Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, daß man bei einer Debatte zum schlanken Staat ein Antragspaket mit insgesamt 149 Druckseiten zu beraten hat. Ich meine, daß man sich schon einmal Gedanken darüber machen muß, und zwar jenseits aller Parteipolitik, ob es nicht etwas mit dem jeweiligen eigenen Verhalten zu tun hat, wenn wir in Deutschland eine zunehmende Regelungsdichte zu beklagen haben.
Das kann auch in Zahlen ausgedrückt werden. In der 10. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages wurden noch 320 Gesetze erlassen, in der
11. Legislaturperiode 366 Gesetze, und in der
12. Legislaturperiode waren es dann 493 Gesetze.
Ich denke, es ist wichtig, daß wir uns selber bescheiden und uns darüber im klaren sind, wer den schlanken Staat will, muß den fetten Staat auf Diät setzen.
Bei der Debatte um den schlanken Staat geht es um das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts.
Es ist kein guter Zustand, wenn ein mittelständischer Unternehmer in Deutschland eine Firma gründen möchte und dann zwischen 200 und 300 unterschiedliche Vorschriften zu beachten hat. Dann darf man sich über den Spott: BRD gleich „beinahe regelungsdicht", nicht wundern.
Es gibt einen bemerkenswerten Satz eines belgischen Unternehmers, der einmal gesagt hat: Wenn es nach den deutschen Vorschriften ginge, dann würde nicht einmal eine Biene die Flugtauglichkeitsprüfung bestehen. Ich denke, es ist schon wichtig, wenn einem der Spiegel hier einmal vorgehalten wird.
Das Entscheidende ist, daß sich der Staat auf seine Kernaufgaben reduzieren muß; denn viel stärker als die volkswirtschaftlichen Leistungen sind die Personalausgaben des Staates angestiegen. 1970 waren dafür bei Bund, Ländern und Gemeinden noch 61,5 Milliarden DM vorgesehen. Heute sind es auf allen staatlichen Ebenen schon rund 350 Milliarden DM. Übrigens, den Löwenanteil bei der Explosion der Personalausgaben steuern mit 191,5 Milliarden DM die Bundesländer bei.
Die Prognosen für die Zukunft zeigen, daß entweder die Personalausgaben künftige Haushalte verschlingen werden oder wir jetzt drastisch umdenken
Dr. Guido Westerwelle
müssen. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob wir den Staat nicht nur im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes zurückführen, sondern ob wir endlich mit einem Zustand Schluß machen, wo immer mehr Annehmlichkeiten, immer mehr Wohltaten auch auf Kosten der nächsten Generationen finanziert werden. Das ist die eigentliche Auseinandersetzung, um die es geht.
Deswegen, meine ich, ist es zu kurz gedacht - ich möchte Sie da ansprechen -, wenn wir bei diesen Debatten - übrigens auch gestern - immer nur über die Staatsausgaben reden. Dem Ausgabenzuwachs des Staates ging der Aufgabenzuwachs des Staates voraus.
Die eigentliche Frage, die wir beantworten müssen, ist: Wie definieren wir künftig gegen die natürliche Gesetzmäßigkeit der sich ständig ausweitenden Verwaltung das neue Verhältnis zwischen Bürger, Gesellschaft und Staat? Es geht im Grunde genommen darum, daß wir den Staat auf seine Kernaufgaben reduzieren müssen. Dabei ist das Stichwort Privatisierung - Herr Kollege Schily, ich will Ihnen gar nicht widersprechen, aber ich möchte das Stichwort aufgreifen - schon sehr wichtig.
Anfang des Jahres, als die Telekom einen Rechnungsfehler gemacht hat, haben wir uns doch alle Gedanken darüber gemacht: War denn ein solcher Computerfehler vermeidbar? Jeder hat einen neuen Vorschlag für einen besonderen Tarif gemacht, den man hätte einführen können. Nach jeder wöchentlichen Sendung von „Wie bitte?!" mit Geert MüllerGerbes hat wieder die ganze Nation das Lieblingsspottobjekt entdeckt.
Meine Damen und Herren, die eigentliche Antwort kann doch nicht sein, an irgendwelchen Tarifstrukturen herumzudoktern. Unsere Antwort ist: Setzen Sie dem Staatsmonopolisten Telekom private Wettbewerber an die Seite, dann bekommen Sie die Kundenfreundlichkeit und die Verbraucherfreundlichkeit, die man in diesem Lande braucht.
Deswegen müssen wir den Staat von Aufgaben entlasten. Das ist eine ganz grundsätzliche Auffassung. Es kann nicht gutgehen, wenn man einerseits nach der Vollkasko-Gesellschaft mit Rundumbetreuung ruft, andererseits aber den fett gewordenen Staat beklagt. Wer nach ständig neuen Wohltaten ruft, der darf sich dann nicht wundern, wenn der Staat immer mehr Mittel aufwendet und nach neuen Einnahmequellen sucht.
Deswegen ist die eigentliche Frage bei der Debatte „Schlanker Staat" aus meiner Einschätzung viel grundsätzlicher. Es geht nämlich darum, wie wir eine Entwicklung in Deutschland stoppen können, wo immer mehr Freiheiten und immer mehr Rechte beim einzelnen Bürger angesiedelt werden, aber immer mehr Pflichten und immer mehr Verantwortung beim Staat. Diese Schere kann nur zur Unfinanzierbarkeit des Staatswesens führen.
Ich denke, die echte Privatisierung ist deswegen eine der zentralen Aufgaben. Wir sind für ein Privatisierungsgebot, das sich im Zweifel für die Privatisierung entscheidet,
genau wie bei der Lufthansa, bei der Post, bei der Telekom. Der Staat wird stets der schlechtere Unternehmer bleiben. Das gilt übrigens auf allen politischen Ebenen.
Wir werden dann aber auch unbequeme Fragen beantworten müssen, die ebenfalls wichtig sind. Es gibt einen bürokratischen Wirrwarr. Wenn 37 verschiedene Anlaufstellen für 153 verschiedene Arten sozialer Hilfe zuständig sind, dann geht das häufig nicht nur zugunsten der wirklich Bedürftigen, sondern auch zugunsten der Findigen. Die eigentliche moralische Verantwortung ist doch: Wenn wir mit dem Gießkannenprinzip so weitermachen, daß wir nämlich an alle ein wenig verteilen, dann wird für die wirklich Bedürftigen zuwenig übrigbleiben. Diese moralische Verantwortung haben wir.
Wir müssen deswegen - dazu liegen Vorschläge hier auch vor - die Verfahren für Investoren und übrigens auch für die Behörden beschleunigen, für die Investoren neue Wahlmöglichkeiten schaffen und neue Genehmigungserfordernisse erstellen. Die Beschleunigungsmaßnahmen, die hier vorgeschlagen werden, erlauben flexiblere Verfahren, mehr Eigenverantwortung, schnellere Umsetzung und fördern Fortschritte in Wissenschaft, Forschung und Technologie.
Frau Kollegin Vollmer, es ist in meinen Augen wirklich falsch, wenn Sie einen künstlichen Widerspruch zwischen der Debatte „Schlanker Staat", der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und dem von uns gleichermaßen vertretenen Anliegen eines vernünftigen Umweltschutzes konstruieren wollen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen uns beiden in dieser Debatte: Sie gehen den Weg einer ökologischen Staatswirtschaft, und wir schlagen den Weg einer ökologischen Marktwirtschaft vor. Das ist der entscheidende Unterschied in dieser Debatte.
Wir müssen, meine Damen und Herren, die entsprechenden Gesetze daraufhin überprüfen, ob sie
Dr. Guido Westerwelle
notwendig sind. Es gibt dazu, wie ich finde, eine wirklich wichtige Bemerkung: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es eben notwendig, kein Gesetz zu erlassen. Wir müssen den Mittelstand von bürokratischen Sonderlasten befreien.
Wir müssen deswegen sehr wohl dann, wenn der Staat ein Gesetz erläßt, eine Folgenabschätzung vornehmen, nicht nur im Hinblick auf die Kosten für den Staat, sondern auch im Hinblick auf die Kosten und die Aufwendungen für den privaten Unternehmer, zum Beispiel den mittelständischen, die ebenfalls zu kalkulieren sind.
Hierzu gibt es Vorschläge, insbesondere des Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, die ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchte.
Meine Damen und Herren, es steht natürlich auch die Reform des öffentlichen Dienstrechtes im Mittelpunkt dieser Debatte. Das ist notwendig. Ich finde, daß die wirklichen Schlüsselbegriffe und die Zielrichtungen diesen Gesetzentwurf richtig charakterisieren. Es geht im öffentlichen Dienst darum, das Leistungsprinzip zu stärken, die Mobilität zu erhöhen und Führungskraft auszubauen.
Wer das Berufsbeamtentum erhalten will - wir wollen das auch im Interesse der Zuverlässigkeit und der Rechtssicherheit von Verwaltungsentscheidungen -, der muß das Berufsbeamtentum reformieren. Das ist überhaupt keine Frage. Es gibt entsprechende Vorschläge gerade hinsichtlich von Teilzeitkombinationen.
Frau Kollegin Vollmer, wenn Sie sich Art. 1 Nr. 13 des Gesetzentwurfes ansehen - das ist der § 44a -, dann finden Sie dort ganz ausführliche Vorschläge der Bundesregierung, hier des Innenministers, zu den Fragen der Teilzeitarbeit.
Wir erleben wirklich seltsame Blüten. Wir reden über Mobilität, und es wird der Eindruck erweckt, als sei das ein unanständiges Angebot, das da gemacht wird. Wir brauchen mehr Mobilität, gerade was den öffentlichen Dienst angeht, und diese Mobilität wird in diesem Gesetzentwurf übrigens auch berücksichtigt, wenn es zum Beispiel um Abordnungen geht.
Jedem ist doch klar, daß diese Gesetzesinitiative zum öffentlichen Dienst mit den Verbänden beraten werden wird und beraten werden muß. Wir wollen keine Reform des Berufsbeamtentums gegen die Betroffenen und ohne ihre Meinung, sondern wir wollen in den bevorstehenden Anhörungen und Beratungen eine möglichst umfassende, weite und breite Beteiligung der betroffenen Berufsorganisationen.
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit in diesem Bereich.
Es sind seltsame Blüten, die der Staat, der sich immer weiter ausweitet, mittlerweile treibt. In Hessen haben inzwischen wirklich bemerkenswerte Fragen auch des öffentlichen Dienstes Schlagzeilen gemacht. Dort darf man nach vier Monaten mit Höchstversorgung in den Ruhestand gehen.
Diesen Vorwurf müssen Sie sich nach meinem Dafürhalten wirklich gefallen lassen. Sie sind nicht mehr in der Lage, mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger durch die Landschaft zu gehen und andere anzuklagen. Auf Sie zeigen längst mehr Finger der Hand zurück, wenn es um diese Fragen geht.