Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll das Verfahren der Rentenanpassung in den neuen Bundesländern zum 1. Juli 1996 umgestellt werden; zum anderen wird im Gesetzentwurf die abstrakte Betrachtungsweise bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für zwar leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte festgeschrieben.
Mit dem ersten Schwerpunkt des Gesetzes, der Umstellung des Verfahrens der Rentenanpassung in den neuen Bundesländern, sind wir heute morgen mitten in der aktuellen Rentendiskussion, obwohl es nicht um die Umstellung der Renten, sondern lediglich um die Umstellung des Rentenanpassungsverfahrens geht.
Aber auch dieses eigentlich unspektakuläre Thema wurde benutzt, um Angst, insbesondere in den neuen Bundesländern, zu schüren, mit dem Ergebnis, daß das Vertrauen der Rentenversicherten nachhaltig erschüttert wurde. Eine Studie unter ostdeutschen Bürgern bestätigt die schlimmen Auswirkungen der aktuellen Rentenverunsicherungsdiskussion. Danach fühlen sich 90 Prozent der älteren Ostdeutschen durch die Rentendiskussion verunsichert. Viele rechnen damit, daß sie die Angleichung ihrer Renten an das Westniveau nicht mehr erreichen werden. Jeder zweite ist der Meinung, daß seine Rente nicht seiner Lebensarbeit entspricht.
Meine Damen und Herren, wer solche Meinungen und Eindrücke durch bewußte Desinformation und Stimmungsmache aus politischem und wahltaktischem Kalkül heraus fördert oder hervorruft, betätigt sich als Brandstifter an unseren sozialen Systemen und damit am Gesellschaftssystem.
Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf von Rentenlüge oder gar parlamentarischer Sauerei zu sprechen, ist in höchstem Maße unredlich, und es ist Politik auf dem Rücken unserer Rentner; denn die Wahrheit ist: Nach insgesamt zwölf Rentenanpassungen seit dem 1. Juli 1990 mit teilweise zweistelligen Rentensteigerungsraten sind die Rentenauszahlungen von 16,7 Milliarden Mark der Deutschen Demokratischen Republik 1989 um 437 Prozent auf 73 Milliarden DM 1996 gestiegen, wobei 16 Milliarden DM als Finanztransfer, als Ausgleich, von West nach Ost fließen.
Die ausgezahlte Nettorente in den neuen Bundesländern beträgt bei den Männern 97 Prozent der verfügbaren Versichertenrenten im Westen, bei den Frauen sind es sogar 135 Prozent. Das heißt, daß im Moment in den neuen Bundesländern im Durchschnitt 105 Prozent der Durchschnittsrente West ausgezahlt werden. In welchem anderen Bereich wurde
Manfred Grund
so schnell eine tatsächliche Angleichung zwischen West und Ost erreicht?
Wer angesichts dieser erfreulichen Entwicklung von Rentenlüge, sogar von Rentenkürzungen und Ungerechtigkeit spricht, dem geht es nicht um konstruktive Mitarbeit zum Wohle der Menschen, sondern um eine bewußte Verschlechterung des politischen Klimas in diesem Lande.
Richtig ist, daß die Eckrente Ost das Niveau der Eckrente West noch nicht erreicht hat. Richtig ist aber auch, daß die Renten in den neuen Bundesländern bis zur Angleichung der Eckrenten an das Westniveau weiter dynamisch steigen werden, auch nach der Umstellung des Rentenanpassungsverfahrens. Dabei ist der Begriff Eckrente eine statistische Größe der Rentenversicherung. Wichtig und entscheidend für die Rentner ist jedoch, was sie am Zahltag zur Verfügung haben.
Wenn bereits heute die verfügbare Versichertenrente Ost höher als die in den alten Bundesländern ausfällt, so hat das nichts mit Berechnungsfehlern und nichts mit Geschenken zu tun, sondern ist Ausdruck einer anderen Erwerbsbiographie. Das ist der Lohn dafür, daß die Menschen im Osten länger im Erwerbsprozeß bleiben mußten und daß insbesondere die Frauen intensiver und oftmals härter in der Produktion eingesetzt wurden. So waren ostdeutsche Frauen im Durchschnitt 39 Jahre berufstätig. Weil unser Rentensystem gerecht und zudem Ausdruck eines selbst erarbeiteten Anspruches ist, aber auch weil die Einkommensentwicklung in den neuen Bundesländern weiterhin dynamisch verlaufen wird, werden die Renten weiter dynamisch steigen.
Ich weise darauf hin, daß in den letzten Wochen Tarifverträge abgeschlossen worden sind, die bereits für die nächsten ein bis zwei Jahre 100 Prozent des Tariflohnes West festschreiben, was sich sehr positiv auf die Rentenentwicklung im Osten auswirken wird. Das ist fürwahr ein gutes Ergebnis. Das haben bei der Anhörung im Sozialausschuß die Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des VdK und des Reichsbundes zum Ausdruck gebracht.
Daß es nun an der Zeit und angebracht ist, das bisherige Rentenanpassungsverfahren Ost umzustellen, hat Gründe, die sich unter anderem aus dem Jahressteuergesetz 1996 erklären. Zum ersten ist mit der Regelung des Jahressteuergesetzes 1996 das voraussichtliche Nettoentgelt nicht mehr hinreichend genau vorauszuschätzen. Zum zweiten gewährleistet nur das Ex-post-Verfahren hinsichtlich der Wirkungen des im Januar 1996 eingeführten Familienleistungsausgleiches eine Gleichbehandlung in Ost und West.
Wie sich die Löhne und Gehälter im Osten entwikkelt haben, wird durch das Statistische Bundesamt bis Ende März ermittelt werden, so daß es zum 1. Juli dieses Jahres eine nochmalige, also zweite, Rentenerhöhung in den neuen Bundesländern geben wird.
Dabei wird die Rentenerhöhung vom 1. Januar 1996 um 4,38 Prozent dynamisch weiterwirken. Zukünftig werden wir also ein einheitliches Rentenberechnungsverfahren in Deutschland haben und damit ein Stück mehr Normalität. Bis zur Angleichung des Lohn- und Gehaltniveaus wird die Rentenentwicklung West aber auf der Nettoentgeltentwicklung West basieren, wogegen in den neuen Bundesländern die dortige Lohn- und Gehaltsentwicklung die Höhe der Rentenanpassung vorgeben wird.
Bei der Anhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu diesem Thema wurde deutlich, daß es bei sich ändernder Entgeltentwicklung für die Rentner in den neuen Bundesländern vorteilhaft sein kann, das Rentenberechnungsverfahren zum gegenwärtigen Zeitpunkt umzustellen. Deshalb wurde durch einen Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes bei dieser Anhörung die Umstellung des Berechnungsverfahrens zum 1. Juli 1996 auch unter Würdigung des gegenläufigen Abschmelzens der Auffüllbeträge als - wörtlich - sinnvoll und sozialpolitisch vertretbar bezeichnet.
Lassen Sie mich zum zweiten Schwerpunkt dieses SGB VI-Änderungsgesetzes etwas sagen, und zwar zu der Änderung im Bereich der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Unabhängig von der grundsätzlich erforderlichen Neuordnung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit soll zum jetzigen Zeitpunkt eine Gesetzesänderung erfolgen, die einer Ausweitung der sogenannten konkreten Betrachtungsweise auf leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte entgegenwirkt. Die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die jeweilige Arbeitsmarktlage für die Beurteilung der Erwerbsminderung zu berücksichtigen ist, wird für die künftige Rechtslage von entscheidender Bedeutung sein und bedarf deshalb der gesetzlichen Regelung.
Die CDU/CSU-Fraktion geht davon aus, daß es mit den im Gesetz gefundenen Formulierungen zu keiner Verschlechterung der Rechtslage kommt, auch nicht in den sogenannten Seltenheitsfällen. Dies wurde bei der Anhörung deutlich und im wesentlichen auch von den Sachverständigen so gesehen.
Deutlich wurde aber auch etwas anderes: Es wird bei einer grundlegenden Neuregelung der Renten wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit darauf ankommen, das gemischte Risiko der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit besser zu regeln.