Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Daß der Justizhaushalt klein ist, wurde von meinen Vorrednern schon verschiedentlich betont. Ich möchte daran anschließen: Er steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Bedeutung der Rechtspolitik.
Die Rechtspolitik hat keine ganz leichte Aufgabe zu erfüllen. Es gibt kaum etwas Sensibleres als das Recht. Der Rechtspolitiker muß sein Ohr ständig an der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben, und das Recht muß die Realität widerspiegeln. Anderenfalls
Dr. Susanne Tiemann
wird es zum Fossil und zur inhaltsleeren Hülse. Wenn sich gesellschaftliche Gegebenheiten grundlegend wandeln, dann muß die Rechtspolitik dem Rechnung tragen, darf sich gleichzeitig aber nicht als Spielball beliebiger gesellschaftlicher Strömungen mißbrauchen lassen.
Wir tun deshalb gut daran, wenn wir hierauf reagieren, wenn wir in einer Welt größerer Mobilität zum Beispiel das Staatsangehörigkeitsrecht den veränderten Integrationsbedürfnissen von Ausländern und ihren Familien anzupassen suchen.
Freilich darf das nicht zu einer Doppelstaatsangehörigkeit führen, denn wir wollen keine Wahrnehmung von Bürgerrechten à la carte, sondern wir wollen die Entscheidung für die Verwurzelung in einer Staatsangehörigkeit.
Es ist auch richtig, daß wir die Novellierung des Ausländerrechts in Angriff nehmen. Wir tun gut daran, das Kindschaftsrecht auf die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse zu überprüfen. Es ist nur folgerichtig, so meine ich, heute, wo wir die Ehe eindeutig als Verbindung selbstbestimmter Partner definieren, Gewalt in der Ehe so zu bestrafen wie außerhalb der Ehe.
Wir müssen auch in der Rechtspolitik sehr viel mehr über die Grenzen blicken. Wir müssen der Entwicklung einer europäischen Rechtsordnung noch sehr viel mehr Rechnung tragen, dürfen ihr nicht passiv gegenüberstehen, sondern müssen aktiv an ihr mitwirken. Durch den Freizügigkeitsgrundsatz, durch andere europäische Grundsätze wird auf unsere Rechtsordnung Einfluß genommen, und es entstehen ganz neue Rechtsgrundsätze, ein neues europäisches Gesellschaftsrecht, ein konvergentes europäisches Sozialrecht. Das muß die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mit prägen. Hier muß sie auf dem Plan sein.
Bei aller Anpassungsfähigkeit, meine Damen und Herren, muß das Recht aber verläßlich sein, Ordnung schaffen und Halt geben. Es muß die richtige Balance finden, auf die Aktualität zu reagieren und trotzdem Ankerfunktion zu erfüllen. Das heißt, es muß wertbezogen sein, und es muß auch tradierte Werte bewahren. Wir sollten ruhig einmal ganz offen aussprechen, daß dies die Funktion einer vernünftigen Rechtspolitik ist.
Die Werteordnung unseres Grundgesetzes gibt uns doch eigentlich ganz fest umrissene Aufträge. Ich nenne nur ein Beispiel: Unsere Rechtspolitik wird bei aller Anpassungsnotwendigkeit nicht davon abgehen können, daß unser Grundgesetz Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt.
Wie viele andere Ausformungen des menschlichen Zusammenlebens es auch geben mag - jeder kann sich zum Beispiel für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft entscheiden; die Freiheit hat er -, aber den besonderen Schutz des Rechts können diese nicht ebenso wie Ehe und Familie genießen.
Auch die Minderheiten, meine Damen und Herren, müssen wir in einem freiheitlichen Rechtsstaat schützen. Es darf aber in unserer Rechtsordnung nicht so weit kommen, daß letztlich die Mehrheit vor den verschiedensten dominierenden Minderheiten geschützt werden muß.
Diesen Eindruck vermitteln aber manche Entwicklungen unseres Rechts. Individuelle Freiheitsrechte werden zunehmend in einer Weise interpretiert, die mit der Rücksichtnahme auf die Belange der Allgemeinheit bzw. der gesellschaftlichen Umwelt, in die sie eingebettet sind, nicht mehr viel zu tun haben.
Jetzt komme ich zu den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, meine Damen und Herren. Ich meine hier zum Beispiel die Interpretation individueller Entfaltungsrechte, wenn das Bundesverfassungsgericht Sitzblockaden nicht als Gewalt bezeichnet, obwohl jeder Unbefangene in der Verhinderung des Zugangs zu Gebäuden durch sitzende Menschen Gewalt sehen wird,
oder wenn das Bundesverfassungsgericht das Kruzifix, das Signum nicht allein des christlichen Glaubens ist, sondern darüber hinaus unserer gesamten christlich geprägten Kultur und Gesellschaftsordnung, zum Störfaktor für Anders- bzw. Nichtgläubige deklariert.
In diesen Zusammenhang sind die Urteile zu stellen, die die Bezeichnung von Soldaten als Mörder als freie Meinungsäußerung höherstellen als die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.
Ich meine, daß die Betroffenen auch in der großen Gruppe aller Soldaten schutzwürdig sind.
Immerhin verlangen wir von ihnen Dienstpflicht und Wehrpflicht. Kann die Rechtsordnung, so frage ich Sie ernsthaft, tolerieren, daß gerade solche Staatsbürger mit besonderer Pflichtigkeit ungestraft als Mörder beschimpft und beleidigt werden?
Ich habe kein Verständnis dafür, wenn man diese Problematik auf die leichte Schulter nimmt, Herr Beck. Das möchte ich Ihnen persönlich sagen. Das Strafrecht ist nun einmal da, um die Werte in unserer Gesellschaft wirksam zu schützen und sie überhaupt wirksam werden zu lassen. Der Wert, der hier zu schützen ist, ist das menschliche Persönlichkeitsrecht.
Hier geht es überhaupt nicht um die Frage der Mehrheits- oder Minderheitsmeinung. Hier geht es darum, wie die Freiheit der Meinungsäußerung ein-
Dr. Susanne Tiemann
gebettet ist in die Rechte anderer und wie sie auf die Rechte anderer Rücksicht nehmen muß.
Meine Damen und Herren, wenn wir in unserer Rechtsordnung Lücken entdecken müssen, dann - das sage ich ganz offen als meine Meinung - ist der Gesetzgeber aufgerufen, aktiv zu werden und für unsere Soldaten einen besonderen Ehrenschutz zu schaffen. Wenn die geltende Rechtsordnung diese Lücken aufweist, müssen wir derartige Verunglimpfungen unserer Soldaten, wie sie jeder für sich selbst ganz klar empfinden würde, verbieten.
Außerdem, meine Damen und Herren, halte ich es immer mit dem großen Rechtspolitiker Gustav Radbruch, demzufolge beim deutschen Richter auf ein Lot Jurisprudenz auch ein Zentner soziales und psychologisches Verständnis kommen sollte. Ich denke, das sollten wir wieder betonen.