Rede von
Vera
Wollenberger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Glücklich, das war nun Ihre erste Rede in diesem Parlament. Trotzdem hätte ich nicht in Ihrer Haut stecken mögen. Denn es ist natürlich ein schwieriges Geschäft, hier für die Regierungskoalition am Pult stehen zu müssen und nach drei Legislaturperioden, in denen jeweils eine Naturschutzgesetznovelle angekündigt worden ist, eine vierte Ankündigung hinzufügen zu müssen.
Wir dürfen natürlich gespannt sein.
Denn bisher gab es zwar einen BMU-Entwurf, der durch die verschiedensten Institutionen und Fraktionen geisterte. Aber die Angst vor der eigenen Courage hat ja offenbar bewirkt, daß sich Frau Merkel damit nicht an die Öffentlichkeit wagte.
Frau Kollegin Glücklich, weil Sie auf die Gefahren der Gesetzgebung hingewiesen haben, sage ich: Wie man es ungeachtet dessen machen kann, haben die neuen und auch einige alte Bundesländer vorgemacht, die inzwischen sehr moderne Landesnaturschutzgesetze entwickelt und zum Teil schon wieder novelliert haben. Im übrigen hätten Sie auch einmal einen Blick in die Entwürfe, die von den Bündnisgrünen, aber auch der SPD vorlagen, werfen können, um zu sehen, wie man das macht. Das ist eigentlich gar nicht so schwer; man muß es nur anpacken.
Darüber sind sich alle einig: Die Neufassung des Naturschutzgesetzes wird immer dringender. Ich will
Vera Lengsfeld
nur einige wichtige Tatsachen nennen: Täglich werden in Deutschland 120 Hektar Fläche versiegelt, während der Anteil von Schutzgebieten kaum 2 Prozent der Gesamtfläche des Landes beträgt. Um das vielleicht noch ein bißchen plastischer zu machen: Den bundesdeutschen Kraftfahrzeugen wird allein an Parkfläche etwa die Hälfte der Fläche zugestanden, die in Deutschland als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind. Der Schutz in diesen Gebieten ist aber nicht gewährleistet. Selbst in Naturschutzgebieten der ranghöchsten Schutzkategorie finden nach wie vor starke Eingriffe und Beeinträchtigungen statt. So hat eine Studie im Süden Deutschlands, die mehr als 10 Prozent der Gesamtzahl der Naturschutzgebiete umfaßte, ergeben, daß nur 0,19 Prozent in einem sehr guten, 21,4 Prozent in einem guten, 54,3 Prozent dagegen in mäßigem und 21,2 Prozent in schlechtem Zustand waren. 2,9 Prozent der Naturschutzgebiete waren sogar völlig zerstört.
Nach den „Roten Listen" gilt derzeit in Deutschland rund die Hälfte der Wirbeltierarten als in ihrem Fortbestand gefährdet. Von den Arten der Farn- und Blütenpflanzen wird rund ein Drittel als gefährdet angesehen. Bis zu 10 Prozent der Arten der verschiedenen Gruppen sind bereits ausgestorben oder verschollen. Der zunehmende Rückgang der biologischen Vielfalt, der Verlust oder die Beeinträchtigung von Arten in ihren Lebensräumen führt zur irreversiblen Verarmung der Natur und bedroht letztendlich auch die Lebensgrundlage der Menschen.
Eine kurzsichtige Landnutzungsplanung berücksichtigte weder das Vorsorge- noch das Vermeidungsprinzip. Zwischen 1950 und Mitte der achtziger Jahre wurden rund 360 000 Kilometer der Fließgewässer dritter Ordnung, das heißt der Bäche und Gräben, begradigt, mit Beton ausgegossen, mit Brettern verschalt, verrohrt oder kanalisiert. Nur noch 10 Prozent dieser Bäche fließen in ihrem ursprünglichen Bett. Die Gewässer zweiter Ordnung und die Flüsse sind fast vollständig begradigt und beschleunigt. Feuchtflächen in den Einzugsgebieten der Flüsse wurden trockengelegt und in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt. Ihre Speicherungsfunktion für Niederschläge ging verloren. In kurzen Abständen wiederkehrende Jahrhunderthochwasser sind die Folge dieser Eingriffe in den Wasserhaushalt und haben in Europa während der Jahreswende 1994/1995 zu 300 000 Umweltflüchtlingen geführt, die ihre Häuser verlassen mußten.
Trotzdem versucht die Bundesregierung seit der Wende, den naturnahen Stromlandschaften im Osten, die noch nicht begradigt, entwässert, verrohrt und zerstört sind, den Garaus zu machen. Das Projekt 17 des Bundesverkehrswegeplans, das die Flüsse und Kanäle von Hannover über Magdeburg nach Berlin zu Großbaustellen machen will, hat verheerende Folgen für die wenigen Feuchtgebiete, die uns noch geblieben sind. An der Havel sollen Röhrichtgürtel, Altarme, weite Überschwemmungszonen, Erlenbrüche und wechselfeuchte Grünlandflächen vernichtet werden. Selbst vor international anerkannten Vogelschutzgebieten wie in Ketzin wird nicht haltgemacht.
Der Saale-Ausbau, ebenfalls „vordringlicher Bedarf" im Verkehrswegeplan, gefährdet das größte Schutzgebiet Sachsen-Anhalts, das UNESCO-Biosphärenreservat „Mittlere Elbe" mit dem größten erhaltenen Auenmischwald Mitteleuropas. Dort leben noch Elbebiber, Schwarzstörche und eine der größten Weißstorchpopulationen. Eine umfassende Regulierung von Saale und Elbe im Oberlauf würde außerdem auch das Fließverhalten der restlichen Elbe ändern. Folge: Wichtige Hochwasser blieben aus, so daß das geplante Biosphärenreservat „Elbtalaue" im ehemaligen Grenzgebiet gefährdet wäre.
Ein weiteres Beispiel: Der Freistaat Thüringen will auf dem Höhenzug Hainich einen BuchenwaldNationalpark einrichten. Einen großen Teil des künftigen Nationalparks nimmt die Bundesliegenschaft „Truppenübungsplatz Weberstedt" mit 55 Quadratkilometern ein. Mit der Aufgabe der militärischen Nutzung durch die Bundeswehr wird der Truppenübungsplatz planmäßig zum 31. Dezember 1995 geräumt. Doch damit hat Thüringen noch lange kein neues, großflächiges Schutzgebiet wie vorgesehen. Denn das Bundesfinanzministerium verlangt jetzt vom Freistaat Thüringen 70 bis 80 Millionen DM für die Übertragung, die das Land natürlich nicht hat. In der Übergangszeit wird aus wertvollen Buchenwäldern des Hainich rausgeholt, was nur geht. Die Bundesforstverwaltung läßt mehrere tausend Festmeter Holz einschlagen, und zwar ausgerechnet die Bäume, die für die Kernzone des zukünftigen Nationalparks unverzichtbar sind.
Im ursprünglichen Entwurf des Koalitionsantrags, den Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, im Oktober vorgelegt haben, stand noch, daß vom Bund bei Bedarf ehemalige Truppenübungsplätze als National- oder Biosphärenparkgebiete kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollen. Leider wurde dieser Passus in letzter Minute gestrichen. Das ist charakteristisch für den Eiertanz, den die Koalitionsfraktionen seit Jahren in Sachen Naturschutz aufführen.
Ihre Bilanz ist - insgesamt gesehen - eine Schande. Ihre Naturschutzpolitik zeichnet sich dadurch aus, daß im Osten Deutschlands all das so schnell wie möglich zerstört wird, was im Westen längst nicht mehr existiert: großflächige Schutzgebiete, intakte Flußauen oder mäandrierende Flüsse.
Aber regelrecht verschlafen hat die Bundesregierung wegweisende Entwicklungen auf europäischer Ebene. Das gilt insbesondere für die Flora-FaunaHabitat-Richtlinie vom 21. Mai 1992. Damit wird das Bundesnaturschutzgesetz sogar auf EG-Ebene überholt. Frau Kollegin Mehl hat schon daran erinnert, daß die Richtlinie bereits zum Juni 1994 hätte umgesetzt werden müssen. Ausgerechnet im Europäischen Naturschutzjahr bildet die Bundesrepublik Deutschland das Schlußlicht bei der Umsetzung dieser Richtlinie. Sogar die neu beigetretenen EU-Staaten Schweden, Finnland und Österreich haben
Vera Lengsfeld
bereits ihre Entwürfe in Brüssel präsentiert - wir nicht.
- Das liegt ganz bestimmt nicht an den Ländern, sondern an der Zögerlichkeit der Bundesregierung.
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen trägt all dem Rechnung. Es ist ein grundlegend neues Konzept, das wir mit unserem Gesetzentwurf umsetzen wollen.
Der Naturschutz muß vom Reservatschutz zu einem generellen Flächenschutz entwickelt werden. Wir erreichen erst dann großflächigen Naturschutz, wenn die Naturnutzung durch Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, durch Freizeitaktivitäten sowie durch die Landnahme für Siedlungen und Verkehrswege naturverträglich wird. Das heißt, wir müssen die Nutzung in ein Naturschutzkonzept integrieren. Wir setzen dies in unserem Entwurf um, indem wir Leitlinien für eine naturverträgliche Naturnutzung definieren.
Naturschutzpolitik ist zu einem großen Teil auch Landwirtschaftspolitik.
Bei Fortsetzung der gegenwärtigen Agrarpolitik wird prognostiziert, daß in den nächsten 20 bis 30 Jahren etwa ein Drittel bis zur Hälfte der gegenwärtig landwirtschaftlich genutzten Fläche stillgelegt wird. Aus Sicht des Umwelt- und Naturschutzes ist dies eine katastrophale Entwicklung, denn sie bedeutet eine Aufspaltung der Kulturlandschaft in Schmutzgebiete mit intensivster Nutzung und hohem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden und in ungenutzte Bracheflächen.
Durch eine drastische Extensivierung der Landwirtschaft würden Agrarüberschüsse beseitigt, würde der Rückzug der Landwirtschaft aus der Fläche aufgehalten. Es wäre auch dem Naturschutz gedient, da eine kleinräumige, regionale und diverse Agrarstruktur automatisch zum Erhalt ökologisch wertvoller Kulturlandschaften führt. Dadurch würden Millionen gespart, die derzeit für aufwendige Pflegemaßnahmen zur Erhaltung von Landschaftskulissen ausgegeben werden.
Durch die neue Schutzgebietskategorie der Biosphärenparks in unserem Entwurf sollen Modellregionen gefördert werden, in denen ein ausgewogenes Nebeneinander und Zusammenwirken zwischen nachhaltigem menschlichem Wirtschaften und natürlicher Dynamik demonstriert wird. Außerdem würdigt die Aufnahme der Biosphärenparks in das
Naturschutzgesetz die Entwicklungen in den neuen Bundesländern.
- Ich weiß nicht, was Sie meinen, aber wir können uns anschließend gern darüber unterhalten. Meine Redezeit läuft nämlich ab.
Naturschutz kann nur mit den Menschen und nicht gegen sie durchgesetzt werden. Wir brauchen dringend mehr Kooperation und Partizipation im Naturschutz. Auch dem trägt unser Entwurf Rechnung. Wir haben in unserem Entwurf den Naturschutzverbänden, die in den letzten hundert Jahren äußerst wichtige Beiträge zum Erhalt von Natur und Landschaft geleistet haben, größere Rechte eingeräumt, unter anderem das Recht auf Verbandsklage, das in mehreren Landesnaturschutzgesetzen schon sehr erfolgreich praktiziert wird.
Der Schutz von Natur und Landschaft darf nicht nur an der Nützlichkeit der Natur für den Menschen orientiert werden. Natur und Landschaft sind auch um ihrer selbst willen aus der Verantwortung des Menschen für die natürliche Umwelt heraus zu schützen. Deshalb ist in den neugefaßten Zielbestimmungen nicht mehr von Leistungs- und Nutzungsfähigkeit des Naturhaushalts die Rede, sondern von der Funktions- und Regenerationsfähigkeit.
Die Neufassung der Ziele in unserem Entwurf greift außerdem das neue Denken in ökosystemaren Zusammenhängen auf. Den Zielen des Naturschutzes werden der Ökosystemschutz und der Schutz der Umweltmedien Boden, Wasser, Luft und Klima hinzugefügt.