Rede von
Andrea
Lederer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Schlanker Staat" - das klingt natürlich ungeheuer populär, damit läßt sich auch sehr gut Wahlkampf machen; denn das Wort „Staat" ist nicht besonders positiv besetzt, wohingegen das Wort „schlank" sehr positiv besetzt ist.
- Aber, Herr Fischer, zweifellos, im Patriarchat im Bündnis mit Modezeitschriften ist das Wort „schlank" natürlich positiv besetzt, insbesondere wenn es um den Umgang mit Frauen geht. Bei Männern ist das anders. Sie nehmen dann für sich in Anspruch, gemütlich und interessant zu sein. Das ist eine der Ungerechtigkeiten, obwohl der Kanzler das lebende Gegenbeispiel dafür ist.
Davon ganz abgesehen, ist meine Sorge eine andere: Geht es Ihnen wirklich um den schlanken Staat, oder geht es Ihnen nicht vielmehr um dünnes Recht? Ich glaube, daß Sie letzteres anstreben. Das bedeutet dann eine Beeinträchtigung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, und zwar gerade, was die Rechtswegegarantie, den ökologischen und den sozialen Bereich betrifft.
Sie wollen eine Reduzierung der Aufgaben des Staates - aber welcher Aufgaben? Der Aufgabe, für den sozialen, den ökologischen und den kulturellen Ausgleich zu sorgen! Das ist eine Aufgabe, von der wir meinen, daß der Staat sie sogar umfassender wahrnehmen muß, als es gegenwärtig der Fall ist.
Wir würden uns natürlich immer treffen, wenn es um Entbürokratisierung geht. Dazu werde ich noch etwas sagen. Aber meine Hauptsorge ist - das hat auch mit dem Ost-West-Konflikt etwas zu tun -: Seit der Einheit, seit dem 3. Oktober 1990, betreiben Sie drei Dinge auf einmal: Erstens setzen Sie die Bundeswehr international ein und militarisieren die Gesellschaft - etwas, was vor der Einheit in dieser Form völlig undenkbar war. Zweitens betreiben Sie den Sozialabbau und kündigen den Sozialstaatskompromiß, der seit 1949 galt, weil Sie glauben, den sozialen Wettbewerb mit dem Ostblock nicht mehr führen zu müssen.
Drittens betreiben Sie jetzt auch noch Demokratie- und Rechtsabbau - das ganze unter dem Motto des „schlanken Staates" -, was in Wirklichkeit Einschränkungen von Bürgerinnen- und Bürgerrechten bedeutet, wogegen wir uns ganz entschieden wehren.
Wenn Sie zum Beispiel in der Verwaltungsgerichtsordnung das einzige Rechtsmittel, das es in bestimmten Fällen gibt, die Berufung, an ganz hohe Zulassungskriterien knüpfen wollen, wollen Sie praktisch das Rechtsmittel abschaffen, was übrigens ein Verstoß gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ist, wonach jede Gerichtsentscheidung durch ein einfaches, umfassendes, zulässiges Rechtsmittel überprüft werden können muß. Genau das wollen Sie abschaffen.
- Nein, das stimmt nicht. Das ist ein Irrtum. Das bilden Sie sich nur ein. Schon die Revision ist kein wirkliches Rechtsmittel. Darüber könnten wir gerne einen langen juristischen Streit führen. Das hat jetzt keinen Sinn. Aber ich behaupte, daß Sie Schritt für Schritt die Rechtswegegarantie einschränken.
Das hat Methode.
In Wirklichkeit könnten viele Probleme dann besser gelöst werden, wenn zum Beispiel bestimmte Behörden, insbesondere die Finanzbehörden, besser ausgestattet wären. Das Problem ist dort ein ganz anderes. Die 850 Millionen DM, die an die Vulkan AG für den Osten gingen und die im Osten nie angekommen sind - wie viele Beamte haben das geprüft? Offensichtlich kein einziger. Vergleichen Sie das einmal mit der Zahl der Beamten, die einen Antrag einer Sozialhilfeempfängerin auf einen Zuschuß von 200 DM prüfen. Damit sind mindestens fünf Leute beschäftigt, und die kontrollieren das auch noch.
Das ist die Realität in unserer Gesellschaft. Vielleicht müßte man das umstellen.
Entbürokratisierung - damit bin ich doch einverstanden. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel erzählen. Ich habe mich mit einer Funkstreifenbesatzung unterhalten, die in der Nähe von Schönefeld bei Berlin wirkt. Die Polizisten haben mir im Ernst erklärt, daß sie zwischen 50 und 70 Prozent ihrer Arbeitszeit damit zubringen, Formulare auszufüllen -
das Ganze auch noch wegen wirklicher Bagatelldelikte. Da gibt es Anklagen vom Staatsanwalt - ich habe sie gelesen; damit wird die Justiz beschäftigt -, weil jemand auf der Autobahn von rechts überholt hat, was natürlich nicht richtig ist. Aber da genügt nicht ein kleiner Bescheid; da muß eine richtige Anklage her. Es ist kein Unfall, es ist nichts passiert! Da wird ein Richter beschäftigt. Da wird ein Staatsanwalt beschäftigt. Das sind die Realitäten.
Dr. Gregor Gysi
Schaffen Sie die Bagatelldelikte im Strafgesetzbuch ab! Das wäre ein Akt der Entbürokratisierung.
Entlasten Sie die Polizei von bürokratischen Aufgaben und sorgen Sie dafür, daß sie der Kriminalität vorbeugen kann und die Kriminalität bekämpfen kann!
: Sie meinen
doch etwas ganz anderes! Sie meinen doch
gar nicht das Beispiel, das Sie genannt
haben!)
Wie kommt es denn, daß wir bei Mord und Totschlag keine Polizisten haben? Aber wenn sich irgendwo 30 Linke zur Demo treffen, dann sind immer 500 Polizisten anwesend. Da haben Sie noch nie einen Mangel an Beamten gehabt. Das sind die Realitäten in dieser Gesellschaft.
Auch wenn Sie soziale Sicherung einführen, können Sie entbürokratisieren. Wenn wir zum Beispiel ernsthaft über eine soziale Grundsicherung nachdenken würden, wenn wir das als Anspruch regeln würden, dann würden wir uns natürlich sehr viel Verwaltungsarbeit schenken können. Es gäbe kaum noch Sozialhilfe. Wir müßten da nichts überprüfen. Wir könnten das Kindergeld ganz anders regeln. Es gäbe hier Möglichkeiten, ganz entscheidend zu entbürokratisieren, wenn man soziale Ansprüche festschriebe und nicht gerade dort so viel Kontrolle einführte, wie wir es gegenwärtig erleben.
Im übrigen: Wo steht denn geschrieben, daß alles so kompliziert sein muß - da stimme ich Ihnen ja zu -, ob das soziale Anträge sind, ob das Anträge bei Existenzgründungen sind?
Im Osten hatten wir ja schon ein vereinfachtes Recht, und dennoch war jede und jeder überfordert. Im Osten haben wir im Vergleich zu den alten Bundesländern eine Weile gewisse Erleichterungen gelten lassen, und dennoch war jede Existenzgründerin, jeder Existenzgründer restlos überfordert, wenn er ein Unternehmen gründen wollte, und war sechs, sieben Monate allein mit den Anträgen beschäftigt, bevor er dazu kam, überhaupt etwas zu unternehmen. Eigentlich heißen aber Unternehmerinnen und Unternehmer so, weil sie etwas unternehmen sollen, aber dazu kommen sie ja heute überhaupt nicht mehr.
Die Bedingungen in den alten Bundesländern sind noch katastrophaler. Hier können Sie entbürokratisieren.
Übrigens könnten Sie auch das Bankwesen wesentlich verändern, damit die Kreditvergabe anders erfolgt, was auch viele Existenzgründungen erleichtern würde. Auf der Strecke muß man verändern, nicht auf der, auf der Sie das vorhaben.
Dann müßte man dezentralisieren. Denn die meisten Aufgaben liegen doch heute beim Bund und viele beim Land. Das Problem besteht doch darin, daß nicht dort entschieden wird, wo die höchste Sachkenntnis liegt, nämlich in der Kommune. Dezentralisieren Sie doch endlich einmal staatliche Befugnisse! Dann würde vieles auch sehr viel schneller gehen, als das heute der Fall ist.
Dann haben Sie gesagt, wir müßten Stellen abbauen. Nein, wir müssen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit anderen Aufgaben beschäftigen. Es ist doch nicht so, daß es im sozialen Bereich, im Bildungsbereich, im Kulturbereich und im ökologischen Bereich nicht genügend Arbeiten gibt. Ich bin sogar der Meinung: Wir brauchen zusätzlich einen öffentlichen Beschäftigungssektor.
Den könnten wir finanzieren, wenn wir auf der einen Seite entbürokratisieren und auf der anderen Seite Steuergerechtigkeit herstellen,
wenn wir endlich dafür sorgen, daß diejenigen Steuern zahlen, die die entsprechenden Einkommen und Vermögen besitzen, und nicht immer bei jenen kürzen, die sowieso schon die sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft sind.
Deshalb sage ich Ihnen, daß es allein mit der Frage des schlanken Staates, wie Sie das darstellen, nicht zu machen sein wird. Sie werden den versprochenen Effekt nicht erreichen; Sie werden lediglich erreichen, daß wir zum Beispiel keine Sicherheit im Umweltbereich mehr haben werden, daß es höchst gefährliche Anlagen geben wird, bei denen wir die Gefahr erst dann feststellen, wenn sie schon in Betrieb genommen worden sind. Das ist Ihr Ziel.
Sie werden erreichen, daß die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern zu Einsprüchen, wenn sie durch bestimmte Dinge unmittelbar beeinträchtigt sind, immer weiter zurückgehen. Das heißt, Sie werden Politikverdrossenheit und Demokratieverdrossenheit erhöhen, und Sie werden erreichen, daß die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ohnmächtig dem Staat gegenüberzustehen.
Genau das ist Ihr Ziel, und ich sage Ihnen: Damit sägen Sie an den Grundlagen dieser Bundesrepublik Deutschland.
Jetzt einmal zu den unangenehmen Seiten.
- Es gibt ja auch unangenehme, das können Sie ja nicht im Ernst bestreiten. Auch wir gehören ja zur Bundesrepublik Deutschland, und wenigstens uns empfinden Sie als unangenehme Seite. Sie können ja nicht bestreiten, daß es so etwas gibt.
Sie machen sich immer in Ihren Kleinen Anfragen Sorgen über die Verfassungstreue der PDS. Ich ma-
Dr. Gregor Gysi
che mir viel größere Sorgen über die Verfassungstreue der CDU/CSU und ihres Umfeldes.
Alle Angriffe auf das Grundgesetz in den letzten sechs Jahren kamen von Ihrer Fraktion. Die Aushöhlung der Rechtswegegarantie kommt von Ihrer Fraktion. Sie interpretieren das Grundgesetz so, wie Sie es wollen: Mal gehen internationale Einsätze der Bundeswehr über Jahre nach diesem Grundgesetz nicht, und dann stellen Sie über Nacht fest, nach demselben Grundgesetz soll es doch gehen. Das sind die Realitäten.
Ich meine, daß wir uns von Ihnen diesbezüglich keine Vorwürfe anzuhören brauchen.
- Ja, natürlich sind Rechtsfragen auch Machtfragen. Das hat sich sogar bis zu mir herumgesprochen. Das habe ich übrigens auch erlebt. Genau weil das so ist, lieber Herr Fischer, lieber Joschka Fischer,
sollten wir vielleicht gemeinsam dafür streiten, daß die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zunehmen, und dafür sorgen, daß die Koalition diese Rechte nicht unter dem Deckmantel des schlanken Staates abbaut, ein in Wirklichkeit dünnes Recht einführt, das heißt, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger einschränkt. Entbürokratisieren sollen Sie, aber nicht die Rechte der Menschen einschränken!
Danke.