Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den kommenden Jahren stehen wir in der europäischen Politik vor einer Reihe ganz entscheidender Weichenstellungen. Sie werden das Gesicht unseres Kontinents bis weit in das kommende Jahrhundert hinein prägen.
Ich will daran erinnern, daß mit Beginn des neuen Jahres die italienische Präsidentschaft die Aufgabe übernimmt, die Regierungskonferenz zu eröffnen, daß dann im zweiten Halbjahr des kommenden Jahres die irische Präsidentschaft folgt und daß wir hoffen und darauf hinarbeiten, daß im ersten Halbjahr des Jahres 1997 unter der niederländischen Präsidentschaft die Regierungskonferenz, wie ich gerne sagen möchte, mit einem Maastricht-II-Vertrag zum Abschluß kommen wird.
Es gilt jetzt, mit Augenmaß, mit Mut, aber auch mit Geduld die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die deutsche Außen- und Europapolitik muß dabei von bestimmten Rahmenbedingungen ausgehen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört, daß wir vor allem auch im Ansehen all unserer Nachbarn als das größte und wirtschaftlich stärkste Land im Herzen Europas mit unserem Verhalten ganz besonders beobachtet werden.
Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn und Grenzen, und wir dürfen auch nicht übersehen, daß die Belastungen aus der jüngsten deutschen Geschichte latent nach wie vor spürbar sind. Ich weiß auch, daß es ebenso Gefühle von Neid und gelegentlich von Eifersucht über die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht täuschen: Es gibt nach wie vor, wie auch in den Jahren 1989/90 in der Entwicklung zur deutschen Einheit, reale Befürchtungen angesichts der Größe und
Stärke des vereinten Deutschlands. Deswegen ist es wichtig und ein Gebot der Zukunftssicherung für unser Land, daß wir die Lage realistisch einschätzen und immer wieder, auch in sogenannten kleinen Fragen, berücksichtigen, wie unsere Nachbarn uns sehen und betrachten.
Eine deutsche Außenpolitik, die nicht klar zu den Grundsätzen und Zielen der europäischen Einigung stehen würde, wäre unverantwortlich. Es gibt kein Zurück zur nationalen Machtpolitik. Es gibt auch kein Zurück, weder für die Deutschen noch für die anderen in Europa, zum überkommenen Gleichgewichtsdenken. Kern unserer Außen- und Europapolitik muß und wird deshalb auch in Zukunft die konsequente Fortsetzung des europäischen Einigungswerks sein. Dieses Werk, das vorausschauende Politiker wie Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi und - ich betone es - auch alle meine Vorgänger im Amt in diesen Jahren mit Optimismus, manchmal mit Resignation, mit Einsatz und vor allem mit einer Maren Vision begonnen haben, hat ganz entscheidend dazu beigetragen, daß wir in Europa und in den vergangenen fünfzig Jahren Frieden, Freiheit und auch wachsenden Wohlstand erleben konnten.
Bei all dem, was man über diese Jahrzehnte kritisch sagen kann, gilt der Satz: Die Politik der europäischen Einigung ist die größte Erfolgsgeschichte unseres Kontinents geworden.
Dies gilt auch für die Zukunft. Die Politik der europäischen Einigung ist und bleibt für Deutschland und Europa eine Frage von existentieller Bedeutung, und - ich wiederhole diesen Satz noch einmal sehr bewußt - sie ist in Wirklichkeit auch die Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Deshalb müssen wir alles tun, um den europäischen Einigungsprozeß entschlossen voranzubringen und ihn politisch unumkehrbar zu machen.
Dabei, meine Damen und Herren, müssen wir uns bewußt sein, daß es in den kommenden Jahren immer wieder Fortschritte, aber auch Rückschläge geben wird, zumal - und das ist ein spürbarer Unterschied zu den Verhandlungen, die zu Maastricht I führten - die innenpolitische Lage in vielen Partnerländern alles andere als leicht ist. Je näher die Detailentscheidungen rücken, desto mehr wächst die Kritik an der europäischen Entwicklung und der europäischen Politik bei vielen Bürgern, auch bei uns in Deutschland. Dennoch ist für mich klar, daß für EuroPessimismus oder gar Euro-Skepsis nicht der geringste Anlaß besteht. Dies um so weniger, wenn wir uns noch einmal deutlich machen, was wir in den letzten Jahren erreichen konnten.
Ich erinnere mich sehr gut an den ersten Europäischen Rat in Kopenhagen im Dezember 1982, an dem ich als neugewählter Bundeskanzler teilnahm. Damals gab fast niemand mehr dem Projekt Europa eine Zukunftschance, und das Wort von der EuroSklerose war das bestimmende Wort zur europäischen Entwicklung.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
In einer gemeinsamen Anstrengung haben wir diesen gefährlichen Stillstand überwunden. Dabei waren Frankreich und Deutschland ganz wesentlich engagiert. Ich erinnere an die vielen gemeinsamen Aktionen, die Staatspräsident François Mitterrand und ich in gemeinsamer Zusammenarbeit mit dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors immer wieder unternommen haben.
Aus der damaligen Krise ist durch eine enge deutsch-französische Partnerschaft und nicht zuletzt durch die Arbeit von Jacques Delors eine neue Dynamik entstanden. Ich erinnere an das Binnenmarktprogramm aus dem Jahre 1985 und die Einheitliche Europäische Akte von 1986.
Auch nach der grundlegenden Veränderung der politischen Lage in Europa durch die friedliche Revolution im Osten unseres Kontinents - auch unseres eigenen Landes nach dem Fall der Mauer - hat die Bundesregierung konsequent an der europäischen Integration festgehalten. Wir haben nie einen Zweifel daran aufkommen lassen - und diese Position bestimmt auch in Zukunft unsere Politik -, daß deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Unser Europakurs hat es uns ermöglicht, die Zustimmung unserer überwiegend zögerlichen Partner in Europa zur deutschen Einheit zu erlangen.
Aus dieser Lage heraus ist im Jahre 1990 die gemeinsame Initiative zwischen Deutschland und Frankreich zum Maastricht-Vertrag entstanden. Das Konzept von Maastricht umschreibt unsere gemeinsame Zukunft. Es definiert die Aufgaben der nächsten Jahre. Diese wollen wir in bewährtem engen Schulterschluß mit Frankreich angehen. Ich hoffe sehr, daß das heute mittag beginnende deutsch-französische Treffen in Baden-Baden, das sich in erster Linie mit europapolitischen Fragen befassen wird, in diesem Sinne dienlich sein wird.
Unsere Partnerschaft ist vom festen Willen zu enger Zusammenarbeit und von der Entschlossenheit, Europa gemeinsam voranzubringen, geprägt. Beim informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Mallorca im September dieses Jahres haben wir uns sehr eingehend der umfangreichen europäischen Agenda bis zum Jahr 2000 gewidmet. Wir haben dort in Anknüpfung an unser Gespräch vom Europäischen Rat in Essen in einer offenen Diskussion die mittel- und langfristige Ausrichtung der Europapolitik und die damit entstehenden zeitlichen Herausforderungen erörtert.
Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Themen nennen, die in den nächsten Jahren auf der „Europäischen Agenda 2000" stehen:
Erstens. Die Regierungskonferenz zur Überprüfung und Fortentwicklung des Maastricht-Vertrages, von der ich bereits eingangs sprach.
Zweitens. Die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion unter strikter Wahrung der Kriterien und gemäß dem Zeitplan des Maastricht-Vertrages.
Drittens. Die Verhandlungen zur künftigen Mittelausstattung der Union müssen rechtzeitig vor dem
Auslaufen der Finanzregelung von Edinburgh im Jahre 1999 abgeschlossen werden. Ich betone, daß sie rechtzeitig vor 1999 abgeschlossen werden müssen. Die neuen Vereinbarungen müssen insbesondere, wie ich denke, dem Prinzip einer fairen Lastenteilung stärker als bisher entsprechen.
Viertens. Die weitere Heranführung der mittel- und osteuropäischen Reformländer an die Europäische Union und die Vorbereitung ihres Beitritts.
Fünftens. Der Beitritt der jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa muß durch den Ausbau enger und partnerschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarregionen der Europäischen Union im Osten und Süden ergänzt werden. Ich nenne hier Rußland, ich nenne die Ukraine, ich nenne die Türkei, die Mittelmeerregion und nicht zuletzt Israel.
Sechstens. Es wird in den nächsten Jahren darum gehen, weiter an einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem zu bauen. Wichtige Eckpunkte hierfür sind die geplante NATO-Erweiterung sowie der parallele Aufbau einer besonderen Partnerschaft mit Rußland und der Ukraine.
Siebtens. Es ist in diesen Tagen wieder besonders deutlich geworden, wie wichtig folgender Punkt ist: Es geht schließlich um die langfristige Absicherung und Vertiefung des transatlantischen Verhältnisses. Wir wollen und müssen die Partnerschaft Europas mit den Vereinigten Staaten festigen und vertiefen. Ich danke ausdrücklich dem spanischen Ministerpräsidenten, der spanischen EU-Präsidentschaft, daß beim transatlantischen Treffen mit Präsident Clinton vor wenigen Tagen eine neue und, wie ich denke, zukunftsweisende transatlantische Agenda und ein Aktionsplan für die nächsten Jahre vereinbart wurden.
Aus diesen Abmachungen ergibt sich ein komplexer, schwieriger Zeitplan sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene, ein Zeitplan, der enorm viel Arbeit enthält und der vor allem eine Gesamtstrategie erfordert.
In Fortführung der Diskussionen auf Mallorca wollen wir beim Europäischen Rat in Madrid in der nächsten Woche erste konkrete Fragen dieser „Europäischen Agenda 2000" aufnehmen. Es geht zunächst um die weitere Konkretisierung der einzelnen Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Europa muß als Gemeinschaft für Stabilität und Wohlstand weiter zusammenwachsen. Die Beschlüsse von Maastricht zur Wirtschafts- und Währungsunion sind die Antwort auf die neuen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts.
Wir brauchen die Wirtschafts- und Währungsunion: für die Stärkung des Standortes Europa angesichts der globalen Herausforderungen der kommenden Zeit, zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes, für die Erhaltung und Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze und zur angemessenen Stärkung
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des europäischen Gewichts im internationalen Währungssystem. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen sind dauerhafte Konvergenz und Stabilität in den Mitgliedstaaten.
Ich bin deswegen ausgesprochen erfreut darüber, daß der Vorschlag des Kollegen Waigel für einen Stabilitätspakt von den anderen Mitgliedstaaten der EU positiv aufgenommen wurde. Wir hoffen, daß möglichst viele Mitgliedstaaten an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen werden. Deshalb ist es wichtig, daß in allen Mitgliedstaaten noch nachhaltige wirtschaftspolitische Anstrengungen erfolgen müssen.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang aber auch sagen: Ich würde es als nützlich empfinden, wenn wir bei der deutschen Diskussion auch zur Kenntnis nähmen, daß Ratschläge, die wir anderen geben, zum Teil nicht gerade mit Freude aufgenommen werden.
- Entschuldigung, ich glaube, der Zwischenruf ist ganz unangemessen. Wenn der Kollege Waigel in einem Ausschuß auf Befragen durch Kollegen eine korrekte Antwort gibt und durch ein ziemlich unmögliches Verfahren dann aus diesem Ausschuß öffentlich berichtet wird, trifft den Kollegen Waigel keine Schuld.
Wenn die Bundesregierung ihrer, wie ich denke, selbstverständlichen Pflicht nachkommt, bei Informationen auf Fragen korrekte Antworten zu geben, muß sie allerdings davon ausgehen können, daß diese Antworten nicht dazu mißbraucht werden, um im innenpolitischen Kampf Geschäfte zu machen.
Auf dem nächsten Europäischen Rat in ein paar Tagen in Madrid werden wir über wichtige Entscheidungen auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion sprechen. Ich nenne insbesondere die Festlegung eines Szenarios für den Übergang zur einheitlichen europäischen Währung, die Entscheidung über den Namen der europäischen Währung und den Auftrag zur konkreten Ausgestaltung des Stabilitätspakts.
Ein nicht minder wichtiges Thema wird angesichts der Situation in Europa die Frage von Wachstum und Beschäftigung sein. In Europa sind gegenwärtig rund 18 Millionen Menschen arbeitslos. Daß wir über dieses Thema miteinander sprechen, was wir jeweils im nationalen Bereich tun, was im europäischen Bereich geschehen kann, ist selbstverständlich.
Ein drittes ganz wichtiges Thema des Europäischen Rats in Madrid ist die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips. Seine konsequente Umsetzung ist zentral für die Akzeptanz der Europäischen Union beim Bürger. Wir, die Bundesregierung und vor allem ich selbst, haben uns in den letzten Jahren immer wieder für eine strikte Beachtung dieses Prinzips stark gemacht. Ich denke, daß der Bericht der
Kommission, der in diesen Tagen vorgelegt wird und den ich selbst nur in seinen Umrissen kenne, den aber eine Reihe von denen, die ihn studiert haben, als sehr positiv bewerten, hier Fortschritte deutlich macht.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß auf allen Feldern der europäischen Politik - bei der Kommission, beim Europäischen Parlament wie bei den nationalen Parlamenten und in den Administrationen der Mitgliedstaaten - das Bewußtsein für die Bedeutung des Prinzips der Subsidiarität noch weiter verbessert und gestärkt werden muß.
Ich bin sicher, daß es auch nützlich ist, daß der jetzt vorgelegte Bericht der Kommission nicht nur im Europäischen Parlament und den Europäischen Räten diskutiert wird, sondern daß man ebenfalls in dem Bereich der nationalen Zuständigkeiten, und zwar von gegebener Seite aus, diesen Bericht diskutieren wird.
Aber, meine Damen und Herren, wenn ich dies so nachdrücklich vertrete, will ich gleich hinzufügen, daß es zu billig ist, in der Frage der Subsidiarität immer alle Schuld Brüssel zuzuschieben. Alle, nicht nur die Kommission - alle, auch in den Mitgliedstaaten, das heißt, auch wir selbst -, müssen sich immer wieder prüfen, inwieweit sie aus Gründen der nationalen Politik über den europäischen Umweg nationale Gegebenheiten eingebracht und dabei das Subsidiaritätsprinzip eben nicht geachtet haben.
Es hat keinen Sinn, sich zu verkriechen und zu sagen: In Brüssel oder im Europäischen Parlament wird die Subsidiarität nicht begriffen, aber in der nationalen Dimension wird sie begriffen. Sie, meine Damen und Herren, wissen ja, daß auch auf der nationalen Ebene der Föderalismus eine nicht ganz einfache Sache ist.
Der Föderalismus umschließt nach meinem Verständnis immer auch Bund, Länder und Gemeinden. Dies ist keineswegs selbstverständlich, auch bei uns in Deutschland nicht.
Was wir brauchen, ist eine offene Diskussion über diese Fragen. Was wir vor allem brauchen, ist die Bereitschaft auch auf der europäischen Ebene, bereits verabschiedete Richtlinien zu überprüfen und sie, wenn sie dem Prinzip der Subsidiarität nicht entsprechen, zurückzunehmen. Ich halte das für eine ganz wichtige Botschaft. Ich denke, wir werden in Madrid in dieser Sache ein gutes Stück vorankommen.
In Madrid werden wir uns ferner eingehend mit der Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 befassen. Ich gehe davon aus - das sagte ich schon -, daß die italienische Präsidentschaft diese Konferenz im Frühjahr 1996 eröffnet. Es ist erforderlich, daß wir dann mit großer Konsequenz diese Arbeit beginnen.
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Unser Ziel und mein Ziel in Madrid ist es, wesentliche Eckpunkte sowie die Ausrichtung der Regierungskonferenz festzulegen, ohne - es ist wichtig, daß ich das hier sagen darf - bereits jetzt Inhalt und Ergebnisse festzulegen.
Ich will warnend darauf hinweisen, daß die Bundesregierung in Madrid nicht bereit sein wird, Vorfestlegungen zu treffen, bevor die eigentliche Arbeit der Regierungskonferenz überhaupt begonnen hat. Diese Arbeit ist schwierig genug, und es ist ein Prozeß des Gebens und des Nehmens. Ich rate uns und anderen, daß wir jetzt mit großer Geduld die Themen zusammentragen, daß wir dann Stück für Stück, wie ich hoffe, richtig entscheiden und daß am Ende ein Gesamtpaket geschnürt wird, das uns in Europa entscheidend voranbringt.
Der Bericht der Reflexionsgruppe, der gestern vorgestellt worden ist, stellt dabei einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der Regierungskonferenz dar. Ich denke, die Erfahrung der Reflexionsgruppe zeigt auch, daß der deutsche Vorschlag, daß in dieser Reflexionsgruppe auch Vertreter des Europäischen Parlaments mitarbeiten sollen, sich sehr bewährt hat. Ich will schon jetzt ankündigen - die Zustimmung wird nicht ganz einfach zu erreichen sein -, daß wir auch bei den jetzt folgenden Arbeiten rechtzeitig, vielleicht ähnlich wie bei der Reflexionsgruppe, Vertreter des Europäischen Parlaments in die Verhandlungen mit einbeziehen. Das erleichtert die spätere Entscheidung im Europäischen Parlament. Das könnte es auch erleichtern, die unterschiedlichen Meinungen der nationalen Parlamente entsprechend mit einzubringen.
Darüber hinaus wollen wir zusammen mit Frankreich mit der gleichen Zielsetzung einen Beitrag zur Vorbereitung der Konferenz leisten. Staatspräsident Chirac und ich werden heute nachmittag in BadenBaden bei unserer Konsultation diese Fragen eingehend diskutieren. Wir haben die Absicht - wie wir dies in der Vergangenheit immer wieder getan haben -, dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, Ministerpräsident Gonzàlez, und den anderen Kollegen in einem gemeinsamen Brief eine Reihe von Hinweisen zu geben.
Durch die Zeitplanung können wir den Brief erst heute mittag endgültig erarbeiten und erstellen, so daß ich ihn beim besten Willen heute im Plenum nicht vorlegen kann. Ich bitte dafür um Verständnis.
Es geht uns darum, unser gemeinsames Engagement für die europäische Einigung deutlich zu machen und dabei Grundüberlegungen sowie Zielsetzungen vorzutragen. Aus unserer Sicht muß die Regierungskonferenz vor allem in vier zentralen Bereichen Fortschritte bringen:
Ich nenne erstens die Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen erreichen, daß gemeinsames außenpolitisches Handeln sichtbarer und effizienter wird. Die Erfahrungen im früheren Jugoslawien in diesen Jahren liefern die hinreichende Begründung für jedermann.
Zweitens geht es um eine grundlegende weitere Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Insbesondere ein Mehr an innerer Sicherheit auf europäischer Ebene - der Schutz vor organisiertem Verbrechen, Terrorismus und Drogenmafia - ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Akzeptanz der Europäischen Union innerhalb der Bevölkerung.
Wenn ich dies hier vortrage, muß ich allerdings fairerweise hinzufügen, daß die Aussichten auf eine baldige Einigung in dieser Frage auf der Ebene der Gemeinschaft nicht gerade überzeugend sind. Ich brauche hier nicht zu erklären, was ich gestern schon im Europaausschuß des Parlaments gesagt habe: Wenn sich herausstellen sollte, daß wir jetzt und in diesen Beratungen auf Gemeinschaftsebene keine Entscheidungen finden, wäre ich dafür, im Bereich der nationalen Absprachen unter den Mitgliedern eine Zwischenstufe einzubauen, um überhaupt voranzukommen. Dabei erwarte ich, daß wir, wie wir das früher schon getan haben, eine Art Öffnungsklausel vorsehen, bei der nach drei, vier oder fünf Jahren die Möglichkeit gegeben ist, das bisher Erreichte auf Gemeinschaftsebene zu übertragen.
Es muß gelingen, daß wir in diesen wichtigen Fragen - Schutz vor organisiertem Verbrechen, Terrorismus und Drogenmafia - wirklich die notwendigen Entscheidungen treffen. Wenn wir nicht gleich die eleganteste Lösung finden, bin ich absolut dafür, daß wir - ich will es einmal so formulieren - dann vielleicht auf Umwegen, aber mit sofortigem Handeln in dieser Sache weiter vorankommen.
Drittens geht es um die Steigerung von Effizienz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Wir müssen versuchen, dieses Europa verständlicher und einfacher zu gestalten. Wir können die Zustimmung zur Europäischen Union bei den Bürgern nur erreichen, wenn der Bürger auch versteht, was in Brüssel geschieht. Das hat etwas mit der Ausdrucksweise, aber natürlich auch mit dem Verhalten zu tun.
Viertens nenne ich die Verbesserung der demokratischen Verankerung der Europäischen Union. Das heißt vor allem, daß die nationalen Parlamente wie auch das Europäische Parlament besser in den europäischen Einigungsprozeß einbezogen werden.
Es ist gar keine Frage, daß wir auf diesem speziellen Feld noch ein klares Defizit haben. Wir haben das Defizit gegenüber dem Europäischen Parlament, obwohl sich hier in jüngster Zeit vieles verbessert hat. Ich sage bei dieser Gelegenheit gerne auch, daß der jetzige Präsident des Parlaments, der Kollege, der aus Deutschland kommt, einen ganz wesentlichen Beitrag zur Verbesserung geleistet hat.
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- Ich habe bewußt die Formel so gebracht, daß alle hier mitklatschen und sich niemand beeinträchtigt fühlt.
Meine Damen und Herren, wenn wir aber über das Europäische Parlament sprechen, müssen wir in einer solchen Debatte ehrlich hinzufügen, daß die Einbindung der nationalen Parlamente im Verhältnis zum Europäischen Parlament alles andere als gelungen ist.
Ich füge auch noch hinzu, daß es in einem föderal gegliederten Land wie der Bundesrepublik Deutschland - denken Sie an Themen wie die Kulturhoheit der Länder - auch möglich sein muß, eine Lösung zu finden, die die Landtage in einer gemäßen Weise mit einbindet.
Das heißt, hier ist noch viel zu tun. Der jetzige Zustand ist auf jeden Fall nicht befriedigend. Ich möchte sehr dazu raten, daß wir uns gemeinsam anstrengen, hier die angemessenen Entscheidungen zu treffen.
Meine Damen und Herren, wir wollen die hier skizzierten Fortschritte gemeinsam mit allen unseren Partnern in Europa erreichen. Aber ich füge hinzu: Es darf nicht die Überschrift für die kommende Entwicklung sozusagen so lauten: Das langsamste Schiff bestimmt das Tempo des Geleitzuges.
In unserem Interesse muß es sein, möglichst viele auf diesem Weg mitzunehmen; aber wir können auf gar keinen Fall hinnehmen, daß etwa durch Blokkade von wenigen oder von einzelnen die Entscheidungen ad calendas graecas vertagt werden.
Sollten einzelne Partner nicht bereit oder in der Lage sein, bestimmte Integrationsschritte mitzuvollziehen, so darf dadurch den anderen nicht die Möglichkeit genommen werden, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens voranzugehen und eine verstärkte Zusammenarbeit zu entwickeln.
Wir werden uns in Madrid in Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates in Essen erneut mit den Staats- und Regierungschefs der assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zyperns treffen. Wir wollen dabei die Partner über die Ergebnisse unterrichten. Zugleich werden wir auch Eckpunkte des weiteren Vorgehens zur Vorbereitung des Beitritts dieser Länder zur Europäischen Union zu beraten haben.
Ich will hier für die Bundesregierung deutlich erklären, daß wir die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten bzw. Südosten wollen. Für uns - ich sage das noch einmal, wie schon so oft von dieser Stelle aus - ist es völlig inakzeptabel, daß die Westgrenze Polens auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bleibt.
Polen, Ungarn und Tschetschenien, um nur einige zu nennen, gehören genauso zu Europa - -
- Tschechien, Entschuldigung! Meine Damen und Herren, es ist ein großer Genuß, morgens um 9 Uhr in diesem Saal eine Regierungserklärung abgeben zu können.
Und wenn es Ihnen den Beifall erleichtert, wiederhole ich das noch einmal.
- Ja, stellen Sie sich einmal vor, was es für mich ausmacht, Stunde um Stunde - wie es meine verfassungsmäßige Pflicht ist - Sie zu ertragen.
Polen, Ungarn und Tschechien, um nur einige zu nennen, gehören ebenso zu Europa und verkörpern ebenso die europäische Kultur wie Frankreich, Italien, Deutschland oder Spanien.
Wir treten als Bundesregierung weiterhin ganz entschieden dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit jedem Land und je nach Erfolg der jeweiligen Reformschritte zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufzunehmen und einzeln zu führen. Eine Verhandlung in einem Gruppenbezug scheint uns nicht der richtige Weg zu sein. Die Erfahrungen beim Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands - leider kam der Beitritt Norwegens nicht zustande - zeigen mir, daß wir Land für Land mit den Beitrittskandidaten verhandeln müssen. Mit Malta und Zypern werden die Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach dem Ende der Regierungskonferenz entsprechend früheren Beschlüssen aufgenommen.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß dieses Datum für erste Länder aus Mittel- und Osteuropa eine realistische Perspektive ist. Dies würde es ermöglichen, bereits um das Jahr 2000 herum Grundentscheidungen über die ersten Beitritte für Assoziierungspartner in Mittel- und Osteuropa zu treffen.
Ich habe jetzt „um das Jahr 2000 herum" gesagt, weil ich gerne einmal hinzufügen möchte, was in den Debatten meistens nicht zum Ausdruck kommt: Es müssen ja nicht nur die Verhandlungen abgeschlossen sein. Vielmehr muß in allen nationalen Parlamenten der einzelnen Länder die Ratifikation vollzogen werden. Das wird seine Zeit brauchen. Hier werden noch einmal ganz andere nationale Interessen deutlich. Wir müssen also deutlich unterscheiden zwischen den Verhandlungen an sich, der Beschlußfassung und der Ratifikation in den einzelnen Parlamenten.
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Natürlich ist es auf diesem Wege absolut zwingend, daß die Länder in Mittel- und Osteuropa ihre erfolgreiche Reformpolitik konsequent fortsetzen und sich auf die Erfordernisse des Beitritts vorbereiten. Wir anderen in Europa können ihnen dabei helfen; aber die Hauptanstrengung muß im jeweiligen Land selbst erfolgen. Das Motto muß lauten: Reformkurs ist zugleich Beitrittskurs.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, trotz der umfassenden und schwierigen Agenda der nächsten Jahre dürfen wir unser vorrangiges Ziel nicht aus den Augen verlieren: Es geht uns um ein vereintes, demokratisches und handlungsfähiges Europa, das auf dem Prinzip der Einheit in Vielfalt basiert, die kulturellen Eigenheiten und die regionalen Besonderheiten achtet, ein Europa, das auch nie aus den Augen verliert, daß es von den Bürgern getragen - nicht ertragen - wird.
Ziel unserer Politik gerade unter den Gegebenheiten Deutschlands ist es, die Einigung Europas unumkehrbar zu machen. Das ist der entscheidende Maßstab. Es ist gewiß nicht immer leicht; denn um das gemeinsame Haus Europa tatsächlich zu bauen, sind viele Schwierigkeiten zu überwinden. Es müssen in den verschiedensten Bereichen - ich spreche das klar an - auch Opfer gebracht werden. Dies betrifft nicht nur unser eigenes Land, sondern auch unsere Partner und Freunde in Europa. Wenn wir aber dieses vereinte Europa als die beste Voraussetzung für Frieden und Freiheit auch für die Deutschen im 21. Jahrhundert schaffen wollen, führt an dieser Erkenntnis kein Weg vorbei.
Die Aufgaben und die Herausforderung, vor denen wir heute in Europa stehen, sind zu groß, sind zu schwierig, um sie mit den Mitteln nationaler Politik vergangener Zeit erfolgreich meistern zu können. Die Zukunft zu sichern wird nur möglich sein im solidarischen Handeln der beteiligten Partner. Ich denke, darauf kommt es vor allem an. Nur so können wir Frieden und Freiheit, Wohlstand und Stabilität in Europa dauerhaft sichern.
Es ist der entschiedene Wunsch der Bundesregierung, daß wir vor diesem Hintergrund, vor allem während der Regierungskonferenz, in einer engen Kooperation mit dem Parlament und mit seinen Ausschüssen den richtigen Weg finden. Ich bitte Sie, diese Politik zu unterstützen.