Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Wenn ich die Debatte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt habe, dann kann ich einmal aus meiner Sicht ein Resümee ziehen und dem voll zustimmen: Die Politik der europäischen Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Sie liegt im deutschen Interesse. Aber ich möchte auch besonders betonen, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung sehr deutlich gemacht hat, daß die Bürger und Bürgerinnen diese Erfolgsgeschichte und alles, was noch weiterführen soll, auch verstehen sollen und verstehen müssen und daß man mehr dazu tun soll.
Ich freue mich sehr darüber - das kam auch in vielen Wortbeiträgen zum Ausdruck -, denn es gab eine Zeit, in der die Europapolitik fast ausschließlich in den Kabinetten und Konferenzen ausgehandelt wurde. Die Öffentlichkeit hatte zuwenig Anteil daran. Kritische Nachfragen damals - daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, auch an eine Diskussion hier vor zwei Jahren - wurden nicht immer honoriert, sondern sie wurden gar als Europafeindlichkeit abqualifiziert, obwohl diejenigen, die bestimmte innere fehlerhafte Strukturen kritisieren, es mit Sicherheit besser mit Europa meinen als andere, die generell sagen, jetzt, mit der Europäischen Währungsunion, hätte ich endlich ein nationales Thema und damit könnte ich Ängste provozieren. So sollte man es nicht machen.
Maastricht I war in der Tat das letzte Glied in dieser Kette. Der Vertrag von Maastricht - das wissen wir heute mehr als 1991 - hat die Bürgerinnen und Bürger relativ unvorbereitet getroffen und natürlich weit verbreitete Skepsis hervorgerufen.
Ich begrüße es, daß heute ein breiterer Konsens darüber besteht, dieses Defizit bei der Regierungskonferenz 1996 nicht zu wiederholen. Nur durch Offenheit ist das möglich. Da nützen alle Umfragen nichts, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Menschen haben in vielen Bereichen eine tiefe Skepsis gegenüber der europäischen Integration. Wir wissen, daß diese Skepsis unberechtigt ist, aber dann ist es auch unsere Aufgabe, diese Skepsis zu überwinden. Ich sage noch einmal: Skeptiker darf man nicht am Wegrand stehenlassen, sondern man muß sich bemühen, sie mitzunehmen.
Offenheit muß auch im Umgang der Verfassungsorgane in Deutschland untereinander herrschen. Die deutschen Länder haben ein ureigenes Interesse am anstehenden Umbau Europas. Ein besonders wichtiges Element ist dabei der Föderalismus. Deswegen habe ich mir auch erlaubt, das Wort zu ergreifen.
Meine Damen, meine Herren, man muß es einfach sehen: Wir Deutsche haben eine spezifische, historisch gewachsene Staatstradition, eben nicht zentralistisch, sondern sehr stark föderalistisch. Das hat Vorteile, und das hat Nachteile. Die Vorteile überwiegen die Nachteile. Wenn wir mit heute 15 Mitgliedern in einer Europäischen Union zusammen sind, in der 14 oder dreizehneinhalb Staaten eine im Prinzip sehr zentralistische Staatsstruktur haben, dann ist folgende Frage natürlich aus Ländersicht außerordentlich interessant: Wie wird sich diese Europäische Union entwickeln? Führt die Tatsache, daß die bei weitem überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine sehr zentralistische Staatsorganisation hat, nicht letzten Endes dazu, daß über die europäische Integration auch die innere Staatsstruktur Deutschlands fundamental verändert wird? - Das wollen wir eigentlich gar nicht, aber das können wir möglicherweise gar nicht mehr verhindern, weil wir gegenüber vielen anderen Interessen sehr einsam dastehen.
Ich bin optimistisch. Der Anfang ist gemacht, mit der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, der Einsetzung des Ausschusses der Regionen im EG-Vertrag und mit dem neuen Art. 23 des Grundgesetzes. Aber bei der Regierungskonferenz 1996 müssen diese föderalen Strukturen in Europa weiter gestärkt werden. Das ist keine deutsche Marotte, sondern es ist eine Chance für Europa. Ein Europa mit über 400 Millionen Menschen kann nicht zentral organisiert sein; es würde dann aus der inneren Struktur
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
heraus zerbrechen, wenn wir uns nicht bemühen, die Dezentralisierung viel, viel stärker voranzutreiben.
- Sie haben das gerade gesagt, Herr Haussmann: Europa steht vor einem entscheidenden Umbau.
Die Probleme, die mit dem Ende des Ost-WestKonfliktes zusammenhängen und die sich aus der Aufnahme neuer Staaten ergeben, stehen zur Lösung an. Der Bundeskanzler hat heute wiederum das Datum 2000 genannt. Das ist in vier Jahren.
Unsere Wirtschaft muß sich dem Wettbewerb der globalen Märkte stellen, aber zu Hause soziale Leistungen finanzieren. Das ist ein außerordentlich großer Widerspruch, den wir auflösen müssen. Die strukturelle Arbeitslosigkeit wächst trotz immenser Anstrengungen in Europa insgesamt seit 20 Jahren. Auf diese Fragen, die gestellt sind, erwarten natürlich alle Antworten.
Ich habe es bedauert, daß in der Debatte eigentlich überhaupt nicht über die Arbeiten der Reflexionsgruppe gesprochen worden ist. Unter den Mitgliedstaaten herrscht vielfach Unklarheit über den weiteren Weg. In der Reflexionsgruppe regiert, wie nun vielfältig geschrieben wird, nicht die Strategie, sondern die Taktik. In zentralen Punkten gehen die Auffassungen diametral auseinander. Völlig ungeklärt ist die künftige Richtung der Europäischen Union. Sollen die integrativen Elemente, also Kommission und Europäisches Parlament, oder die zwischenstaatlichen Elemente, also der Rat, gestärkt werden? Da gibt es natürlich tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten. Hier ist nicht einmal der Ansatz einer einheitlichen Linie zu erkennen.
Mit Zögerlichkeiten und Halbherzigkeiten werden wir allerdings die Zustimmung der Bevölkerung nicht gewinnen. Was verspricht der Maastricht-Vertrag den Bürgern nicht alles? Mehr Transparenz, mehr Bürgernähe - das steht alles drin -, konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Ich erinnere besonders an die verheißungsvollen Aussagen des Europäischen Rates vom Dezember 1992 in Edinburgh. Was ist eigentlich aus diesen hohen Erwartungen, die wir ja auch untermauert haben, geworden?
Nehmen wir das Subsidiaritätsprinzip. In Edinburgh wurde es als das Allheilmittel gegen Eurosklerose gepriesen. Die Kommission - das kann ich nicht akzeptieren - will es bei allen Rechtsakten zur Verwirklichung des Binnenmarktes gar nicht erst anwenden. Das heißt: Es ergibt sich ein absoluter Widerspruch zwischen dem, was wir politisch wollen, und dem, was die Wirklichkeit innerhalb der Europäischen Kommission ist. Im übrigen reduziert die Kommission es meines Erachtens contra legem auf die reine Frage nach einem angeblichen „europäischen Mehrwert" .
Das ist nicht der Inhalt des Subsidiaritätsprinzips. Die Folgen dieser Auffassung sehen wir allenthalben. Jetzt sagen Sie nicht: Er kommt schon wieder mit den Richtlinien für Baustellensicherheit, Fleischhygiene und Feuerschutzanzüge. - Nein, meine Damen und Herren, wöchentlich ergeben sich immer wieder neue Entscheidungen, die völlig anders als das sind, was in diesem Hohen Haus und darüber hinaus geredet wird. Im Umweltbereich - ich will das nur einmal deutlich machen - regelt der IVU-Richtlinienentwurf die Zulassung verschiedener industrieller Anlagen. Man würde nun erwarten, daß dort europaweite materielle Grenzwerte für Umweltbelastungen festgeschrieben werden. Nichts dergleichen. Statt dessen regelt man die Einzelheiten des Verwaltungsverfahrens. Dadurch bringt die Richtlinie keinen Gewinn für die Umwelt. Sie ermöglicht weiterhin Umweltdumping in der EU zu Lasten Deutschlands. Entgegen allen Appellen in Richtung auf den schlanken Staat führt sie zu weiterer Bürokratisierung und verhindert die Deregulierungsmaßnahmen, die auch hier in diesem Hohen Hause permanent angemahnt werden.
Also müssen wir darüber reden, daß das so nicht bleibt.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Besonders ärgerliche Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip finden sich immer wieder im Statistikbereich. So ist zum Beispiel die Einführung eines umfassenden Informationssystems über den Tourismus in der Europäischen Union jetzt geplant. Dazu sollen auf europäischer Ebene Daten geliefert werden: Anzahl der Betriebe, Zimmer und Betten, Anzahl der Ankünfte und Übernachtungen Gebietsansässiger und Gebietsfremder, detaillierte Angaben über das Fremdenverkehrsvolumen, die Reisemerkmale, das Profil der Touristinnen und Touristen sowie der Touristenausgaben.
Ich frage hier: Wozu soll das Ganze eigentlich dienen? Wird hier nicht anders gehandelt, als wir es politisch insgesamt wollen?
Trauen wir denn unseren Tourismusregionen in Europa nicht mehr die nötigen Aktivitäten zu?
53 Vorschläge hat die Bundesregierung auch in Abstimmung mit dem Bundesrat eingebracht, wo Aufgaben sinnvollerweise unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips verlagert werden sollten, entweder auf die Nationalstaaten oder auf Regionen. Was ist geschehen? Es ist leider nichts oder fast nichts geschehen, weil der europäische Geist in Brüssel natürlich nicht föderalistisch denkt. Hier müssen wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten, im Interesse Europas - ich sage das noch einmal - und nicht allein im Interesse der Länder.
Das ist für mich das, was unsere Bürger draußen auf die Palme bringt. Im bürokratischen Detail
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schlägt die EU erbarmungslos zu; aber dort, wo sie gefragt wäre - Stichwort: Bosnien -, blamiert sie sich in den Augen der Öffentlichkeit trotz aller Bemühungen.
Als Eurokratie hat Europa keine Zukunft, die wir alle wollen. Die Europäische Union - das darf ich hier aus meiner Sicht sagen - muß sich den großen Herausforderungen unseres Kontinents stellen. Das ist primär die Sicherung des Friedens - natürlich ist Europa eine Frage von Krieg und Frieden -, aber auch die Bewältigung des Asyl- und des Flüchtlingsproblems. Ich würde mich freuen, wenn wir endlich nicht mehr solche quälenden Diskussionen vor dem Bundesverfassungsgericht hätten. Wir hätten sie dann nicht mehr, wenn wir endlich eine einheitliche europäische Asylgesetzgebung hätten. Das bräuchten wir in Europa, nicht aber europäische Statistiken.
Wie will ich denn die Bekämpfung des organisierten Verbrechens überhaupt durchführen, wenn die Regelungen zwischen der Polizei aus Holland und Deutschland, aus Belgien und Deutschland, aus Luxemburg und Deutschland und gegenüber den anderen anrainenden Ländern alle unterschiedlich sind? Schauen Sie sich einmal an, unter welchen Bedingungen ein nordrhein-westfälischer Polizeibeamter nach Holland darf und umgekehrt. Es ist geradezu wunderbar für den einen oder anderen Verbrecher, über die Grenze zu kommen. Da muß man Dinge ändern, aber nicht im Statistikbereich und nicht durch neue Verfahrensvorstellungen.
Hören Sie ein bißchen zu. Ich meine das gar nicht so parteipolitisch, wie Sie immer versuchen, das darzustellen. Das ist doch ein gemeinsames Interesse, das wir in diesen Dingen haben. Wenn wir nicht zu Veränderungen kommen, dann nehmen uns die Leute nicht ab, daß wir durch Europa ein Stück mehr an Sicherheit vor Verbrechen haben. Dann reden wir zwar darüber, aber die Leute nehmen uns das nicht ab.
Wir brauchen die Öffnung gegenüber den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas. Das ist meine feste Überzeugung. Hier stimme ich dem Bundeskanzler ausdrücklich zu, wenn ich von seiner Regierungserklärung für die ganze Debatte ausgehen darf.
Wir brauchen eine klare und für jedermann nachvollziehbare Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Professor Weidenfeld nennt das „Maastricht entrümpeln". Unkontrollierte Kompetenztransfers fördern Zentralisierungsängste. Über eine Generalklausel wie den Art. 235 des EG-Vertrages, wonach Entscheidungen an den Parlamenten - sowohl dem Europäischen Parlament als auch an den nationalen Parlamenten - vorbeigehen, sind Hunderte von wichtigen Entscheidungen gegangen, die überhaupt nicht mehr politisch diskutiert worden sind. Dies sind die Probleme Europas viel stärker als manche Dinge - wenn ich das so sagen darf -, die heute so stark in Konfrontation darzustellen versucht worden sind.
Ich bin wirklich der Meinung, daß wir die große Aufgabe haben, diese Generalklausel entscheidend zu verändern; und wann haben wir denn die Chance dazu, wenn nicht bei Maastricht II 1996!
Ich sage Ihnen: Leider fanden diese Gesichtspunkte in den Arbeiten der Reflexionsgruppe zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 so gut wie keinen Niederschlag. Die nötige Präzisierung des Subsidiaritätsartikels wurde dort nur kurz angesprochen.
Die Frage einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, die eigentlich im primären Interesse dieses Parlaments hier liegt, wurde überhaupt nicht angegangen. Hier müssen wir meines Erachtens nachhaken.
Darüber hinaus, meine Damen, meine Herren, brauchen wir in manchen Bereichen eine Rückverlagerung von Aufgaben auf die Mitgliedstaaten.
Dazu ein Beispiel. Ich spreche das sehr deutlich an. Heute entfällt noch die Hälfte des Gemeinschaftshaushalts auf den Agrarbereich. Das sind über 70 Milliarden DM für nur 2,42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU-Staaten.
Ich will gar nicht den Präsidenten des Europäischen Parlaments zitieren, der vor ein paar Wochen gesagt hat: Eine Europäische Union, die jedes Jahr zum Beispiel 1,87 Milliarden DM für die Subventionierung des Tabakanbaus ausgibt, statt sie in Forschung und Entwicklung zu investieren, sei nicht arm an Geld, sondern arm an Geist.
Meine Damen, meine Herren, da ist sicherlich eine Menge dran; aber den Worten müssen auch Taten folgen. Darüber wird irgendwann auch in diesem Hause einmal diskutiert und werden Entscheidungen herbeigeführt werden müssen.
Meine Regierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bayerische Staatsregierung, hat daher zum Beispiel einen weitreichenden Vorschlag zur Regionalisierung der EU-Agrarpolitik vorgelegt. Wir wollen die Vereinfachung der EU-Marktordnung und ihre Rückführung auf Rahmenbedingungen. Wir wollen die Zuständigkeit für Direktzahlungen zur Einkommenssicherung der Landwirte von der EU auf die Mitgliedstaaten bzw. Regionen zurückverlagern.
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Wir wollen als Ausgleich für die dadurch entfallenden EU-Nettotransferleistungen den Kohäsionsfonds zugunsten der finanzschwächeren EU-Mitgliedstaaten angemessen erweitern.
Im Ergebnis, meine Damen und Herren, würden die nationalen Gestaltungsspielräume zur Realisierung einer angemessenen Einkommenspolitik für die Landwirtschaft erheblich ausgeweitet. Ich sage das jetzt auch als Ministerpräsident eines Landes, das Gott sei Dank immer noch sehr stark agrarisch und von der bäuerlichen Landwirtschaft geprägt ist. Gerade im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik haben wir eine Regelungsdichte erreicht, die jegliches Maß überschreitet und überhaupt nicht mehr verstanden wird. Da nützen auch manche Gaben nichts mehr.
Die von uns vorgeschlagene Reform hätte vier Wirkungen: erstens mehr Transparenz, Effizienz und schlankere Verwaltung; zweitens adäquate nationale Einkommenssicherung gerade für die bäuerliche Landwirtschaft, weil wir es dann selber entscheiden; drittens angemessene Honorierung der ökologischen und landeskulturellen Leistungen der bäuerlichen Landwirtschaft und viertens, meine sehr verehrten Damen und Herren, etwas ganz Entscheidendes,
die Vorbereitung der Europäischen Union auf die Erweiterung nach Osten.
Wenn man die Europäische Union erweitern will - ich bin der festen Überzeugung, wir haben die politische Chance, Mitteleuropa nach Europa zu holen, Warschau, Preßburg oder Bratislava, Prag, Budapest nach Europa zu holen -, so ist das eine politische Aufgabe, die uns genauso gestellt ist, wie sie uns damals in bezug auf Lissabon und Madrid gestellt war.
Wir wissen auch: Wenn diese Länder nach Europa kommen, vermehrt sich die Zahl der Landwirte um das Doppelte. Das heißt, wir können diese Länder nur aufnehmen, wenn wir bereit sind, bestimmte Dinge nicht mehr europäisch zu regeln, weil es sonst die europäische Kasse zerreißt, weil die europäische Kasse sie nicht aushält.
Wir müssen deutlich machen: Entweder wir wollen die Erweiterung - dann müssen wir auch Konsequenzen ziehen -,
oder wir wollen sie nicht; dann dürfen wir es aber auch nicht mehr anders sagen. Ich will die Erweiterung. Diese schaffen wir aber nur, wenn wir Entlastungen durchsetzen.