Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gruppe der PDS hat hier zwei sehr ungleiche Vorlagen eingebracht, mit denen wir uns befassen sollen. Das eine ist ein Katalog von Veränderungswünschen, der praktisch die gesamten in der vorigen Legislaturperiode unter größten Schwierigkeiten verabschiedeten Einheitsgesetze in Frage stellt und sie verändern will. Es soll eine erneute Verhandlung geben. Ich räume Ihnen zwei Dinge ein: Die Aufgaben, die mit diesen Gesetzen zu bewältigen waren, waren extrem schwierig. Nicht jeder in unserer Fraktion ist der Auffassung, daß das optimal gelungen sei, aber das, was wir nun zur Wahrung des Rechtsfriedens und zur allmählichen Angleichung der Lebensbedingungen, auch zum Aufbau einer produktiven Wirtschaft geschaffen haben, stellen Sie jetzt in einem großen flächendeckenden Abwasch, der praktisch acht Fachausschüsse befassen würde
und den wir hier nicht ansatzweise behandeln können, selbst wenn sie zweimal 90 Minuten Redezeit beantragt hätten, in Frage. Insgesamt ist es natürlich ein Vorgehen der Einigungsgegner gegen den bisherigen Einigungsvorgang.
Ich möchte mich daher mit meinen Bemerkungen im wesentlichen auf Ihre zweite Vorlage beschränken, auf das sogenannte Strafverfolgungsbeendigungsgesetz, das zu einigen allgemeinen Bemerkungen Veranlassung gibt.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung melden sich hier gewissermaßen Täter und ihre Helfer zu Wort.
Sie möchten straffrei gestellt, sie möchten in Frieden gelassen werden, und sie möchten in Zukunft als Gentlemen unter Gentlemen leben.
- Dazu komme ich noch, Frau Kollegin.
- Nicht demokratisch, aber rechtsstaatlich. Ich glaube, Sie profitieren von diesem Rechtsstaat außerordentlich.
Dr. Dietrich Mahlo
Aber Sie spekulieren bei Ihrem Antrag auch ein bißchen auf das Desinteresse und die Ahnungslosigkeit, mit denen ein Großteil der Westdeutschen schon immer den Vorgängen in der seinerzeitigen DDR gegenübergestanden hat, auf die eifrigen Wegseher und Verharmloser und auf einen Teil der westdeutschen Intelligenzia bis hin zur Chefredaktion einer Hamburger Wochenzeitung, die über ihre jahrzehntelange Wahrnehmungssperre mit ein paar kleinlauten Bemerkungen hinweggekommen ist. Personen in Ost und West, die dem Recht der sozialistischen DDR niemals eine einzige kritische Bemerkung gewidmet haben, sind jetzt eifrig dabei, die Rechtmäßigkeit der Prozesse wegen der DDR-Regierungskriminalität in Frage zu stellen.
Ich lese in der Begründung zu dem Gesetzesentwurf es hätten sich nun einmal nach dem Zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden zwei Staaten entwikkelt. Die hätten eine zunehmend unterschiedliche und schließlich sogar entgegengesetzte Rechtsordnung gehabt.
Sie seien in die jeweiligen unterschiedlichen Bündnisse und Militärblöcke eingebunden worden. Dann seien sie im gleichen Zuge Mitglieder der UNO geworden. Schließlich habe es in beiden deutschen Staaten auch Bürger gegeben, die sich im Gegensatz zu dem Staat befanden, in dem sie lebten. Auch in anderen Ländern der Erde habe es innere Konflikte gegeben. So waren die Realitäten nun einmal. Man muß das nicht so eng sehen. - Wie müßig, hier Wertungen vorzunehmen! Da kann man nur mit Nietzsche sagen: Wir sind alle gleich, blinzelte der Pöbel.
Die vielen, vielen Toten, die erstickten Qualen in den Zuchthäusern, das mehrfach gebrochene Rückgrat von über einer Generation, das planmäßige Verderben der Kinder, das verlorene Leben von Millionen war nur ein verzeihlicher Irrtum.
Das darf man nicht so eng sehen. Damit dürfen sich keine Konsequenzen verbinden.
Diejenigen, die für den politischen Terror in der DDR verantwortlich sind, soll man einfach freundlich lachend in Rente schicken.
Da, meine Damen und Herren, sind wir mit Ihnen nicht ganz einer Meinung. Wissen die Antragsteller, daß die Mitarbeiter des DDR-Staatsapparates heute als Angehörige des öffentlichen Dienstes gelten und Rente beziehen, während die Opfer der staatlichen Unterdrückung um eine viel zu geringe Entschädigung betteln mußten?
Sozialismusnostalgiker bezeichnen die schwachen Versuche, Unterdrücker von gestern zur Rechenschaft zu ziehen, als Rachejustiz. Sie behaupten, es ginge um strafrechtliche Abrechnung. Sie behaupten, das Strafrecht werde zum Instrument politischer Verfolgung, sei Fortsetzung des kalten Krieges. Tatsächlich handelt es sich um nichts anderes, als daß der nüchterne und undramatische Rechtsstaat pflichtgemäß dazu übergegangen ist, zu untersuchen, ob sich Verdächtige strafbar gemacht haben. Rechtsstaat bedeutet, daß jeder Angeklagte, auch die Honneckers, Kesslers und Wolffs, in den Genuß jenes ehernen Grundsatzes zivilisierter Strafrechtspflege kommt, der da lautet: Keine Strafe ohne Gesetz. Das genau ist auch der Grund, warum es zu so wenig Anklagen und noch weniger Verurteilungen kommt.
Darf ich Sie daran erinnern, daß der NS-Jurist Roland Freißler und die SED-Juristin Hilde Benjamin diesen Satz durch einen anderen Satz ersetzt haben, der da lautet: Kein Verbrechen ohne Strafe.
Es ist wahr: Der uns vorliegende Gesetzesentwurf beansprucht keine Anwendung auf Straftaten, die sich gegen das Leben oder die Gesundheit von Personen richten. Er will sich nicht auf Straftaten beziehen, die bei Gelegenheit hoheitlichen Handelns begangen wurden. Aber diese Darstellung verkennt oder verschweigt, daß in dem Staate DDR eben nicht ausnahmsweise bei Gelegenheit ordnungsgemäßen Handelns einmal das Gesetz überschritten wurde, sondern daß dieser Staat politisch flächendeckend repressiv gewesen ist. Wahlfälschungen geschahen nicht bei Gelegenheit, sondern waren konstitutiver Bestandteil der SED-Herrschaft.
Das MfS war der Herr aller politischen Untersuchungsverfahren. Folterungen waren konstitutiver Bestandteil dieser Herrschaftspraxis. Das MfS war seinerseits nicht ein Staat im Staate, sondern nur ausführendes Organ der Partei, dem alles, was an menschlichen Qualen verursacht wurde, als finales Unrecht zuzurechnen ist.
Daß dieses Regime bereit war, seine Inhumanität per Freikaufpraxis gegen Bares zu mildern, geschah nicht bei Gelegenheit, sondern war Bestandteil des Systems wie seine Unwahrhaftigkeit und seine Brutalität, wovon in Ihrem Gesetzesentwurf natürlich nichts zu lesen ist.
Es ist unbefriedigend, wenn einfache Grenzsoldaten angeklagt werden, ihre Befehlsgeber aber noch frei herumlaufen.
Es ist unbefriedigend, wenn der Sekretär des Zentralkomitees für Sicherheit, Egon Krenz, also der Chef von Herrn Mielke, noch frei herumläuft und wenn gegen hohe Beteiligte am Repressionsapparat, wie Tisch und Götting, vorwiegend wegen lachhafter Vermögensdelikte vorgegangen worden ist.
Aber es ist nicht Sache der Abgeordneten, der Staatsanwaltschaft Weisungen zu geben. Die Helfer der Diktatur, die Freistellung von Strafe begehren, behaupten, sie hätten immer ein gutes Gewissen ge-
Dr. Dietrich Mahlo
habt. Wenn dem so ist, warum wurde dann der Schießbefehl in seiner geltenden Fassung immer nur mündlich erteilt? Warum wurde Verurteilten in politischen Prozessen ihr Urteil nicht ausgehändigt? Warum wurden Hinrichtungen durch Fälschung der Protokolle mit unwahren Angaben zu Todesart, -ort und -zeitpunkt verschleiert? Doch offenbar nicht, weil Sie alle ein gutes Gewissen hatten, sondern weil Sie es für notwendig hielten, den Sachverhalt zu camouflieren.
Es ist wahr - keine Irrlehre entbehrt ganz des Richtigen -, daß das Strafrecht nicht der Weisheit letzter Schluß ist und das Strafrecht nur eine begrenzte Funktion hat.
Schon in der griechischen Antike gab es um des Friedens willen Amnestien nach Gewaltherrschaften. Aber da waren die Verhältnisse überschaubar, und man wußte, was man amnestierte. Eine totalitäre Diktatur, flächendeckend und konspirativ, muß erst aufgeklärt werden, bevor eines Tages das Verzeihen und das Vergessen einsetzen kann.
Wir Deutschen haben mit kollektiven Verdrängungen reiche Erfahrung. Mir erscheint es sinnvoll, wenn sich in unserem Volk die historische Erfahrung herumspricht, daß sich Mitläufertum eben nicht in jedem Falle bezahlt macht.