Rede von
Manfred
Grund
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das im Jahre 1884 - wir hörten es vorhin schon - begründete und von der Bundesregierung in überarbeiteter Form vorgelegte Unfallversicherungsrecht muß - das ist wohl unbestritten - als Erfolgsgeschichte deutscher Sozialgesetzgebung bezeichnet werden. Ein Gesetz, das über einhundert Jahre hinweg - unterbrochen nur durch die Zeit des Nationalsozialismus - durch drei Staatssysteme hindurch, nämlich das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Bundesrepublik, Bestand gehabt hat und unter zum Teil grundverschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen beibehalten wurde, kann keine grundlegenden Fehler enthalten.
Welches sind die Gründe für die erstaunliche Akzeptanz und Lebensdauer dieses Unfallversicherungssystems?
Das ist zum ersten sicher die Tatsache, daß es beiden Beteiligten - Arbeitgebern und Arbeitnehmern - im wesentlichen nur Vorteile bringt. Da sind zunächst auf der Arbeitgeberseite die Ablösung der zivilrechtlichen Haftpflicht zugunsten einer Versicherung im Umlageverfahren und auf der Arbeitnehmerseite eine Lösung der Leistungsansprüche vom Verschulden sowie in der weiteren Entwicklung die immer stärkere Verlagerung auf die Prävention von Schadensfällen im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers und der Kostenvermeidung auf der Leistungsseite.
Manfred Grund
Zum zweiten hat die Gestaltung der Unfallversicherungsträger als selbstverwaltete paritätisch besetzte Körperschaften des öffentlichen Rechts und der damit erreichten Konsensschaffung in Fragen der Unfallursachenbeseitigung und Unfallfolgenkompensation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Erfolg dieses Systems beigetragen.
Später konnten weitere wesentliche Verbesserungen erzielt werden. Ich nenne nur die Stichworte: Einführung der Sicherheitsbeauftragten in Betrieben mit mehr als 20 Arbeitnehmern, Unfallverhütungsbericht, Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung, Erweiterung des Versicherungsschutzes auf Kindergartenkinder, Schüler und Studenten und zuletzt die Anerkennung der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die vor dem 1. Februar 1992 in den fünf neuen Ländern eingetreten sind, auch dann, wenn sie nach DDR-Recht, nicht aber nach bundesdeutschen Berufskrankheitenlisten als solche zu betrachten waren.
Heute umfaßt der Aufgabenbereich der Unfallversicherung in erster Linie die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, daneben die Heilbehandlung, Maßnahmen der medizinischen, beruflichen und nach diesem Entwurf auch der sozialen Rehabilitation sowie die Entschädigung durch Geldleistungen.
Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind zur Zeit 35 gewerbliche und 20 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften sowie 54 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. 80 % der Wohnbevölkerung sind in der gesetzlichen Unfallversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten versichert.
Festzustellen ist: Unser Unfallversicherungssystem hat sich bewährt, beruht auf einem Konsens aller beteiligten gesellschaftlichen Kräfte und ist auch den Anforderungen unserer sich wandelnden Gesellschaft gewachsen.
Es gibt also keinen Anlaß, diesen Bereich grundsätzlich zu reformieren.
In diesem Licht ist auch der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes zu sehen. Er enthält keine grundsätzliche Neuordnung des Unfallversicherungsrechts; aber er sieht doch einige erwähnenswerte und zu begrüßende Verbesserungen vor. Eines der großen Probleme unseres Sozialrechts ist sicherlich die Tatsache, daß es trotz erheblicher Fortschritte bei der Vereinheitlichung in den letzten Jahren noch immer in einer Vielzahl verschiedener Gesetze und Verordnungen geregelt ist, was dazu führt, daß es für den Bürger, für den es eigentlich geschaffen wurde, unübersichtlich und unverständlich bleibt.
Das von der Bundesregierung im Entwurf vorgelegte Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz bringt mehr Klarheit und Rechtssicherheit in das gesetzliche Unfallversicherungsrecht und in das Sozialrecht allgemein. Es ist zunächst Folge der formellen Neufassung dieses Rechtsbereichs. Der Entwurf faßt das Unfallversicherungsrecht übersichtlicher und straffer. Die Reichsversicherungsordnung als über 100 Jahre lang gültige Rechtsgrundlage des Sozialversicherungsrechts wird abgeschafft. Die einheitliche Kodifizierung des Unfallversicherungsrechts und seine Einordnung in das Sozialgesetzbuch VII stellt also einen weiteren folgerichtigen Schritt zur Vereinheitlichung und Systematisierung des Sozialversicherungsrechts, einen weiteren Fortschritt im Bemühen um die erfolgreiche Schaffung eines für die Bevölkerung durchschaubaren und für die Verwaltung leichter umsetzbaren einheitlichen Sozialrechts in Form des Sozialgesetzbuchs dar.
Ich möchte Sie im Zusammenhang mit den formellen Aspekten des Gesetzentwurfs noch auf Änderungen der Zuständigkeiten hinweisen. Gemäß § 116 des Entwurfs sind die Unfallversicherungen auch im Landesbereich durch rechtlich selbständige Träger, Unfallkassen, durchzuführen, die wie die Gemeindeunfallversicherungsverbände die gleichen Kompetenzen wie die Berufsgenossenschaften erhalten.
Dabei können die Landesregierungen unter folgenden Regelungsmodellen wählen: erstens Bildung einer oder mehrerer besonderer Unfallkassen nur für den Landesbereich mit einer Übergangsregelung bis Ende des Jahres 1996 oder zweitens Bildung einer gemeinsamen Unfallkasse für den Landes- und den kommunalen Bereich, wobei der Träger nicht den gesamten Bereich eines Landes umfassen muß.
Die Länder haben im übrigen auch in Zukunft die Möglichkeit, die Aufgaben der Unfallkasse für den Landesbereich durch einen Gemeindeunfallversicherungsverband im Rahmen einer Verwaltungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Geschäftsführer durchführen zu lassen, was durch eine Verwaltungsvereinbarung zu regeln wäre.
In § 116 Abs. 2 des Entwurfs wird darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, daß mehrere Länder mit oder ohne Einbeziehung der kommunalen Unfallversicherung eine gemeinsame landesunmittelbare Unfallkasse bilden können.
Was im Bereich der Länder vorgesehen ist, wird auch im Bereich der Kommunen ermöglicht werden. Das geltende Recht sieht bei den Gemeinden die Bildung von Gemeindeunfallversicherungsverbänden und von Feuerwehr-Unfallkassen vor. Städte mit mehr als 500 000 Einwohnern können selbst zum Versicherungsträger bestimmt werden. Für die kommunale Unfallversicherung in den Stadtstaaten kann eine Unfallkasse errichtet werden, die gleichzeitig Träger der Unfallversicherung des Landes ist.
Ist die Unfallversicherung im kommunalen Bereich nicht von einer gemeinsamen Unfallkasse für den Landes- und den kommunalen Bereich durchgeführt, so sieht § 117 Abs. 1 im Gegensatz zur alten Rechtslage folgende Änderungen vor:
Erstens. Die Ausführungsbehörden der sechs Städte, die zur Zeit zu Unfallversicherungsträgern bestimmt sind, sollen in rechtlich selbständige Un-
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fallkassen umgewandelt werden. Nach Auffassung des Bundesrates sollen diese Unfallversicherungsträger aber in den Gemeindeunfallversicherungsverbänden aufgehen.
Zweitens. Es wird die Möglichkeit geschaffen, einen gemeinsamen Träger für den Landes- und für den Kommunalbereich zu errichten. § 117 Abs. 3 hat insbesondere bei den Feuerwehr-Unfallkassen zu Besorgnis geführt. Hier sollen im Interesse größerer und leistungsfähigerer Einrichtungen neben einem gemeindlichen Unfallversicherungsträger besondere Feuerwehr-Unfallkassen nicht mehr neu entstehen. Die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehenden Feuerwehr-Unfallkassen können erhalten bleiben, können aber auch von den Landesregierungen landesübergreifend vereinigt werden.
Dieser § 117 wird von den Feuerwehr-Unfallkassen als Eliminierungsklausel empfunden. Anlaß zu dieser Befürchtung geben auch die Erfahrungen bei den Gründungen von Feuerwehr-Unfallkassen in den neuen Ländern, so z. B. in Thüringen. Gleichbehandlung und Statuserhalt sind Anliegen auch der deutschen Feuerwehren, gehen doch die Leistungen der Feuerwehr-Unfallkassen über die der gemeindlichen hinaus. Zudem sind die Leistungen der FeuerwehrUnfallkassen im Bereich der Schadensverhinderung und Prävention bereits heute vorbildlich.
In der weiteren parlamentarischen Diskussion sollte der § 117 nach Ansicht der deutschen Feuerwehren so abgeändert werden, daß durch ihn der Bestand der Feuerwehr-Unfallkassen nicht angetastet wird.
Neben formellen Verbesserungen entwickelt der Entwurf das Unfallversicherungsrecht in einigen Punkten auch durch inhaltliche Veränderungen weiter. Lassen Sie mich auf die wesentlichsten kurz eingehen.
Der Entwurf erweitert eine der drei Hauptaufgaben der Unfallversicherung, den Präventionsauftrag, um die Zuständigkeit für Erforschung und Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren. Die staatlichen Arbeitsschutzvorschriften, durch die Unfallversicherungsträger branchenspezifisch konkretisiert und erweitert, können hierdurch im gesamten Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes erlassen werden. Staatssekretär Kraus hat hierauf schon hingewiesen. Die Erweiterung der Unfallverhütungspflicht stellt unbestritten einen Fortschritt dar und wird allgemein als geboten und sinnvoll erachtet.
Nun mag die bisherige Darlegung recht theoretisch daherkommen und mehr den Verwaltungsfachmann, den Arbeitgeber und die Verbände betreffen. Es gibt aber einen Bereich, der sehr anschaulich ist und insbesondere Kinder und Jugendliche betrifft. Der Versicherungsschutz von Kindergartenkindern wird auf den Besuch aller Tageseinrichtungen mit kindergartenähnlichem Charakter ausgeweitet. In § 2 des vorliegenden Entwurfes - Versicherung kraft Gesetzes - wird der Versicherungsschutz der nach der Reichsversicherungsordnung versicherten Personengruppen, also Kindergartenkinder, Schüler und Studenten, auf Kinder in allen Tageseinrichtungen und auf die Teilnahme an bestimmten Betreuungsmaßnahmen für Schüler erweitert.
Die Funktion von Kindertageseinrichtungen hat sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindertageseinrichtungen im Jahre 1971 wesentlich verändert. Ebenso gibt es keine klare Trennung zwischen Kindergarten, Schule und Hortbetreuung. In den neuen Bundesländern werden Kinder vom zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt im Kindergarten betreut. Hortbetreuung ist an der Schule und auch nach der Schule wiederum im Kindergarten oder durch freie Träger möglich.
Damit umfassen die Aufgaben der Tageseinrichtungen Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder. Der Hort hat inzwischen einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag und arbeitet mit den Schulen und mit den anderen Trägern zusammen.
Durch altersgemischte Gruppen besteht die Möglichkeit einer organisatorischen Einheit von Krippe, Kindergarten und Hort. Eine eindeutige Abgrenzung gibt es nicht mehr. Deshalb wird der Unfallversicherungsschutz auf alle Tageseinrichtungen - das sind Krippen, Horte und altersgemischte Einrichtungen - erstreckt. Zu überlegen bleibt, ob nicht die Betreuung von Kindern in Einrichtungen der Tagespflege in den Unfallversicherungsschutz mit einbezogen werden kann.
Der Versicherungsschutz der Schüler wird auf die Teilnahme an Betreuungsmaßnahmen vor und nach dem Unterricht von in der Regel allgemeinbildenden Schulen erweitert. Eine Durchführung dieser Maßnahmen im Zusammenwirken mit der Schule soll zukünftig ausreichen. Ohne diesen Zusatz würde sich der Versicherungsschutz nur auf solche Maßnahmen erstrecken, die im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule durchgeführt werden.
In diesem Zusammenhang muß § 21 Abs. 2 des Entwurfs erwähnt werden. Diese Vorschrift soll sicherstellen, daß die Aufspaltung im Schulbereich - Sachkostenträger als Unternehmer im Sinne der Unfallversicherung einerseits und Schulhoheitsträger andererseits - die Unfallverhütung nicht beeinträchtigt. Eine Beeinträchtigung scheint mir gegenwärtig mangels Abstimmung zwischen Sachkostenträger und Schulhoheitsträger nicht ausgeschlossen.
Soweit Maßnahmen zum Schutz der Schüler erforderlich sind, die nicht dem äußeren Schulbereich - also Gebäude, Einrichtungen, sächliche Ausstattung betreffend -, sondern dem inneren Schulbereich zuzuordnen sind, wird folgerichtig neben dem Sachkostenträger - das ist in der Regel die Kommune - auch der Schulhoheitsträger - das sind meistens die Länder - in die Präventionsverantwortung einbezogen. Durch die Regelung erhöht sich im allgemeinen die Rechtssicherheit; im besonderen wird es keine gespaltene Sicherheit an den Schulen geben.
Die Erweiterung des Versicherungsschutzes auf den Bereich der Kindertagesstätten belastet die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand im Landes- und im kommunalen Bereich mit etwa 27 Millionen DM jährlich. Diesem Mehraufwand ste-
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hen nicht quantifizierbare Entlastungen gegenüber, weil in diesem Bereich bereits heute der erweiterte Versicherungsschutz auf Satzungsgrundlage oder auf Grund von Privatversicherungen besteht.
Eine weitere positive Veränderung ist die vorgesehene jährliche Anpassung der Renten von Landwirten und ihren Ehegatten. Die jährliche Anpassung der Unfallrenten in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung belastet die landwirtschaftlichen Unternehmen im Rahmen einer Umlage in Höhe von 5 Millionen DM bis 10 Millionen DM jährlich. Die übrigen Neuregelungen sind nach Einschatzung der Bundesregierung kostenneutral.
Dies alles ist zu begrüßen und wird allgemein auch begrüßt. Der Bundesrat hat den Entwurf zu Recht als rechtssystematisch und sprachlich gelungen bezeichnet. Um so unverständlicher erscheint deshalb seine Ablehnung des vorliegenden Entwurfs.
Auf eine Forderung des Bundesrates möchte ich kurz eingehen, nämlich auf die nach einer gesetzlichen Vermutung für die Kausalität zwischen einem berufsbedingten Schadensrisiko und seiner Verwirklichung in einer Berufskrankheit in Verbindung mit der Verlagerung der Beweislast auf die Unfallversicherungsträger.
Ich habe Ihnen Geschichte und Ziele der gesetzlichen Unfallversicherung eben kurz ins Gedächtnis gerufen. Die Unfallversicherung hat im Falle eines Gesundheitsschadens - sei es durch Unfall, sei es durch eine Berufskrankheit - den Zweck, die Unternehmerhaftung, also eine Schadensersatzpflicht, abzulösen. Die Kausalität zwischen dem Verhalten eines Schädigers und dem eingetretenen Schaden als Voraussetzung für Schadensersatz halte ich für ein sinnvolles und gerechtes Zuordnungsprinzip unseres Rechtssystems - auch wenn das Risiko einer Schadensersatzleistung in Form einer Unfallversicherung umgelegt wird. Soll ein solches Prinzip außer Kraft gesetzt werden - das ist offensichtlich Ziel des Bundesrates -, sollte man gute Gründe dafür haben.
Natürlich ist der Arbeitgeber Nutznießer der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers. Er zieht seinen unternehmerischen Gewinn aus dieser Arbeitsleistung, im Grunde also auch aus den Risiken, die der Arbeitnehmer eingeht. Dieser Interessenlage wird der Entwurf der Bundesregierung aber schon dadurch vollkommen gerecht, daß er zugunsten der Arbeitnehmer erhebliche Beweiserleichterungsregelungen zu den schon bestehenden eingeführt hat. Die Tatsache, daß sich die Sozialpartner über die Notwendigkeit der schnellstmöglichen Einführung dieser Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes vollkommen einig sind, sollte deutlich genug zeigen,
daß eine Verzögerung dieses Entwurfs aus taktischen Gründen nicht zu verantworten wäre.
Ich danke Ihnen.