Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Präsident! Am 30. November des letzten Jahres, also vor gerade elf Wochen, haben wir das Erste Änderungsgesetz zur gesetzlichen Rentenversicherung beschlossen. Nach nur zehn Wochen haben wir nun das Zweite Änderungsgesetz vor uns liegen.
Wieder wird versucht, mit einem rasch gezimmerten Gesetz den Anstieg der Kosten in der gesetzlichen Rentenversicherung zu mindern, statt zu versuchen, nach Offenlegung aller Fakten zur Entwicklung der Rentenfinanzen eine sozial und finanziell verantwortliche Lösung gemeinsam zu finden.
In einem erneuten Anlauf wird versucht, eine Festschreibung „der abstrakten Betrachtungsweise bei der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für zwar leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte" durchzusetzen. Schön abstrakt klingt das. Aber was sind das für Schicksale, die sich hinter den zwar leistungsgeminderten, aber noch vollschichtig einsatzfähigen Versicherten verbergen?
Das sind die jahrzehntelang mit schwerer körperlichen Arbeit auf dem Bau beschäftigten ungelernten Arbeiter. Das sind die Frauen, die viele Jahre als Putz- oder Küchenhilfe unter schlechten Arbeitsbedingungen hart gearbeitet haben. Zu ihrem Glück waren sie in einem sozial abgesicherten Arbeitsverhältnis, davon gibt es ja heute nicht mehr allzu viele. Das sind zum Beispiel Forstarbeiter, die harte, körperliche Arbeit in der Forstwirtschaft geleistet haben und jetzt mit Wirbelsäulenschäden sicher theoretisch
Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Dr. Willibald Jacob Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Andrea Lederer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda
Manfred Müller
Rosei Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Steffen Tippach
Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Enthalten
CDU/CSU Manfred Kolbe
Ulrike Mascher
eine „leichte, sitzende Tätigkeit" ausüben können. Aber wo finden sie diese Arbeit beispielsweise im Bayerischen Wald?
Was ist mit Menschen, die wegen einer schweren Stoffwechselerkrankung oder nach einer umfangreichen Magen-Darm-Operation häufiger kleine Mahlzeiten zu sich nehmen und häufiger Pausen einlegen müssen? Welcher Arbeitgeber wird Menschen mit solchen sehr persönlichen, erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen beschäftigen?
Ich versuche den Gesetzentwurf hier anschaulich zu machen, damit wir nicht immer nur von statistischen Größen reden, sondern uns vorstellen, welche Schicksale hinter diesen Zahlen stecken.
Mit welchem Recht werden sie trotz jahrzehntelanger Beitragszahlungen von den Leistungen der Rentenversicherung ausgegrenzt? Mit welchem Recht werden sie auf die für ihre Lebenssituation unzureichende Arbeitslosenversicherung verwiesen, obwohl sie keinerlei Vermittlungschancen haben und in der Endstation Sozialhilfe landen? Dieser Prozeß wird dank der Reformen mit der eingebauten Kürzungsschere der Regierungskoalition immer rascher vollendet.
So sehr ich eine systematische Erhöhung des Rentenzugangsalters durch eine finanziell angemessene Altersteilzeit ohne Rentenminderung für sinnvoll halte, so wenig halte ich davon, Menschen, die keinerlei Chancen auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt haben, in die Sozialhilfe abzudrängen.
Wozu sollen sie denn noch Beiträge in eine solidarisch finanzierte Rentenversicherung einzahlen, wenn im Ernstfall die Leistung verweigert wird?
Darüber hinaus halte ich auch die Kostenrechnung für nicht überzeugend. Der Gesetzentwurf geht von 350 000 Personen aus, die von den Leistungen ausgegrenzt werden sollen, für die sich Mehraufwendungen von zirka 5 Milliarden DM ergeben könnten, sagt der Gesetzentwurf. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein, also Fachanwältinnen und Fachanwälte für Sozialrecht, geht von einer wesentlich geringeren Zahl von Betroffenen aus.
Die sozialdemokratischen Abgeordneten werden sich deshalb bei der anstehenden Anhörung gründlich mit diesem Teil des Änderungsgesetzes auseinandersetzen. Im November 1995 haben wir dieses Vorhaben bereits einmal abgelehnt.
Im Gegensatz zu den Änderungen beim Erwerbsunfähigkeitsrentenrecht trifft das zweite Änderungsvorhaben eine ganz große Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, laut Rentenversicherungsbericht über 3 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland.
Zum 1. Juli soll eine Veränderung der Rentenanpassung in den neuen Bundesländern durchgesetzt werden. Wie im Westen sollen künftig auch im Osten die Renten nur noch einmal im Jahr, jeweils zum 1. Juli, entsprechend der Nettolohnentwicklung des vergangenen Jahres angepaßt werden. Der Kollege Grund hat das hier schon ausführlich dargestellt.
Die Begründung im Gesetzentwurf der CDU/CSU-und F.D.P.-Abgeordneten klingt allerdings kurios. Ich zitiere:
Bei Beibehaltung des jetzigen Anpassungsverfahrens in den neuen Bundesländern wäre es daher unumgänglich, bei jeder zukünftigen Rentenanpassung nach dem alten Verfahren eine Korrektur der Nettoentgelte nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vorzunehmen. Um einen derartigen ständigen Korrekturbedarf in den neuen Bundesländern abzuwenden, ist die Umstellung auf ein Rentenanpassungsverfahren, welches wie in den alten Bundesländern auf die Nettoentgeltentwicklung des Vorjahres abstellt, im Interesse
- jetzt passen Sie auf! -
einer höheren Rechtssicherheit für die Rentner notwendig.
Das kann doch nicht die Begründung sein.
Ich fürchte, die „höhere Rechtssicherheit" wird die Rentnerinnen und Rentner nicht von der Notwendigkeit des neuen Anpassungsverfahrens überzeugen, auch wenn der nächste Absatz der Begründung die bittere Pille versüßen soll. Hier heißt es nämlich:
Mit der Umstellung des Rentenanpassungsverfahrens in den neuen Bundesländern auf dasjenige in den alten Bundesländern zum 1. Juli 1996 wird die Rentenangleichung dynamisch fortgesetzt . . .
Sicher, die Höhe der durchschnittlich verfügbaren Versichertenrenten in den neuen Bundesländern ist beachtlich. Das bestreitet niemand. Auch meine Kollegen aus Ostdeutschland berichten immer davon, daß die Situation der Rentnerinnen und Rentner, gemessen an der Ausgangslage, sich sehr positiv entwickelt hat. Besonders bei den Frauen wirkt sich die höhere Zahl der Jahre mit Erwerbstätigkeit sehr günstig aus.
Trotzdem wird es für viele Rentnerinnen und Rentner der Bruch eines Versprechens der Bundesregierung - ich sehe sie nur noch in Rudimenten -, ihres Kanzlers und des Arbeitsministers sein.
Spannend ist vor allen Dingen der Vergleich der jetzt vorliegenden mit der in der letzten Woche abgesetzten Vorlage. Keine Angaben mehr zur Kostensituation! Vor einer Woche war noch von Einsparungen von 700 Millionen DM im Jahre 1996, von 400 Millionen DM im Jahre 1997 die Rede; 1998 sollte es dann eine Mehrbelastung von 100 Millionen DM sein, und 1999 sollten wieder 400 Millionen DM eingespart werden. Vor einer Woche schien also noch alles berechenbar.
Ulrike Mascher
Jetzt heißt es in der Vorlage - ich zitiere -:
Die sich auf Grund der im Artikel 1 erfolgten Neufassung des § 255 a SGB VI ergebenden Veränderungen bei den Rentenausgaben sind derzeit noch nicht mit ausreichender Genauigkeit abschätzbar, da die hierfür erforderlichen Daten noch nicht vorliegen.
Vor einer Woche gab es noch Zahlen über die voraussichtlichen Auswirkungen der Umstellung des Rentenanpassungsverfahrens; jetzt findet sich darüber nichts mehr.
Waren die ursprünglich vorgelegten Zahlen falsch? Waren sie unseriös? Waren sie getürkt?
Ich vermute: Sie sollen ganz einfach nicht mehr Gegenstand der öffentlichen parlamentarischen Verhandlung sein.
Nach der Rentendebatte der letzten Woche sollte mit dem Versteckspiel eigentlich Schluß sein, Herr Arbeitsminister.
Was bedeutet der neue, in den § 255a eingefügte Abs. 3? Ich zitiere:
Für die Veränderung des aktuellen Rentenwerts zum 1. Juli 1996 wird der am 31. Dezember 1995 maßgebende aktuelle Rentenwert (Ost) zugrunde gelegt.
Wahrscheinlich verstehen das alle, die hier sitzen, beim erstenmal. Ich habe versucht, eine Begründung dafür zu finden, weil ich meine, es ist nicht ganz so leicht verständlich. Dazu findet sich kein einziger Satz.
Wenn ich das Rentenchinesisch richtig verstehe, heißt das, daß alle Erwartungen, die erfolgte Erhöhung zum 1. Januar 1996 würde bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 1996 nicht angerechnet, enttäuscht werden. Es gibt nur eine Anpassung streng nach dem Muster des Rentenreformgesetzes 1992. Maßstab ist die Nettolohnentwicklung Ost.
Durch die Stichtagsregelung zum 31. Dezember 1995 - wie im Gesetz - und nicht zum 1. Januar 1996 ist die Basis für die Erhöhung die Rente 1995 und nicht die am 1. Januar 1996 angepaßte erhöhte Rente. Damit erfolgt eine volle Anrechnung der bereits erfolgten Anpassung.
Ich fürchte, trotz meines Versuches, das Fachchinesisch zu übersetzen, ist der Gesetzestext nicht leicht zu verstehen. Es wäre redlich gewesen, wenn die CDU/CSU- und die F.D.P.-Abgeordneten in der Begründung des Gesetzes eine verständliche Erläuterung gegeben hätten und nicht nur kurz durch Herrn Grund heute festgestellt hätten, daß das vom Tisch ist.
Wir werden das Gesetz im Ausschuß sorgfältig beraten und versuchen, uns in der Anhörung sachkundig zu machen; denn die Begründung gibt vom Text leider zuwenig her.
Der von den Mitgliedern der Koalitionsfraktionen beschlossene Zeitplan von heute morgen - montags Anhörung, mittwochs Abschluß - macht eine solche sorgfältige Beratung allerdings fast unmöglich. Ich finde es bedauerlich und schwer erträglich, wenn eine Vorlage so unzureichend ist. Wegen der Betroffenen und wegen der Auswirkungen des Gesetzes hätte ich mir gewünscht, daß die Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion sich selbst mehr Zeit zur Beratung genommen hätten.
Herr Arbeitsminister, ich fürchte, mit Gesetzesvorhaben, die im Hauruckverfahren durchgepeitscht werden, ist das Vertrauen in die Rentenversicherung - für das Sie werben, für das ich werbe, für das auch die SPD-Bundestagsfraktion wirbt - nicht so leicht wiederherzustellen.
Danke.