Rede von
Dr. h.c.
Gernot
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen jährt sich der heimtückische Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn. Wir bekommen immer wieder Berichte darüber, daß amerikanische Soldaten, die im Golfkrieg
Gernot Erler
eingesetzt worden sind, entweder durch Giftgas oder vielleicht auch durch die Prophylaxe gegen Giftgaseinwirkung geschädigt wurden. Jedesmal zucken wir wieder zusammen, wenn wir einen Bericht darüber bekommen, daß Technik zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, von C-Waffen Ländern übergeben wird, bei denen wir die Ziele kennen, die sie mit der Herstellung von C-Waffen verfolgen. Das gilt nicht nur dann, wenn deutsche Firmen beteiligt sind.
Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung auf Fragen von mir eingeräumt, daß sie Hinweise darauf hat, daß es eine serbische C-Waffen-Produktion bei Mostar gab und daß wahrscheinlich diese Fazilitäten inzwischen in die Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt worden sind, so daß man heute sagen muß: Auch dort ist noch eine Steigerung der Grausamkeiten und der Entsetzlichkeiten dieses Krieges möglich.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, all das erinnert uns daran: Alle C-Waffen müssen von dieser Welt verschwinden.
Wir brauchen ein weltweites, ein universales Kontroll- und Verifikationsregime, um diese Gefahren endgültig zu bannen. Eine Anwendung der mehreren 10 000 Tonnen von C-Waffen, die noch in den „stockpiles" der Großmächte liegen, ist ohnehin unvorstellbar. Es gibt ja auch längst die Chance dazu, nämlich die Ratifizierung und Implementierung des Chemiewaffenübereinkommens, dem am 13. Januar 1993 159 Staaten in Paris zugestimmt haben.
Aber - mehrere meiner Kolleginnen und Kollegen haben dies hier schon unter Bedauern vorgetragen - diese Chance ist bisher noch nicht genutzt worden. Darauf hinzuwirken, daß dies geschieht, ist der Sinn der Anträge, die uns vorliegen: des Antrags der SPD vom 11. Oktober 1995 und des Antrags der CDU/ CSU vom 6. Dezember 1995. Der Text zeigt, daß die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU den Antrag von der SPD aufmerksam gelesen haben und ihm nicht ohne Sympathie begegnet sind, so daß es eine gute Chance gibt, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen.
Das ist wichtig. Denn ein solcher gemeinsamer Vorstoß - ich beziehe die F.D.P. natürlich mit ein -
richtet sich an „schwere Brocken" der internationalen Politik, nämlich an die Parlamente in Washington und Moskau, ohne deren Ratifikation - auch das isi schon betont worden - ein solches C-Waffen-Übereinkommen zahnlos, ja wirkungslos bleiben müßte.
Ich will mich zunächst einmal einem der beider Adressaten zuwenden, den Vereinigten Staaten. Wir
beklagen in der Tat, daß der US-Senat, nachdem er im September 1994 den Bericht des „Senate Intelligence Committee" zum CWÜ entgegengenommen hat, seitdem keine weiteren Aktivitäten mehr entfaltet hat - und das entgegen den ersthaften Ratschlägen von Präsident Clinton, die wir jeweils unterstützt haben. Wir begrüßen natürlich, daß das US-Verteidigungsministerium am 22. Januar dieses Jahres eine Übersicht über die Bestände in amerikanischen Lagern veröffentlicht und erklärt hat, daß die amerikanische Regierung bis zum Jahr 2004 alle diese Bestände zerstören will - das wäre sogar schneller, als das CWÜ, auch wenn es heute in Kraft träte, vorsieht - und daß dieses den amerikanischen Steuerzahler 12 Milliarden Dollar kosten wird.
Ich muß bekennen, daß mich bei dieser Veröffentlichung einige Details erschreckt haben. Wir hatten vermutet, daß an acht Orten in Amerika C-WaffenBestände gelagert sind; jetzt wissen wir, daß es 30 599,55 Tonnen sogenannter single components sind, also militärische Nerven- oder andere Kampfgase. Dazu kommen noch 680,19 Tonnen sogenannter Binärwaffen. Aber - das gibt zu einigen Sorgen Anlaß - es gibt daneben noch 13 630 Tonnen chemische Kampfstoffe, die als Testmunition oder als CWaffen, die von anderen Ländern eingesammelt worden sind, deklariert werden und die gesondert gezählt werden. Gesondert gezählt werden auch weitere 10 000 Tonnen C-Waffen, die sich als reine Defensivwaffen jeder Aufzählung, auch im Rahmen des CWÜ, entziehen.
Der Beseitigungsbeschluß der amerikanischen Regierung ist gut. Aber solche Beschlüsse hat es schon mehrmals gegeben. Es handelt sich dabei eben um Ankündigungen, die unter Umständen nicht eingehalten werden. Deswegen sind sie auch kein Ersatz für die völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung, wie sie im C-Waffen-Abkommen enthalten ist.
Das gleiche gilt für die Russische Föderation. Natürlich begrüßen wir, daß die russische Regierung - im übrigen schon vor der amerikanischen, nämlich am 26. Oktober letzten Jahres - einen ähnlichen Beschluß wie Washington gefaßt hat, nämlich erklärt hat, sie wolle bis zum Jahr 2005 alle ihre C-Waffen - das sind 40 000 Tonnen - vernichten.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch hier erschrecken einige Details, nämlich daß zum Beispiel bei der Bekanntgabe dieses Beschlusses auch erklärt wurde, daß seit 1953, also seit 43 Jahren, 7 500 Tonnen Hautgifte wie Lewisit und Yperit in Eisenbahntankwaggons lagern und daß wegen der Gefährlichkeit, die von einer solchen Lagerung ausgeht, diese Gruppe von Waffen als erste für die Vernichtung vorgesehen ist, während der Bestand von 32 500 Tonnen Giftgas in Artilleriegeschossen und Flugzeugbomben erst später drankommen kann. Diese enthalten unter anderem das tückische Nervengift Phosgen. Die Russen rechnen damit, daß das Ganze 16,6 Billionen Rubel - das waren damals, 1985, 5,2 Milliarden DM - kosten wird.
Auch hier wiederhole ich: Solche Ankündigungen sind keine Kompensation für die Ratifizierung des CWÜ als einer völkerrechtlich verbindlichen Verein-
Gernot Erler
barung. Bei Rußland fehlt auch ein wenig das Vertrauen, daß das wirklich umgesetzt werden kann, wenn man sich überlegt, daß man dort mit der Auszahlung des Soldes für die Soldaten monatelang im Rückstand ist, daß sogar, weil die Stromrechnungen von der Armee nicht bezahlt werden, zwischenzeitlich der Strom fehlt, um die Kühlanlagen von abgewrackten Atom-U-Booten funktionsfähig zu halten.
Ich nutze diese Gelegenheit, um von diesem Platz, vom Deutschen Bundestag aus einen deutlichen Appell an unsere Kolleginnen und Kollegen in der Staatsduma und im Föderationsrat zu richten und ihnen zu sagen: Setzt endlich das CWÜ auf die Tagesordnung! Ich füge hinzu: Ich selbst bin sehr skeptisch, ob die Art, die wir uns im Augenblick bei der NATO-Osterweiterung leisten, eigentlich eine glückliche ist. Aber ich bitte die Kolleginnen und Kollegen in der Staatsduma und im Föderationsrat, das Thema der Unterzeichnung, der Ratifizierung des CWÜ nicht mit der Frage der NATO-Osterweiterung zu verbinden.
Das stellt die internationale Glaubwürdigkeit, die Vertrauenswürdigkeit der russischen Regierung in Frage; das schadet nur dem Ansehen der Russischen Föderation. Deswegen lautet mein Appell: Laßt davon ab! Ich appelliere genauso an den amerikanischen Senat, das Thema jetzt aufzugreifen und so gut voranzugehen wie beim START-II-Vertrag, dessen die Ratifizierung ja erfolgt ist.
Abschließend wende ich mich an die Bundesregierung. Ich möchte, Herr Staatsminister Hoyer, ausdrücklich erklären, daß wir auf der Arbeitsebene eine sehr gute Arbeit zur Unterstützung des CWÜ beobachten, die aus Ihrem Haus kommt. Wir erkennen ausdrücklich an, was Ihre Beamten dort leisten.
Aber - leider kommt jetzt noch ein kleines Aber, das nicht Sie betrifft - heute ist es so, daß politische Ziele wie die des CWÜ nur dann eine Chance auf Erfolg haben, wenn sie auch von ganz oben unterstützt werden. Es gab eine Zeit, da reichte in Genf die hervorragende Diplomatie des Auswärtigen Amtes aus, um weltweit klarzumachen: Wir haben ein ganz spezifisches Interesse an diesem Abkommen. Heute reicht das nicht mehr, wenn nicht auch der Bundeskanzler selber sich dieses Thema zu eigen macht, sozusagen eine Top-Priority formuliert, die das CWÜ hat. Er hat schon mehrere Chancen verpaßt, dies zu tun, zuletzt bei seinem Moskau-Besuch. Jetzt steht am 19. und 20. April der Atomgipfel in Moskau bevor; dies ist eine erneute Gelegenheit. Ich appelliere an die Bundesregierung, diese Gelegenheit wahrzunehmen. Es lohnt sich. Wir brauchen noch in diesem Jahr ein gültiges Chemiewaffenübereinkommen.
Vielen Dank.