Rede von
Uta
Titze-Stecher
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einzelplan 06 des Bundesministeriums des Innern umfaßt ein Finanzvolumen von 9 Milliarden DM. Die leichte Steigerung um 2,4 Prozent gegenüber dem Haushalt des letzten Jahres erklärt sich sehr einfach: Der Einzelplan 36, Zivile Verteidigung, wurde aufgelöst und erstmalig im Einzelplan 06 veranschlagt, allerdings um 4,3 Prozent gesenkt.
Wer glaubt, der zuständige Innenminister Kanther habe sich die massiv geäußerten Vorwürfe der Opposition anläßlich der letzten Haushaltsberatung Ende März zu Herzen genommen und zeige sich nun reformwillig, reformfähig, entschlossen und konzeptionell neuorientiert - Bereiche dafür gäbe es genug -, der täuscht sich gewaltig; Fehlanzeige in allen Bereichen, wie ich gleich im einzelnen nachweisen werde. Im Gegenteil, der Minister ist sich treu geblieben; er handelt entschlossen am Parlament vorbei.
Dies zeigt sich exemplarisch im Zusammenhang mit der Erarbeitung und Umsetzung des Konzepts zur Neuordnung des Zivilschutzes. Wie Sie wissen, haben wir seit 1989 veränderte politische Verhältnisse durch das, was in Osteuropa geschehen ist. Das hat auch die Situation der politischen Sicherheit und damit die militärische Bedrohungslage der Bundesrepublik Deutschland geändert. Daß dies Auswirkungen auch auf die Ausgestaltung des Zivilschutzes haben mußte und haben muß, ist klar und unbestreitbar. Genau deshalb hat der Deutsche Bundestag seit 1991 den zuständigen Bundesinnenminister wiederholt zur Vorlage eines Konzepts aufgefordert, zuletzt im Juni 1992. Was glauben Sie, wann dieses Konzept endlich überkam? Nach Zwischenberichten, endgültigen Zwischenberichten haben wir am Ende der Sommerpause diesen Jahres, also nach genau drei Jahren Brütezeit, endlich das endgültige Konzept auf den Tisch bekommen; es ist bis heute noch nicht parlamentarisch beraten. -
Ich rüge ausdrücklich, daß dies nicht geschehen ist. - Aber die erforderlichen Verwaltungsmaßnahmen und haushaltsrechtlichen Schlußfolgerungen werden bereits mit dem Haushalt dieses Jahres, also seit 1995, in Gang gesetzt bzw. gezogen. Damit brüskiert der Innenminister eindeutig den gesamten Bundestag. Daß Sie, die Kollegen von der rechten Seite, sich das gefallen lassen, das verstehe ich nicht.
Wir werden im Zusammenhang mit der zivilen Verteidigung sehr genau aufpassen müssen, damit die vom Minister zugesagte Budgetierung der Mittel für das THW - gegen die wir nichts haben - nicht durch klammheimlichen Personalabbau ausgehöhlt wird. Denn die Beschäftigten beim THW - wozu auch die Helferorganisationen gehören - brauchen Verläßlichkeit nach den vergangenen Jahren der absoluten Unsicherheit.
Der Minister ist aber nur da so saumselig, wo es ihm paßt, zum Beispiel in Sachen zivile Verteidigung. Ganz im Gegensatz dazu steht seine Entschlußfreude, wenn es um seine Lieblingsspielfelder geht, nämlich die innere Sicherheit - freilich so, wie er innere Sicherheit versteht. Für den BGS - Bundesgrenzschutz - und das BKA - Bundeskriminalamt - hat Herr Kanther immer ein offenes Ohr und vor allem ein offenes Portemonnaie.
- Dafür sind Sie zuständig; dafür sorgen Sie. - Im Regierungsentwurf sind für den BGS 2,9 Milliarden DM vorgesehen, gut 200 Millionen DM mehr als gegenüber dem Vorjahr, was eine satte Steigerung von 7,5 Prozent bedeutet.
- Von der Seite brauche ich wirklich keinen Beifall. - Auch das Haushaltsvolumen des BKA erhöht sich um 10 Prozent.
Damit Sie sich nicht täuschen: Auch der SPD ist klar, daß ein leistungsfähiges BKA ein unverzichtbarer Bestandteil der inneren Sicherheit ist. Das heißt, sowohl die Personalausstattung als auch die Struktur des BKA müssen mit Blick auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Ordnung sein.
Das ist auch der Opposition bekannt. Ebenso ist uns bekannt, daß sich die OK - organisierte Kriminalität - besorgniserregend verstärkt hat und daß internationale Verbrechersyndikate auch in Deutschland arbeiten,
wodurch sie jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden in dreistelliger Milliardenhöhe verursachen. Daran tragen Sie und der zuständige Innenminister ein erhebliches Maß an Mitschuld. Ich werde das jetzt erklären.
- Sie brauchen gar nicht so laut zu schreien, Herr Marschewski. Sie haben nachher noch genug Gelegenheit dazu.
Das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 und die geltenden Vorschriften des Geldwäschegesetzes haben sich - das beweist der Anstieg der organisierten Kriminalität - im Kampf gegen international agierende Banden als nicht ausreichend erwiesen. Nach Angaben des BKA selbst konnte 1994 bei Finanzermittlungen nur in 4 Prozent der Verfahren der Ver-
Uta Titze-Stecher
dacht der Geldwäsche konkretisiert werden. Herr Kanther, hier wartet jede Menge Arbeit auf Sie. Es kann nicht hingenommen werden, daß Teile der Koalition vor einer Lobby kapitulieren, die den Schutz von Finanztransaktionen höher bewertet als die Verbrechensbekämpfung selbst.
Eine bereits im Mai 1993 von der SPD eingebrachte und zwischenzeitlich aktualisierte Große Anfrage zu diesem Komplex ist bis heute - das ist anscheinend bewährtes Muster - nicht beantwortet worden. Vielleicht verraten Sie in Ihrer anschließenden Antwort, Herr Minister, warum.
Drei abschließende Bemerkungen zum Thema Kriminalität und BKA: Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen nun einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem es im Wege einer einstweiligen Anordnung im Juli dieses Jahres die im Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 durch den Bundesnachrichtendienst vorgesehene „verdachtslose Rasterfahndung" wegen schwerwiegender Nachteile für Bürgerinnen und Bürger gestoppt hat.
Das heißt, ein Teil Ihres Gesetzes ist schlicht außer Kraft gesetzt worden. Da kann ich nur sagen: handwerklicher Pfusch. Damit sind die schweren Bedenken der SPD im nachhinein bestätigt worden.
Zweiter Punkt. Die jährliche Präsentation der amtlichen Kriminalitätsstatistik - sonst als Frühjahrsritual des Ministers nach dem immer gleichen Motto „Warnung, Alarm, Entsetzen" zelebriert - wurde diesmal sehr zögerlich und relativ spät durchgeführt. Der Grund ist klar: Die aktuellen Zahlen waren in keiner Weise geeignet, um daraus einen allgemeinen Anstieg der Kriminalität abzuleiten. Den leichten Anstieg der Kinderkriminalität allerdings nannte der Minister „besorgniserregend", obwohl er weiß, daß gerade deren Registrierung auf Grund der Strafunmündigkeit von Kindern unter 14 Jahren ein reiner Zufall ist.
Die eigentlich erschreckende Information aber wurde gar nicht erst erwähnt. Deswegen kommt sie jetzt: In Ostdeutschland ist die Straffälligkeit Jugendlicher, bezogen auf Räubereien und schweren Diebstahl, rund dreimal höher als im Westen und entspricht in etwa derjenigen junger Ausländer im Westen. Der Schluß daraus ist eindeutig: Subjektive und objektive Armut und. Perspektivlosigkeit schlagen bei beiden Gruppen in Kriminalität um. Was helfen Ihnen, Herr Kanther, da neue Strafgesetze, wenn die Zahl der Sozialhilfeempfänger unter den Jugendlichen ständig ansteigt?
Wenn alte Netzwerke nicht mehr halten, sondern - im Gegenteil - von dieser Koalition mutwillig durchlöchert und zerstört werden, dann wächst soziale
Desintegration. Schärfere Strafgesetze sind kein Ersatz für eine sinnvolle Lebensperspektive.
Gefragt ist gerade im Blick auf Jugendliche, auch ausländische Jugendliche, Kriminalprävention. Dazu werde ich im weiteren Verlauf noch einiges an sinnvollen Vorschlägen bringen. Aber das paßt wohl nicht in das Weltbild dieses Ministers und vor allem dieser Koalition.
Dritter Punkt. Ich wüßte schon ein Betätigungsfeld auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung. Eine BKA-Studie über Korruption in Deutschland stellt fest, daß Bestechung im Amt nicht ausreichend geächtet wird. - Wie wahr! Der Komplex Bestechung im Amt ist kein Peanut. Nach BKA-Angaben wurden allein 1994 7 000 Delikte registriert, von den nicht registrierten gar nicht zu sprechen. Hier empfehlen die BKA-Experten schärfere Gesetze und höhere Strafen sowie die Ernennung von Korruptionsbeauftragten, um in den Behörden die Vorbeugung zu verbessern. Als Präventivmaßnahmen werden ausdrücklich bessere Aus- und Fortbildung von öffentlich Bediensteten mit dem Ziel der Sensibilisierung für dieses Thema genannt. Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Wie soll denn das geschehen, wenn die Koalition gerade in diesen Bereichen, also in den Bereichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, die Mittel besonders gern nach unten korrigiert?
Ich komme nun zu einem Bereich, der durch das Beharrungsvermögen des Ministers sowie der Bürokratie seines Hauses im Schneckentempo angegangen wird: die dringend notwendige und eigentlich überfällige Reform des öffentlichen Dienstes. Diese anzupacken wäre Ihre vornehmste Pflicht, Herr Minister. Bekenntnisse zum Berufsbeamtentum ersetzen keinesfalls Reformen.
An die Adresse der F.D.P. sei gleich gesagt, daß Sie die Reformdiskussion durch den völlig unnötigen Streit über das Berufsbeamtentum zwar auf die bewährte Weise etwas abwürgen können, aber nicht verhindern können.
Die SPD - damit das hier im Raume klar ist - hält am Berufsbeamtentum fest
- hören Sie gut zu; Sie haben anscheinend unsere Papiere nicht gelesen -,
will allerdings die Verwendung von Beamten prinzipiell auf den hoheitlichen Kernbereich beschränken. Dies fordert sogar die entsprechende EU-Richtlinie.
Ihre Vorschläge hingegen strotzen von Ängstlichkeit und Widersprüchen. Können Sie, Herr Minister, mir erklären, wie Sie die Forderung, Beamte in den Tätigkeitsfeldern der staatlichen Daseinsvorsorge einzusetzen, mit der Forderung in Einklang bringen
Uta Titze-Stecher
wollen, diese Daseinsvorsorge mehr und mehr zu privatisieren? Erklären Sie mir doch diese Ungereimtheit! Vielleicht ist der Blick auf die Wählerstimmen die einzige Erklärung. Mir ist das zu unsachlich, weil primitiv.
Ich kann auch die Begründung nicht nachvollziehen, mit der Sie die Vergabe von Spitzenpositionen auf Zeit ablehnen. Beamte - so sagen Sie - sollten sich nicht an politischen Vorgaben, sondern an Rechtsstaatlichkeit und Loyalität orientieren. Mit dieser absurden Argumentation konstruieren Sie einen Widerspruch zwischen Politik und Rechtsstaatlichkeit. Das schadet dem Ansehen der Politik von uns allen.
Warum wehrt sich der zuständige Innenminister so, durch die Modernisierung von Staat und Verwaltung einer Entwicklung Rechnung zu tragen, die in immer kürzeren Zeiträumen und mit immer größerer Dynamik Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen verlangt? Länder und Gemeinden haben in ihren Verwaltungen bereits gehandelt. Können Sie mir sagen, Herr Kanther - wenn Sie nachher antworten -, wieso Sie den von Rheinland-Pfalz geplanten Pensionsfonds für neu eingestellte Beamte ablehnen? Diese Begründung würde mich interessieren.
Wie sieht denn die Alternative zur Lösung des Problems der horrenden Versorgungslasten aus? Die Länderchefs kritisieren zu Recht Ihre mageren Vorschläge und fordern neue Verhandlungen mit den Zielen mehr Teilzeit, neues Besoldungsrecht und effizientere Verwaltungsstrukturen. Setzen Sie als federführender Minister doch wenigstens die Forderung des Bundesrechnungshofes durch, der seit Jahren die Praxis der Personalbedarfsermittlung und der Dienstpostenbewertung kritisiert.
Jetzt komme ich zu einer Sache, die für Konservative das eigentliche Horrorszenario darstellen sollte: 70 000 Vorschriften - Sie hören richtig - regeln in diesem Staat, was Bürger und Firmen zu tun haben. Das können Sie nicht auf die SPD zurückführen.
Angesichts dieser Situation komme ich in diesem Punkt ausnahmsweise zur selben Bewertung wie der bayerische Ministerpräsident Stoiber:
Die Bürokratie hat sich in diesem Lande zu einem Standortrisiko ersten Ranges entwickelt.
Da ist Verschlankung gefragt! Aber da sich die Staatsdiener den Ast, auf dem sie sitzen, nicht selbst absägen, muß dies natürlich dazu führen, daß die von Ihnen eingesetzte Kommission „Schlanker
Staat" Vorschläge produziert, die ich nur als Kosmetik betrachten kann.
Folge: Der Staat wird zur Beute seiner Bediensteten. Damit Sie sich das mal in Zahlen klarmachen können: Die Personalkosten sind bereits heute der drittgrößte Posten im Bundeshaushalt. Da liegt zukünftiger Sprengstoff. Das bedeutet, daß die frei verfügbaren Mittel und damit der Gestaltungsspielraum des Bundes, des Staates für neue Aufgaben immer geringer wird. Die Zukunftsperspektive ist düster. Wahrscheinlich verschiebt der zuständige Minister die Vorlage des seit einem Jahr überfälligen Versorgungsberichts deswegen bis nach Abschluß der diesjährigen Haushaltsberatungen.
Eines ist sicher: So wie Waigel in der Zins- und Schuldenfalle, so sitzt dieser Staat in der Kostenfalle.
In den nächsten zwei Jahrzehnten verdoppelt sich die Zahl der Pensionäre, die - ohne je einen Pfennig dafür eingezahlt zu haben - auf Staatskosten ihre Pensionen genießen können. Sollen sie auch! Aber nun kommt das Haushalterische an der Lage: Die Pensionszahlungen werden von heute 40 Milliarden DM in 20 Jahren auf über 100 Milliarden DM und im Jahre 2040 auf 240 Milliarden DM ansteigen.
Auf 100 Beamte im Dienst werden dann 93 Pensionäre kommen, wenn sich nichts ändert. Das Motto „Nach mir die Sintflut" ist angesichts dieses Szenarios schlicht verantwortungslos.
Es muß sich einiges ändern, und zwar sehr radikal und sehr schnell. Aber wie soll das geschehen, wenn der teuerste Produktionsfaktor in der Kiste, das Personal im öffentlichen Bereich, der am schlechtesten gemanagte ist? Mut zur Zukunft und zur Innovation ist bei vollem Pensionsausgleich wohl schwerlich zu haben.