Rede von
Dr.
Sigrid
Skarpelis-Sperk
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie befindet sich in einer schwierigen Lage, ihr größtes Unternehmen, die Daimler-Benz Aerospace, in einer existentiellen Krise. Im Halbjahresbericht bringt der DASA-Vorstand der Öffentlichkeit einen Verlust von über 1 1/2 Milliarden DM zur Kenntnis und rechnet mit weiteren deutlichen Verlusten bis zum Jahresende. Etwa 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an etwa 40 Standorten in Deutschland sind zu Recht zutiefst über ihre Situation beunruhigt und fragen ihre Unternehmensführung, aber auch die Politik nach den Zukunftschancen ihres Unternehmens und der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Ich meine, Management und Politik schulden den Menschen Offenheit und Klarheit über ihre Zukunftschancen,
gerade weil dieser Bereich in einem nicht geringen Umfang von öffentlichen Aufträgen abhängt.
Wir Sozialdemokraten meinen: Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist ein unverzichtbares Element der deutschen Industrie. Sie verfügt in hohem Ausmaß über Zukunftstechnologien, deren Innovationen auf andere Bereiche ausstrahlen. Schlüsseltechnologien wie Mikro- und Optoelektronik, Softwaretechnologie, neue Hochleistungswerkstoffe und neue Energietechnologien kommen interdisziplinär zum Einsatz. Viele dieser Technologien werden in den nächsten Jahren auf weltweiten Wachstumsmärkten wie der zivilen kommerziellen Satellitenkommunikation eine wichtige Rolle spielen.
Herr Kollege Rachel, wir müssen aber auch darüber reden, daß in den 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DASA über Jahrzehnte ein Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionswissen entstanden ist, das in der deutschen Industrie seinesgleichen sucht. •
Die hohe Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihr Know-how, ihre Produktionsfähigkeiten und ihre Arbeitsplätze gilt es unserem Land zu erhalten.
Die Zukunft der Luft- und Raumfahrtindustrie wird im zivilen Bereich liegen, in dem die DASA schon heute 70 % ihres gesamten Umsatzes erzielt.
Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit - da stimme ich meinem Vorredner zu - läßt sich auf Dauer nur in einer engen europäischen Kooperation sichern.
Wer aber der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie helfen will, muß sich über die Gründe der massiven Krise im klaren sein. Das sind im wesentlichen
drei: die Lage auf dem Weltmarkt für zivile Luftfahrzeuge, die hausgemachten Probleme bei der DASA und die fehlende mittelfristige Planung bei der staatlichen Nachfrage.
Die internationalen Probleme sind dabei ohne Zweifel die gravierendsten. Die Deregulierung des Luftverkehrs hat weltweit zu hohen Verlusten der internationalen Luftverkehrsgesellschaften geführt. Das hat bei den Flugzeugbauern zu Nachfrageeinbrüchen und zu weltweiten Überkapazitäten geführt. Allein Airbus mußte seine Planung von 210 auf mittlerweile 120 Maschinen zurückführen. Das hat natürlich Konsequenzen für die Gewinne und die Kostensituationen mit sich gebracht.
Aber darüber hinaus ist die deutsche Industrie auch in einer ungünstigeren Wettbewerbslage als andere europäische Mitbewerber und erst recht als ihre US-Konkurrenten. Dazu muß man der Bundesregierung sagen, daß die Europäische Union zusammen mit den USA im Rahmen des GATT im Juli 1992 ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das zu schlimmen Nachteilen für die deutsche und die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie geführt hat.
Es ist der US-Industrie gelungen, die in Europa praktizierte direkte Förderung stark zu reduzieren und die in den USA praktizierte indirekte Förderung durch Militär- und Forschungsprogramme weitgehend unangetastet zu lassen. Das hätte sich voraussehen lassen.
Der vom DASA-Management als entscheidend vorgetragene Verfall des Dollarkurses ist zwar wichtig, aber zumindest in diesem Jahr laut Halbjahresbericht nicht entscheidend für die Höhe der Verluste.
Nach uns vorliegenden Informationen betragen die Rückstellungen für die sogenannten Drohverluste für einen Dollarrückgang auf DM 1,35 - der Dollar steht übrigens heute auf 1,41 DM - etwa 220 Millionen DM. Das ist für ein Unternehmen eine ernst zu nehmende Summe, aber nicht der Löwenanteil der Verluste.
Deswegen muß man sagen: Die hausgemachten Fehler der DASA haben zu größeren Verlusten geführt als die Dollarschwäche.
Man kann dem Management von Daimler-Benz und DASA nur raten, selbst einmal in den Spiegel zu sehen und sich zu fragen, ob sie nicht ihre eigenen Kaufentscheidungen bei Fokker und Dornier nun zu Lasten Dritter, nämlich ihrer Arbeitnehmer und des Staates sanieren müssen.
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Betrachtet man nun die vom DASA-Vorstand lancierten und öffentlich gemachten Konzepte wie z. B. das Dolores-Programm, so drängt sich der Verdacht auf, als wolle man von eigenen Fehlern ablenken und die eigenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Politik massiv unter Druck setzen.
Wir meinen, eine konzertierte Aktion zum Erhalt der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie zur Zukunftssicherung der Arbeitsplätze war und ist schon lange überfällig. Ministerpräsidentengipfel sind dafür kein Ersatz,
weil sie zentrale Probleme gar nicht angehen können.
Die Bundesregierung muß deswegen mit den Beteiligten gemeinsam ein industriepolitisches Konzept vorlegen. Aber davor muß das DASA-Management seine eigenen Hausaufgaben machen. Dafür gibt es vier Punkte:
Die Dolores-Drohliste von 15 000 Entlassungen und der Schließung ganzer Standorte muß zunächst einmal vom Tisch.
Denn es geht nicht, daß man sagt, alle Beteiligten müßten sich an einen Tisch setzen, ihnen aber gleichzeitig die Pistole auf die Brust setzt und mit Massenentlassungen und Standortschließungen droht.
Wir erwarten dafür von der DASA ein neues und mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abgestimmtes Zukunftskonzept für das Unternehmen, bei dem dessen Beiträge sowie diejenigen der Konzernmutter und der Arbeitnehmer zur Sicherung der Standorte darzustellen sind. Wir wissen, daß die Arbeitnehmer dazu bereit sind.
In dieses Konzept gehören auch realistischere Eckdaten für den Dollarkurs und die erwartete Kapitalrendite. Meine Damen und Herren, niemand will Daimler-Benz angemessene Renditen verwehren. Aber als Teilbegründung für die Notwendigkeit von Massenentlassungen und Standortschließungen sind sie eine Zumutung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Politik.
Wir erwarten, daß die DASA den hausgemachten Problemen ernsthaft zu Leibe rückt - die übrigens allesamt mehr kosten als der schwache Dollar - und sie nicht zu Lasten deutscher Standorte löst. Allein bei Fokker entstand ein Verlust von 597 Millionen DM, und für das zweite halbe Jahr stehen weitere 0,8 Milliarden an.
Auch bei den Schwierigkeiten bei Dornier handelt es sich nicht um ein Dollarproblem, wird doch bei der DO 328 schon zu über 80 % im Dollarraum produziert.
Letztlich muß sich das DASA-Management stärker als bisher der Aufgabe zuwenden, Ersatzproduktionen für die unvermeidlich geringer werdende militärische Nachfrage zu finden, d. h. neue, innovative Produkte zu entwickeln und zu vermarkten.
Wir alle wissen, wie verdammt schwer das in einer Struktur ist, die nicht an Marketing auf harten Wettbewerbsmärkten gewöhnt, sondern auf staatliche und speziell militärische Beschaffung getrimmt war. Hier kann und muß Politik, die sich gemeinsam und aus vernünftigen Gründen nach dem Ende des Kalten Krieges für Abrüstung als Priorität entschieden hat, den Übergang vom militärischen Entwicklungs- und Beschaffungswesen in neue zivile Bereiche öffnen und ebnen helfen, auch finanziell.
Und weil Sie nachgefragt haben: Das ist unsere Vorstellung von einer aktiven, sozialverträglichen Industriepolitik. Nicht am militärischen Produkt kleben um jeden Preis, sondern sich überlegen, wie sich Wissen und Qualifikation sowie das hohe Produktions-Know-how für weltweit absetzbare neue Ideen und Produkte nutzen lassen.
Übrigens ist beim Dolores-Konzept nicht auszuschließen, daß 15 000 Arbeitsplätze in Deutschland in der jetzigen Flaute der zivilen Luftfahrt zu Lasten der Arbeitnehmer und auf Kosten des Staates radikal abgebaut werden und dann, wenn die Weltnachfrage bei der zivilen Luft- und Raumfahrt wieder anspringt, die Arbeitsplätze im Ausland wieder hochgezogen werden.
Seien Sie sicher, wir werden darauf achten, daß bei allen künftigen Staatsaufträgen sichergestellt wird, daß Produktion, Arbeitsplätze und Know-how in einem garantierten Maß in Deutschland bleiben, auch in einem unausweichlich enger werdenden europäischen Verbund.
Im dritten und wichtigsten Punkt für die Krise ist die Politik in der Verantwortung. Das sind nämlich die fehlenden Konzepte für die mittelfristige Entwicklung der Nachfrage in wichtigen Bereichen der Luft- und Raumfahrtindustrie. Hier muß nicht die DASA, hier muß die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben machen,
zügig, aber auch sorgfältig, und dann dem Parlament zur Entscheidung vorlegen. Ich sage Ihnen eines: Übers Knie brechen läßt sich da nichts; denn eine Beschaffungsentscheidung für ein System, ob nun im militärischen Bereich oder bei der Raumfahrt, bedeu-
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
tet ja notwendigerweise, daß ein anderes Projekt aus dem Haushalt herausfliegt, wenn die Summe der Beschaffungsaufträge begrenzt ist. Das hat dann auch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Konsequenzen, möglicherweise sogar im selben Konzern.
Deshalb werden wir Sozialdemokraten darauf bestehen, daß die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht und endlich ein Konzept für die Luft- und Raumfahrt, auch ein haushaltsfähiges, tragbares Konzept für die militärischen Aufträge vorlegt, denn das steht immer noch aus.
Wir bedauern sehr, daß die Bundesregierung trotz der hohen staatlichen Aufwendungen - allein in den Airbus sind etwa zehn Milliarden DM geflossen - sich derzeit nicht in der Lage sieht, ein Konzept für die Luft- und Raumfahrtindustrie vorzulegen, sondern - so hat es uns der geschätzte Kollege Lammert versprochen - auf die Jahreswende 1995/1996 vertröstet. Ein Gutachten über die Luft- und Raumfahrtindustrie wurde im Frühsommer 1995 vergeben und soll nun im Sommer 1996 vorliegen - fürwahr nicht gerade eine besonders eilige Behandlung, und Herr Lammert ist nun nicht der erste und nicht der zweite, sondern der dritte Koordinator für die Luft- und Raumfahrt. So, meine Damen und Herren, wird die Bundesregierung ihrer Verantwortung gegenüber dem Parlament, der Öffentlichkeit und der betroffenen Luft- und Raumfahrtindustrie nicht gerecht.
Wir erwarten, daß der Koordinator der Bundesregierung endlich aus seiner Moderatorenrolle herauskommen darf und dem Deutschen Bundestag ein industrie- und haushaltspolitisches Konzept vorlegt. Mein Kollege Schütz wird auf die Details näher eingehen.
Die Menschen in der Luft- und Raumfahrtindustrie erwarten von der Bundesregierung und der Politik Klarheit über ihre Ziele und Planungssicherheit für ihr Unternehmen.
Deswegen, meine Herren von der Bundesregierung: Machen Sie Ihre Hausaufgaben sorgfältig und zügig, damit das Parlament auch in der Lage ist, verantwortlich zu entscheiden!