten. Es wird doch wohl niemand ernsthaft glauben, daß Deutschland ein Billiglohnland werden könnte. Ja, wir können und dürfen das noch nicht einmal wollen.
Nein, mit Innovationen sichern wir unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, nicht allein und vor allem mit Arbeitskostensenkungen. Deshalb müssen wir die Standortdebatte eben vom Kopf auf die Füße stellen und über wirklich zukunftsorientierte und zukunftsorientierende Politik diskutieren.
Eine Politik der Bundesregierung aber, die die Innovationskraft unserer Wirtschaft fördert, unterstützt und anreizt, ist leider nicht zu erkennen. Im Gegenteil: 1994 hat Frankreich Deutschland erstmals aus dem Spitzentrio der Forschungsnationen verdrängt. Noch 1987 waren wir mit 2,88 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf Platz 1 der G-7-Staaten. Jetzt liegt dieser Anteil bei nur noch 2,34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit unter dem Wert von 1981. Der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist aber anerkanntermaßen wichtigster Indikator der technologischen Innovation.
Zugleich haben Sie auch die Förderung von neuen Projekten drastisch zurückgefahren. 1982 gab der Bundesforschungsminister dafür noch knapp 4,6 Milliarden DM aus. Die 4,17 Milliarden DM von 1995 sind schon nominal ein Rückgang, inflationsbereinigt ist das eine Katastrophe. Denn gerade die Projektförderung ist das politische Instrument, um auf neue Entwicklungslinien in der Spitzentechnologie zu reagieren.
Bei Innovationspolitik geht es um Menschen, um ihre Arbeitsplätze, um ihre Chancen und ihre berufliche Zukunft. Wir brauchen neue Informationstechnologien, neue Verkehrskonzepte, wir brauchen Biotechnologien und gewiß auch Gentechnologien. Wir brauchen neue Energiespartechniken, wir brauchen die Marktfähigkeit der Solartechnologie.
Es wird Ihnen auf seiten der Regierung nicht gelingen, für mangelnde Innovationskraft oder gar die von Ihnen beklagte Technikfeindlichkeit die SPD verantwortlich zu machen. Im Gegenteil: Es ist eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, daß die Bundesregierung glaubt, sich aus der Forschungsförderung zurückziehen zu können, weil dann die Wirtschaft einspringen würde. Auch hier ist das Gegenteil richtig: Die FuE-Ausgaben der Wirtschaft sind von 1991 bis 1993 um 1,3 Prozent zurückgegangen. In den gleichen Jahren steigerte die französische Wirtschaft ihre Aufwendungen um fast 6 Prozent, in England gab es ein Plus von über 10 Prozent und in Dänemark von fast 12 Prozent. Dort hat man begriffen: Für neue Arbeitsplätze braucht man neue Produkte. Die Bundesregierung hat nichts begriffen; denn sonst würde sie nicht die Forschungsförderung abwürgen, sondern antizyklisch investieren.
Der Staat muß Anreize schaffen für das nötige konstruktive Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.
Herr Rüttgers hat das ja immerhin erkannt, kann sich aber wohl nicht durchsetzen. Gestern hat er in Hannover über den Mangel an Innovationen in der deutschen Wirtschaft geklagt. „Wir leben von der Substanz" hat er gesagt.
Die neuesten Zahlen des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft belegen, daß diese Selbstkritik viel zu milde ausgefallen ist. Während weltweit die Produktzyklen in atemberaubender Weise immer kürzer werden, gab es in Deutschland einen Rückgang des Umsatzanteils neu eingeführter Produkte von 31 Prozent im Jahr 1987 auf nur noch knapp 28 Prozent.
Im Jahre 1994 hat die deutsche Wirtschaft 58 Milliarden DM für Forschung und experimentelle Entwicklung ausgegeben. Übrigens: Aufbau Ost bedeutet in diesem Zusammenhang ganze 2,9 Prozent oder 1,7 Milliarden DM von diesem ohnehin nicht großen Kuchen. Eine solche falsche Verteilung der Mittel ist schlicht skandalös.
Das liegt nicht an den Facharbeiterinnen und Facharbeitern, den Ingenieuren und Wissenschaftlern. Die leisten nach wie vor sehr gute Arbeit, wie man an den Exportzahlen sehen kann. Es mangelt an der Umsetzung von Innovationen in Verfahren und Produkte. Da richten sich die Augen natürlich zuerst auf das Management. Aber gefragt sind auch die politischen Rahmenbedingungen. Keine Regierung kann angesichts dieses Mangels einfach die Hände in den Schoß legen nach dem Motto: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Aber diese Regierung tut dies.
Nehmen wir zum Beispiel die angebliche Technikfeindlichkeit. Gewiß, es gibt da Moden und Ängste, aber Technikfeindlichkeit ist im wesentlichen eine Erfindung der Regierung zur Denunzierung von Bemühungen, Technikfolgen sozial, gesundheitlich und ökologisch abzuschätzen. Aber gerade dann, wenn
Wolfgang Thierse
wir solche Fragen ernst nehmen, leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Förderung technischer Innovationen. Dann erst können wir darauf hoffen, daß ein breiter Dialog zustande kommt, der auch davon handelt, daß neue Arbeitsplätze nur geschaffen werden, indem Chemie, Gentechnik, Biotechniken, Solartechnologien usw. neue, marktfähige Produkte entwickeln und erfolgreich anbieten.
Es reicht nicht, den technologiepolitischen Dialog hinter verschlossenen Türen zu führen. Erst dann, wenn die Menschen sehen, daß wir ihre Sorgen ernst nehmen, daß wir beide Seiten der Innovationsmedaille beachten, wenn wir zugeben, daß wir die Bilanz zwischen vernichteten und neu geschaffenen Arbeitsplätzen nach zehn oder zwanzig Jahren heute nicht seriös vorhersagen können, können wir den offenen gesellschaftlichen Dialog bekommen, den wir um der neuen Technologien willen dringend brauchen. Nichts gegen einen Technologierat, den ja die SPD vorgeschlagen hatte, auch nichts gegen mehrere davon, auch noch einen Petersberger Kreis dazu - die ersetzen aber nicht einen wirklich öffentlichen, allgemein zugänglichen Dialog. Mir scheint, die Bundesregierung fürchtet diesen Dialog, weil er ihre Konzeptionslosigkeit entlarven würde.
Es geht um die Überwindung falscher Gegensätze. Ich nehme als Beispiel den Schiffbau. Es geht dabei nicht darum, daß veraltete Technologien zu überwinden seien; denn es gibt im Schiffbau beides: traditionelle Tätigkeiten und hochmoderne, hochqualifizierte Technologien, die angewandt werden.
- In verschiedenen Disziplinen.
Wir brauchen beides, klassische Industrie und moderne Technologien, weil es um Arbeitsplätze geht. Genau deshalb muß unserer Überzeugung nach ein Hauptgegenstand von Innovationspolitik die ökologische Modernisierung der Industrie sein. Umweltschonung, Stoffrecycling, Energieeinsparung schon bei der Entwicklung und Gestaltung von Produkten und Verfahren sind auch ökonomisch sinnvoll, sind sinnvolle Ziele von Innovation. Technologische Innovation muß in dieser Hinsicht die Effizienz steigern, die Effizienz von Rohstoffen und Energie. Auf diesem Gebiet werden wir die Exportschlager der Zukunft finden, hat doch Deutschland schon heute den Spitzenplatz bei Umwelttechnologien inne. Wir brauchen dafür aber auch andere Förderungsschwerpunkte bei der Forschungs- und Technologiepolitik. Das Entscheidende wird aber unausweislich die ökologische Steuerreform sein.
Mit der ökologischen Steuerreform wollen wir zuerst Arbeitskosten senken - übrigens auch die Kosten, die die Arbeitnehmer zu tragen haben -, und wir wollen Rohstoffverbrauch, Umweltbelastung und Energieverbrauch schrittweise verteuern, damit wir unsere Wirtschaft endlich darauf einstellen, daß uns diese Mittel nur endlich und nicht unendlich zur Verfügung stehen. Sie sparsam und hocheffizient zu nutzen ist eine technologische Herausforderung ersten Ranges.
Vergleichsweise klein ist dagegen die Aufgabe, den Transfer von Forschungsergebnissen in ein Produkt zu beschleunigen. Da kann der Staat, da kann die Bundesregierung viel tun; denn Transfer von Forschungsergebnissen zu den Unternehmen in Produkte und Produktionsverfahren ist entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, meinen, daß dieser Transfer nur ganz marginal eine Aufgabe von Forschungs- und Wirtschaftspolitik sei, dann sollten Sie sich konsequenterweise aus der politischen Gestaltung unseres Gemeinwesens ganz zurückziehen.
Damit bin ich bei einem allgemeinen und alarmierenden Befund. Eine Einbindung der Forschungspolitik des Bundes in eine Gesamtstrategie zur Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft ist weit und breit nicht zu erkennen. Die Forschungspolitik verzettelt sich in eine Vielzahl von Einzelprojekten mit der Folge wachsender Verwaltungskosten und langer Genehmigungszeiten. Die indirekte Forschungsförderung ist fast vollständig abgebaut worden; dabei ist gerade sie ein Mittel, kreative Prozesse ganz unbürokratisch zu ermöglichen und zu befördern. Kein anderes Land unter den sieben großen Industrienationen verzichtet auf steuerliche Anreize zur Forschungsförderung, nur unser Zukunftsminister.
Meine Damen und Herren, bei der ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft geht es um nicht mehr und nicht weniger als unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es geht um Exporterfolge, es geht um Wohlstandswahrung und um Arbeitsplätze. Es ist ein Jammer, daß diese Regierung bei der Verzahnung von Beschäftigungspolitik, internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsförderung und Umweltschutz immerfort versagt, liegt doch nichts näher als eine solche Politik der ökologischen Modernisierung. Lesen Sie doch einmal den Delphi-Bericht, auf den Sie so gern Bezug nehmen.
Wo bleibt die Wende in der Innovationspolitik, die dort so überzeugend vertreten und begründet wird?
Wir jedenfalls haben ein Konzept für die Einleitung einer solchen innovationspolitischen Wende. Die ökologische Steuerreform ist ein wichtiger erster Schritt dazu.
Meine Damen und Herren, ich wundere mich, daß die Regierung so wenig Aufhebens um den Expertenbericht „Info 2000" macht. Möchten Sie, daß auch der möglichst wenig gelesen wird, weil Sie auch hier den öffentlichen Dialog fürchten? Die Art und Weise, wie Sie, meine Damen und Herren auf den Regierungsbänken, diesen Bericht, der eigentlich der Fahrplan der Bundesregierung in die Informations-
Wolfgang Thierse
gesellschaft hätte sein sollen, vor der Öffentlichkeit geradezu verstecken, scheint das zu beweisen.
Wir haben bisher keine wirkliche Debatte darüber geführt. Ich hoffe, wir können sie noch führen. Warum ergreifen Sie nicht die Gelegenheit, wenigstens hier auch eine öffentliche Debatte vom Zaun zu brechen, die über die Enge der wissenschaftlichen Seminare hinausreicht und auch vor den Stammtischen der Nation nicht haltmacht? Ohne eine die ganze Gesellschaft erfassende Debatte über die Leitbilder für die Informationsgesellschaft, über ihre demokratische, kulturelle, soziale Ausgestaltung reduzieren wir auch die öffentliche Wahrnehmung allein auf Wirtschaft und Technik und lassen dabei die Menschen auf der Strecke. So provoziert man Technikfeindlichkeit erst, über die Sie sich dann beklagen.
Statt eines solchen öffentlichen Diskurses erleben wir eine künstlich erzeugte und ideologisch durchtränkte Deregulierungsdebatte. Von dem kleinkarierten Zuständigkeitsgezänk zwischen Postministerium, Wirtschaftsministerium und Forschungsministerium, das die Entstehung und Veröffentlichung des Berichts immer wieder verzögerte, will ich gar nicht reden.
Die Bundesregierung ist dabei, die Zukunft zu verschlafen. Denn die Informationsgesellschaft ist ja schon längst kein Schlagwort mehr. Über den verbreiteten Einsatz der Informations- und Kommunikationstechniken in Wirtschaft, Verwaltung und privaten Haushalten verändert sich die Gesellschaft jetzt.
Schon heute ist die digitale Informationsverarbeitung eine Schlüsseltechnologie. Bereits heute bauen andere Technologien und Innovationen darauf auf. In absehbarer Zeit werden unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen, Art und Umfang von Beschäftigung, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, aber auch die Innovationsfähigkeit von Unternehmen und der Wirtschaft insgesamt von den Kommunikationstechniken geprägt sein.
Eine Industriegesellschaft, die die informationstechnische Modernisierung verhindert oder verschläft, kann daran auch nichts verdienen, das heißt, sie wird das vorhandene Beschäftigungsniveau nicht halten können, sondern einen enormen Verlust an Arbeitsplätzen hinnehmen müssen. Der Verzicht auf informationstechnologisch gestützte Innovationen ist gleichbedeutend mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und einem Rückgang an wirtschaftlichem Wachstum. Deshalb müssen wir in Deutschland die Innovationsschwäche überwinden, die in einigen Bereichen schon vorhanden ist, zum Beispiel in den Bereichen Mikroprozessorenentwicklung und Computerbetriebssysteme.
Um nicht noch mehr Terrain zu verlieren, müssen kleine, bewegliche, innovationsfreundliche Unternehmen gezielt gefördert werden - nicht nur die Telekom. Dabei liegen insbesondere in der Entwicklung benutzergerechter Software große Wachstumschancen.
Gewiß, die Innovationstechniken werden gegenwärtig vor allem als Rationalisierungs- und Organisationstechniken eingesetzt. Sie wirken als Prozeßinnovation mit produktivitätssteigernden und kostensenkenden Resultaten und bauen deshalb Arbeitsplätze ab. Aber Arbeitsplatzverluste sind kein naturnotwendiges Schicksal; man kann auch gegensteuern.
Das wäre sinnvolle soziale Gestaltung der Informationsgesellschaft.
Dazu gehört, daß wir die Arbeitnehmer einbeziehen. Ich habe jedenfalls noch keinen Arbeitnehmer protestieren hören, wenn es um Arbeitserleichterungen ging. Im Gegenteil: Wenn die Informationsgesellschaft uns alle mehr als bisher von Arbeit befreit, müssen Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten darauf reagieren. Das ist der Sinn des „Bündnisses für Arbeit". Das „Bündnis für Arbeit" ist auch ein Bündnis für Innovation und nicht gegen Innovation.
Ich hoffe, daß wir bald Gelegenheit haben, noch einmal ausführlicher über die Fragen der Entwicklung und Gestaltung - der sozialen, kulturellen und politischen Gestaltung - der Informationsgesellschaft miteinander zu diskutieren.