Rede von
Horst
Seehofer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Frau Mascher, ich habe in der Schule gelernt: Wenn man gleicher Auffassung ist, braucht man keine Fragen zu stellen.
Ich habe ja gerade versucht, zu begründen, daß die pausenlosen Analysen der deutschen Sozialingenieure mit dem Ergebnis, in Deutschland sei die neue Armut ausgebrochen, nicht zutreffen. Die Tatsache, daß die Sozialhilfeausgaben überdurchschnittlich gestiegen sind und die Zahl der Sozialhilfeempfänger zugenommen hat, ist nicht auf eine Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen, sondern einerseits auf die überdurchschnittliche Hilfe für Behinderte und Pflegebedürftige und andererseits auf die große Aufnahme- und Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung für Zuwanderer. Das gehört zu einer nüchternen Analyse.
Wenn Sie das auf die Bayerische Staatsregierung abschieben wollen, sage ich Ihnen, Frau Mascher: Man wird sich in München - ich hoffe, daß sich die Regierung dort am 10. März ändern wird - noch wundern, weil nämlich immer mehr bayerische Kommunen Hilfe zur Arbeit für Sozialhilfeempfänger realisieren.
Nun spricht sich dies unter bestimmten Sozialhilfeempfängern herum, und diese orientieren sich dorthin, wo diese Hilfe zur Arbeit von den Städten nicht realisiert wird. Deshalb werden Sie erleben, daß immer mehr Sozialhilfeempfänger nach München gehen, weil dort der amtierende SPD-Oberbürgermei-
7870 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 89, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Februar 1996
Bundesminister Horst Seehofer
ster nicht bereit ist, in ausreichendem Maße die Hilfe zur Arbeit für Sozialhilfeempfänger zu realisieren.
Das ist die erste Realität bei einer Analyse der Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland.
- Herr Fischer, Sie brauchen nicht so laut zu schreien. In Bayern gilt der Grundsatz: Die lautesten Kühe geben die wenigste Milch.
Zweiter Punkt: Es geht auch darum, über die Höhe der Sozialhilfe ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Nun sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: Von 1984 bis 1994 sind die Regelsätze für die Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland um 47,9 Prozent gestiegen. In der gleichen Zeit sind die Nettolöhne und -gehälter der erwerbstätigen Bevölkerung nur um 35,3 Prozent gestiegen. Das heißt, in den letzten zehn Jahren sind die Regelsätze der Sozialhilfe um 12 Prozentpunkte stärker gestiegen als die Nettolöhne der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer.
Vor diesem Hintergrund ist es doch nicht sozialer Kahlschlag oder Abbau, sondern ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit, wenn wir für die nächsten drei Jahre befristet in unsere Sozialhilfereform schreiben: Die Sozialhilfe kann drei Jahre lang nicht stärker steigen als die Nettolöhne der beschäftigten Arbeitnehmer.
Jetzt sage ich Ihnen auch etwas zum menschenwürdigen Leben: Niemand wird in diesem Hause behaupten, mit Sozialhilfe wäre man üppig ausgestattet, wenn es um die Hilfe zum Lebensunterhalt geht. Nur, meine Damen und Herren, wir dürfen auf der anderen Seite auch einmal die Zahlen nennen, die für die Hilfe für Menschen ausgeschüttet werden, wenn sie in Not sind, sich zwar selbst helfen wollen, aber nicht selbst helfen können.
Bei einem Ehepaar mit einem Kind lag Mitte 1995 der Regelsatz zuzüglich der für Kosten der Unterkunft und einmalige Leistungen bei 2 279 DM monatlich, bei einem Ehepaar mit drei Kindern bei 3 238 DM und bei einem Alleinerziehenden mit einem Kind unter 7 Jahren bei 1 828 DM.
Ich sage noch einmal: Das ist gewiß keine üppige Unterstützung. Aber wenn man sich manche Rente und manches Erwerbseinkommen von jemandem anschaut, die als Verkäuferin oder in den niedrigen Lohngruppen beschäftigt ist, dann kann man mit Fug und Recht davon sprechen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland mit diesen Beträgen Menschen, die Hilfe brauchen, ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Jahrelang haben wir gehört: Die Finanzierung von Arbeit ist besser als die Finanzierung von Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe. Jetzt präzisieren und realisieren wir diesen Grundsatz in der Sozialhilfe, und jetzt paßt Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, auch das wieder nicht.
Deshalb bin ich nach wie vor der Auffassung: Wenn es um das Geplaudere über Reformbereitschaft geht, sind Sie Weltmeister. Wenn es aber um die tatsächliche Reformfähigkeit geht, aus Grundsätzen auch konkrete Politik zu machen, sind Sie eine deutsche Reclam-Ausgabe, eine absolute ReclamAusgabe.
Was spricht denn dagegen, bei dieser hohen Arbeitslosigkeit auch die Kommunen verstärkt in die Pflicht zu nehmen - nicht anstelle der Arbeitsämter, aber ergänzend -, daß sie sich verstärkt bemühen, daß für Arbeitslose, die besondere Handikaps haben - wie Ulf Fink sagte -, eine Brücke zur Arbeitswelt geschlagen wird? Ich bin jenen Kommunen in Deutschland dankbar, die dies mit großem Erfolg seit vielen Jahren praktizieren. Wir dürfen es nicht dabei belassen, daß es vielleicht 20 Prozent in Deutschland machen. Es sollen 100 Prozent der Kommunen machen.
Ich habe erst vor kurzem die Stadt Würzburg besucht. Dies ist symptomatisch für Berlin, für Mannheim und viele andere große Städte. Die Stadt Würzburg hat in einem Jahr 280 Sozialhilfeempfängern Arbeit angeboten. 80 Prozent davon haben dieses Angebot angenommen und sind in reguläre Arbeitsverhältnisse vermittelt worden. Das war nicht nur ein Segen für die Sozialhilfeempfänger selbst, weil deren Perspektive ja nicht darin bestehen kann, weitere Jahre Sozialhilfe zu beziehen, sondern es hat auch den Kommunalhaushalt entlastet: 137 800 DM monatlich hat die Stadt Würzburg an Sozialhilfekosten dadurch gespart, daß sie nicht einfach Sozialhilfeempfänger verwaltet hat, sondern ihnen menschlichen Zuspruch, menschliche Hilfe und Vermittlung in Arbeit hat zuteil werden lassen.
Gestern habe ich in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen: „Scharping: Zuwanderung wie bisher ,nicht auszuhalten' " . Da spricht er davon - das habe auch ich hier im Bundestag schon x-mal gesagt -, daß wir jährlich 800 000 Arbeitserlaubnisse an Ausländer er-
Bundesminister Horst Seehofer
teilen. Das kritisiert jetzt auch der SPD-Fraktionsvorsitzende, und er fügt hinzu:
Zwar seien darunter viele Saisonarbeiter, etwa ein Viertel dieser Tätigkeiten könne aber auch von deutschen Arbeitnehmern übernommen werden.
Meine Damen und Herren, genau das ist unsere Philosophie. Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen, daß 100 000, 200 000 arbeitslose Sozialhilfeempfänger, gerade wenn sie jünger sind, in Arbeit vermittelt werden. Dann sparen wir nicht nur Sozialhilfe, sondern es ist auch ein Stück Humanität, wenn Menschen, die sonst nicht mehr in die Arbeitswelt zu vermitteln wären, mit Hilfe des Sozialamtes wieder in Arbeit vermittelt werden.
Ich prophezeie Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, Sie werden hier im Deutschen Bundestag noch Mühe haben, die partielle Zustimmung des Bundesrates für Dinge zu erklären, die Sie heute hier ablehnen werden.
Warum sollen denn 300 000 Sozialhilfeempfänger jährlich nur deshalb für sechs oder acht Monate auf Sozialhilfe angewiesen sein, weil die Renten- und die Arbeitslosenkassen zunächst prüfen und prüfen und prüfen? In der Zwischenzeit wird ein Antrag beim Sozialamt gestellt, wo auch geprüft wird, und anschließend bekommt das Sozialamt die Kosten vom Arbeitsamt erstattet. Da können wir doch gleich den Vorschuß über das Arbeitsamt ausbezahlen. Dann ersparen wir uns eine Menge Bürokratie und viele unangenehme Reibereien beim Hilfeempfänger.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Analyse der Ursachen für die Ausgabendynamik in der Sozialhilfe sage ich, daß wir die Höhe unserer Sozialleistungen wieder an unserer volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausrichten müssen. Wir wollen der Fehlfunktion der Sozialhilfe als Vorschußkasse ein Ende machen und Vorschüsse über die Arbeitsverwaltung zahlen lassen, und wir wollen die „Hilfe zur Arbeit" zur Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit massiv verstärken, was einen humanen Gewinn für die Betroffenen einerseits und Einsparungen bei den Kommunen andererseits bedeutet. Welcher vernünftige Politiker und welche vernünftige Politikerin kann sich gegen eine so behutsame Reform stellen? Ich habe den Eindruck, wenn ich mit der Bevölkerung zusammenkomme, daß die SPD weit neben den Empfindungen und Überzeugungen der Bevölkerung steht. Weit daneben!
Deshalb realisieren wir zwei Ziele, wobei man in der Tat vielleicht auch die Frage stellen kann, warum wir es nicht schon vor zwei oder drei Jahren getan haben. Nun, meine Damen und Herren, tun wir es, und es gibt keinen Grund, dagegen zu sein. Erstens vermeiden wir durch diese Sozialhilfereform den Langzeitbezug von Sozialhilfe. Es ist gut, daß die Bremer Studie, die ich schon zitiert habe, zu dem Ergebnis gekommen ist, daß Sozialhilfe in aller Regel ein Kurzzeit- und kein Dauerproblem ist, wenn es um die Hilfe zum Lebensunterhalt geht. Zweitens schaffen wir mit dieser Sozialhilfereform die Grundlagen dafür, daß wir auch in der Zukunft Menschen, die in Not geraten, menschenwürdig und auf hohem Niveau helfen können. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, auch in schwieriger wirtschaftlicher Situation durch eine Veränderung der konkreten Ausgestaltung der Hilfen dafür Sorge zu tragen, daß wir dieses hohe Niveau der Sozialsysteme auch in Zukunft finanzierbar halten.
Nicht derjenige richtet sich gegen Bedürftige und kleine Leute, der reformiert, wie die Koalition, sondern derjenige, der Fehlentwicklungen nicht umsteuern kann, mit der Folge, daß wir die notwendigen Hilfen für Behinderte, für Pflegebedürftige, für Arbeitslose und Alleinerziehende in absehbarer Zeit nicht mehr gewähren können.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Zustimmung. Dies ist eine behutsame Reform, eine Reform mit Augenmaß, die den Menschen nicht schadet, sondern hilft. Die Sozialhilfe, die 1961 unter Federführung der Union geschaffen wurde, ist neben der Sozialversicherung und der Versorgung eine der wichtigsten Säulen unseres deutschen Sozialsystems und bleibt es auch für die Zukunft.
Ich bitte um Ihre Zustimmung.