Ich vermute sehr stark, daß uns Minister Blüm in seinem nachfolgenden Redebeitrag nichts Neues verkünden, sondern die bisher erkennbare Haltung der Bundesregierung bestätigen wird, daß sie an einem „Bündnis für Arbeit" nicht interessiert ist, weil sie nicht bereit ist, einen eigenen Beitrag beizusteuern.
Das entspricht auch ganz der ideologischen Linie der treibenden Kräfte der Koalition. Die treibenden Kräfte der Koalition haben an einem solchen Bündnis überhaupt kein Interesse. Die treibenden Kräfte dieser Koalition begreifen den Sozialstaat inzwischen in wachsendem Maße nur noch als einen lästigen Kostenfaktor. Das ist die Wahrheit. Das bestätigen alle Maßnahmen, die Sie in den letzten Jahren hier vertreten haben.
Ein zweiter Punkt, zu dem ich einige Bemerkungen machen will. Es ist immer wieder, auch heute vormittag, über das Verhältnis vergleichsweise hoher Lohnnebenkosten zum Beschäftigungsvolumen in Deutschland gestritten worden. Unstreitig ist, daß die Bundesregierung einen solchen Zusammenhang zwischen Beschäftigungsniveau und Lohnnebenkosten seit Jahren behauptet und beklagt. Unstreitig ist, daß die enormen Steigerungen der Sozialversicherungsbeiträge in den letzten Jahren nicht gerade beschäftigungsfördernd gewirkt haben.
Unstreitig ist schließlich auch, daß sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fragen, was ihre eigene Leistung wert ist, wenn die Abgabenquote schon jetzt nahezu die Hälfte des Bruttoeinkommens wegfrißt. - Das sind die unstreitigen Sachverhalte.
Die sozialdemokratische Fraktion in diesem Haus hat seit Frühjahr 1991 immer wieder kritisiert, daß die Finanzierung der Sozialkosten der .deutschen Einheit im wesentlichen über erhöhte Lohnnebenkosten in Gesamtdeutschland erfolgt ist. Diesen Aspekt haben wir seit diesem Zeitpunkt immer wieder betont. Verteidigungsminister Rühe hat in diesem Zusammenhang vor drei Jahren von einer Gerechtigkeitslücke in Deutschland gesprochen.
Der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker hat vor einiger Zeit vergeblich an den Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Dieser Lastenausgleich erfolgte zugunsten der Heimatvertriebenen und wurde nicht über eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, der Sozialversicherungsbeiträge oder über einen Sozialabbau finanziert, sondern im
Ottmar Schreiner
wesentlichen über eine Vermögensabgabe. Es wurde von denjenigen, die viel haben, zugunsten derjenigen, die aus der Heimat vertrieben wurden, umverteilt. Das war das Kernelement des Lastenausgleichs nach dem Zweiten Weltkrieg.
Von Weizsäcker hat nicht ohne Grund an diesen Lastenausgleich erinnert. Er wollte uns dafür sensibel machen, daß es andere, solidarische, gerechtere Wege zur Aufbringung der Mittel für die Finanzierung der deutschen Einheit gibt
als den Weg, den die Bundesregierung seit dem Frühjahr 1991 hemmungslos verfolgt, nämlich eine Finanzierung über die Erhöhung der Lohnnebenkosten und einen Sozialabbau. Das war der Kern der Erinnerung von Herrn von Weizsäcker.
- Lieber Kollege Weng, ich komme jetzt auf die Wege zu sprechen. Seien Sie mit Ihren Zwischenrufen vorsichtig.
Wäre es, anknüpfend an die Überlegungen Herrn von Weizsäckers, des ehemaligen Bundespräsidenten, nicht auch aus der Sicht der F.D.P. wesentlich leistungsgerechter, bei der Finanzierung der deutschen Einheit einen deutlich progressiver verlaufenden Tarif bei der Erbschaftsteuer als Instrument mit einzubeziehen?
Wäre das nicht ein klassisches F.D.P.-Thema?
Ich will Ihnen ein Zitat von Herrn Stefan Baron nicht vorenthalten, der vor einiger Zeit in der „Wirtschaftswoche" folgendes geschrieben hat:
Will die FDP nicht Leistung stärker belohnen? Würde dieser erstrebenswerten Absicht nicht ein Konzept besonders gerecht, in dem Lohn- und Einkommensteuer deutlich niedriger sind als heute, ... dafür aber der Erbschaftsteuertarif deutlich progressiver verläuft - wie etwa in England oder den USA?
Dann zitiert er einen der Väter der Sozialen Marktwirtschaft mit folgendem Satz:
,Die erbliche Startungleichheit ist das wesentlichste institutionelle Strukturelement, durch das der Feudalismus in der Marktwirtschaft fortlebt und sie zur Plutokratie, zur Reichstums-Herrschaft macht', so Alexander Rüstow, einer der Väter unserer Wirtschaftsordnung.
Meine Damen und Herren, da hätten Sie andere Wege der Finanzierung. Sie in der Koalition fordern genau das Gegenteil. Sie erwägen die komplette Abschaffung der Vermögensteuer. Von einer Reform der Erbschaftsteuer ist überhaupt keine Rede. Das einzige, was Ihnen angesichts der Finanzierungsprobleme einfällt, sind Sozialabbau und Erhöhung der Lohnnebenkosten.
Im Bereich der Lohnnebenkosten tun Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie ständig predigen. Auch das will ich Ihnen deutlich machen. Die Sozialabgaben werden im nächsten Jahr auf über 40 Prozent steigen. Im „Handelsblatt" hieß es dazu vor wenigen Tagen:
Den Unternehmen steht ein neuer, nicht von der Tarifpolitik induzierter Lohnkostenschub bevor.
Man müßte ergänzen: Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht eine Entwicklung bevor, die den Abstand zwischen Brutto- und Nettoeinkommen über erhöhte Sozialversicherungsbeiträge noch krasser macht, als das gegenwärtig bereits der Fall ist.
Das „Handelsblatt" schreibt weiter:
Daß die Sozialversicherung-Beiträge im nächsten Jahr um 1,5 Prozentpunkte steigen, steht bereits fest: 0,7 Prozentpunkte in der Pflege-, 0,5 in der Renten- und 0,3 in der Krankenversicherung. Damit wird die magische 40-Prozent-Grenze überschritten. Im Bundesgesundheitsministerium
- so wird hier zitiert -
hält man sogar einen Sprung um zwei Prozentpunkte nicht für ausgeschlossen.
Demgegenüber hat der Bundesarbeitsminister auf dem IG-Metall-Kongreß folgendes erklärt:
Ich habe es nicht gern, daß sonntags über die Lohnnebenkosten gejammert und werktags alles gemacht wird, daß die Beiträge steigen.
Diese Bewußtseinsspaltung macht Norbert Blüm nicht mit.
Er redet von sich immer in der dritten Person.
Sie sind ein pausenloses Opfer dieser Bewußtseinsspaltung. Ich habe Ihnen gerade die Entwicklung des nächsten Jahres vorausgesagt, Herr Blüm.
Nun kommt das Allerdollste: Der Bundeswirtschaftsminister ist nicht das Opfer F.D.P.-inszenierter Bewußtseinsspaltungsprozesse, sondern sein eigenes Ministerium organisiert seine Bewußtseinsspaltungsprozesse; denn das Arbeitslosenhilfeverschlimmerungsgesetz hat zu einer Transferverschiebung von 1,8 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt hinein in die beitragsfinanzierte Bundesanstalt für Arbeit geführt.
Und damit hat es potentielle Lohnnebenkostenerhöhungen provoziert. Sie machen genau das Gegenteil
dessen, was notwendig wäre, wenn man das Argu-
Ottmar Schreiner
ment ernst nimmt. Die Lohnnebenkosten sind das wirkliche Problem. Sie machen genau das Gegenteil.
Die Zahl von 1,8 Milliarden DM stammt nicht von mir, sondern von Dr. Siegers, einem Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und alternierender Vorsitzender der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit.
Meine Güte, was soll man von diesem Possenspiel, von dieser komischen Bundesregierung halten, die pausenlos das Gegenteil dessen veranstaltet, was sie hier im Parlament an öffentlichen Vorträgen hält?
Dritter Punkt. Ich will noch einige Bemerkungen zu der sogenannten Entsenderichtlinie machen. Das Problem ist bekannt. Auf Grund der im europäischen Binnenmarkt seit 1992 vorhandenen Freizügigkeit von Kapital, Dienstleistung und Arbeit haben wir es in Deutschland inzwischen damit zu tun, daß hier in 100 000facher Weise Arbeit angeboten und verrichtet wird: zu erheblichen Teilen ohne Arbeitsverträge, zu erheblichen Teilen ohne feste Löhne, mit einem schlichten Taschengeld abgespeist. Und das Ergebnis ist, daß im gleichen Umfange einheimische Arbeitskräfte, die diesen Lohndumpingangeboten nicht mehr standhalten können, aus dem Arbeitsprozeß in die Arbeitslosigkeit verdrängt werden.
Ich sage Ihnen: Wenn wir diese Entwicklung nicht aufhalten, werden wir ein außerordentlich gefährliches Ressentiment gegen den europäischen Einigungsgedanken bekommen. Wir werden zumindest bei den Betroffenen eine Haltung der Renationalisierung erleben.
Nun fragt man sich: Wieso ist die Bundesregierung nicht in der Lage, dieses Problem angemessen zu lösen? Ich sage Ihnen, warum Sie nicht in der Lage sind, das Problem zu lösen: weil treibende Kräfte dieser Koalition über die Entsendeproblematik völlig andere Ziele ansteuern. Graf Lambsdorff hat sich heute morgen als Schutzmacht des portugiesischen Arbeitnehmers in Deutschland aufgespielt. Das war nichts anderes als die purste Heuchelei. Die Kräfte um Lambsdorff und entsprechende Kräfte in der CDU/CSU verfolgen mit der Entsendeproblematik ein völlig anderes Ziel. Dazu zitiere ich Ihnen Graf Lambsdorff aus dem „Handelsblatt" vom 26. Juli dieses Jahres:
Lambsdorff ist der Meinung, daß die in der Bundesrepublik praktizierte Tarifautonomie nicht länger Bestand haben könne.
Und weiter:
Natürlich gehöre ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz zur Konsequenz der Tarifautonomie ...
Im Umkehrschluß: Wenn ich eine Entsenderegelung verweigere, zerstöre ich mittelfristig die in Deutschland herrschende Tarifautonomie. Das sind die wahren Ziele von Lambsdorff und Co. und der sie begleitenden Kräfte in der CDU/CSU.
Sie wollen, meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Kurs nicht korrigieren, in Wahrheit eine andere Republik. Hier sind in der Tat radikale Kräfte am Werk. Sie begreifen den europäischen Binnenmarkt als eine einmalige Chance, über 100jährige Bemühungen um einen fairen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit zu unterwandern und auf die Müllkippe zu bringen - das ist das eigentliche Ziel -