Rede von
Dr. h.c.
Gernot
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Alle Jahre wieder" - so fängt nicht nur ein Weihnachtslied an, sondern so könnte man auch unsere jährliche Tiefflugdebatte überschreiben.
Das, Herr Staatssekretär, hat nichts damit zu tun - wie Sie gesagt haben -, daß Tiefflug nur für Piloten extrem gewöhnungsbedürftig ist. Das Thema des heutigen Abends ist, daß Tausende von Petenten Tiefflug extrem gewöhnungsbedürftig finden. Dazu haben Sie leider überhaupt nichts gesagt.
Wir werden diese Debatte in der Tat jedes Jahr wieder bekommen. Der Hintergrund ist diesmal - das kann man an den besonders vielen Petitionen aus den neuen Bundesländern sehen - die Übertragung des Nachtflugregimes am 25. Mai 1995 durch ein Nachttiefflugstreckensystem auf die ganze Bundesrepublik, also auch auf die neuen Bundesländer.
Das bedeutet - nachdem Sie immer betont haben, was alles abgeschafft worden ist, rede ich einmal von den Anschaffungen -, daß wir jetzt 4 000 Kilometer Nachtflugkorridor haben, der 10 Kilometer breit ist, daß dort nachts Flüge bis 300 Meter herunter durchgeführt werden, mit Geschwindigkeiten bis zu 780 Kilometer pro Stunde, daß von 30 Minuten nach Sonnenuntergang bis Mitternacht geflogen werden darf, 1 700 Einsätze pro Jahr.
Und die Statistik, Herr Wilz, besagt, daß bei diesen vier bis 20 statistischen Flügen pro Woche im Fünfminutenabstand schon deswegen - wie Sie es auch gesagt haben -, weil 75 Prozent im Winter geflogen werden, pro Nacht und pro Woche sehr viel mehr herauskommt.
Das ist die Realität. Deswegen wundert es uns nicht, daß jetzt neue Petitionen aus den neuen Bundesländern gekommen sind, wo dieses System seit Mai letzten Jahres angewandt wird. Es trifft auch auf die sogenannten Verbindungskorridore in Ostniedersachsen, Osthessen und Nordbayern zu, die geschaffen worden sind, um den Anschluß an dieses Gebiet herzustellen.
Jedes Jahr reden wir hier darüber, und jedes Jahr wird die von Ihnen angebotene Legitimation für den Tiefflug, für den Nachttiefflug und für Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet schlechter und weniger überzeugend.
Sie haben einfach keine Begründung dafür, daß diese Übungen über besiedeltem Gebiet gemacht werden. Ich zitiere aus Angaben der Bundesregierung, wenn ich sage, daß Tiefflug über besiedeltem Gebiet üben heißt: über 3 000 Krankenanstalten im ländlichen Raum, über 2 200 Heilbädern und staatlich anerkannten Luftkurorten, über Tausenden von Alten- und Pflegeheimen, über zehn Nationalparks, über neun Biosphärenreservaten, über 67 Naturparks, über 6 000 Landschaftsschutzgebieten, über 5 000 Naturschutzgebieten und ungezählten Naherholungsgebieten. Darüber wird in Deutschland Tag für Tag und Nacht für Nacht Tiefflug und Luftkampf geübt. Das ist es, worüber sich die Leute Jahr für Jahr aufregen, weshalb wir jedesmal wieder neue Debatten führen.
Der Streitpunkt ist, ob es dafür wirklich eine sicherheitspolitische Notwendigkeit gibt. In Ihrer Antwort, Herr Wilz, auf die letzte Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion hierzu vom 27. November 1995 haben Sie wieder einmal eine Erklärung angeboten. Ich darf eine kleine Passage zitieren. Es heißt in der Antwort:
Die Inhalte der Tiefflugausbildung ergeben sich aus den Fähigkeiten der eigenen Waffensysteme sowie der möglichen Bedrohung durch eine gegnerische Luftabwehr.
Meine Damen und Herren, das ist wirklich eine intellektuelle Zumutung an die Petenten, wenn man hier argumentiert, wir seien durch eine gegnerische Luftabwehr bedroht.
Das muß mir doch mal einer erklären, wieso der
Hauptauftrag der Bundeswehr, nämlich Landesverteidigung und Bündnisverteidigung, durch eine geg-
Gernot Erler
nerische Luftabwehr in Frage gestellt werden kann. Das ist intellektuell eine absolute Zumutung.
Es gab früher im Kalten Krieg einmal ein System - offenbar haben Sie sich in Ihrem Denken in Sachen Tiefflug immer noch nicht davon verabschiedet -, das tatsächlich eine Angriffsmöglichkeit aus dem Osten unterstellte und sagte: In so einer Bedrohung müssen wir in der Tat vielleicht im Zuge der sogenannten Vorneverteidigung diese Luftabwehrsysteme unterfliegen, um einen solchen Angriff abzuwehren.
Aber ist das heute denn noch annähernd glaubhaft? Wir sind doch umzingelt von Freunden, mein Gott, von lauter Ländern, die gern in die NATO und in die EU eintreten wollen, die uns also auf keinen Fall mehr mit ihrer Luftabwehr bedrohen.
Das ist ein absoluter Unsinn.
Und dann bleibt immer noch - auch in Ihrer Argumentation - Rußland übrig. Aber das ist ja nun auch interessant, Herr Wilz. Da haben wir aus Ihrem Haus, was Rußland angeht, eine interessante Unterlage über den Zustand der russischen Luftstreitkräfte bekommen. Daraus ist in der Öffentlichkeit mehrfach zitiert worden. Das ist interessant. Da hören wir, daß inzwischen die Übungs- und Ausbildungsflüge in der russischen Armee drastisch reduziert worden sind, daß zwei Drittel der russischen Einsatzverbände nur noch bedingt einsatzfähig sind, daß die Flugstundenzahl auch beim Tiefflug auf ein Fünftel der üblichen Stundenzahl in der NATO reduziert worden ist, daß dort inzwischen Flugzeuge ausgeschlachtet werden und auch bei der Luftverteidigung, die eine Bedrohung für unsere Sicherheit darstellt, wie wir von Ihnen wissen, überhaupt nur noch 20 Prozent, also ein Fünftel, der notwendigen Flugstunden geflogen werden.
Das ist Ihr Bedrohungsszenario, das Sie durch Studien untergraben, die Sie uns vorlegen und die Sie immer wieder für die Begründung von Luftkampf-, Tief- und Nachtflügen über der Bundesrepublik anführen. Ich kann nur feststellen: Wenn man den klassischen Auftrag der Bundeswehr ernst nimmt, nämlich Landes- und Bündnisverteidigung, dann findet man überhaupt keine Legitimation für Tiefflug, Nachttiefflug und Luftkampf über bewohntem Gebiet. Überhaupt keine!
Ich komme zu dem, was der Kollege Nachtwei gesagt hat. Man kann überlegen, ob es noch andere Szenarien gibt, zum Beispiel internationale Interventionen, an denen sich die Bundesrepublik beteiligt. Ich will diese Grundsatzdebatte gar nicht beginnen. Daß es darüber unterschiedliche Auffassungen in diesem Hause gibt, wissen wir alle.
Aber Sie, Herr Wilz, haben ein Stichwort genannt. Sie haben Jugoslawien angeführt, aber den Kolleginnen und Kollegen nicht erklärt, daß die RECCE-Tornados und die ECR-Tornados - von den Transportflugzeugen brauchen wir in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden - dort die gleichen gefährlichen Systeme, die Sie in der Beantwortung der Kleinen Anfrage angesprochen haben, nämlich die SA-2 bis SA-10, die Flugabwehr der Serben, keineswegs im Tiefflug unterfliegen, sondern daß sie mit hochfliegenden Systemen, mit ECR-Tornados, heute in ihrer Radarführung ausgeschaltet werden. Selbst das einzige Beispiel, das Sie genannt haben, stimmt in lächerlicher Weise überhaupt nicht. Auch hier stellt sich die Frage, welche Szenarien, bei denen Tiefflugfähigkeiten gebraucht werden, überhaupt glaubwürdig sind.
Deshalb ist es notwendig, eine Grenznutzenabwägung vorzunehmen. Es mag ja sein, daß Sie, wenn Sie sich lange hinsetzen und überlegen und Ihre Institute etwas aufschreiben lassen, irgendwelche Szenarien finden, bei denen tatsächlich irgendeine Tiefflugnotwendigkeit auftaucht. Ich sehe keine.
Aber selbst wenn das so ist, muß man eine Grenznutzenabwägung machen. Man muß fragen, in welchem Verhältnis ein solches erfundenes Szenario zu der tagtäglichen Beeinträchtigung des Alltagslebens der vielen Menschen steht, die diese Petitionen an uns geschickt haben. Diese vage Möglichkeit ist im Augenblick in keiner Weise mit den elementaren Interessen an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung zu bringen.
Deswegen sage ich Ihnen abschließend: Bei dieser Abwägung ist ganz klar, daß die Position der SPD, die wir immer wieder in Anträgen vortragen, schon lange berechtigt und richtig ist: Kein Tiefflug, kein Nachttiefflug, keine militärischen Luftkampfübungen über Deutschland, schon gar nicht über bewohntem Gebiet. Wir haben große Zweifel daran, daß sie notwendig sind.
Wir haben zuletzt am 25. Januar 1995 einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht. Die Mehrheit der Regierungskoalition hat diesen Antrag am 10. Mai 1995 im Verteidigungsausschuß abgelehnt.
Ich rufe von hier aus den Petenten, den Bürgerinitiativen, den Bürgern und ihren Bürgermeistern, die sich, weil sie Betroffene sind, an uns wenden, zu: Ihr werdet es leider wieder erleben, daß die rechte Seite des Hauses in Bausch und Bogen diese Petitionen zum wiederholten Male ablehnt und beiseite schiebt. Das wird leider heute abend das Ergebnis sein. Ich rufe diesen Menschen dennoch zu: Setzt euren Einsatz fort! Macht weiter! Es gibt eine Chance bei veränderten Mehrheitsverhältnissen, endlich der Vernunft den Weg zu bereiten.
Ich sage: Wenn es eine andere Mehrheit gibt, und das wird bald sein, wird es ein Ende haben, daß die Leute nachts im Bett aufschrecken, daß sie beim Spaziergang einen Schock bekommen und daß sie Angst vor abstürzenden Flugzeugen haben. Das ist dann
Gernot Erler
möglich, wenn sich endlich die politischen Verhältnisse in diesem Land geändert haben. In diesem Sinne lohnt es sich, den Kampf fortzusetzen.
Ich danke Ihnen.