Rede von
Brigitte
Lange
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Nur in diesen Fällen, in großen Familien, gab es Überschneidungen. Das - ich spreche einmal die ehemalige Familienministerin an - war im Sozialhilfegesetz gewollt, weil man der Meinung war, daß eine größere Familie nicht darunter leiden sollte, daß sie einen größeren Verbrauch hat. Deren Unterstützung wollte man nicht beschneiden und nicht vergleichen mit dem Einkommen eines Arbeiters, der in dieser Situation möglicherweise weniger hatte. Also, es gab Ausnahmen, die zugelassen waren.
Hier muß ich vielleicht noch einmal etwas erklären: Sozialhilfe richtet sich nach dem Bedarf. Der Lohn richtet sich nach der Leistung. Da wird nicht danach gefragt, ob einer davon leben kann. Der Vergleich von Bedarf und Leistung ist immer schief. Wenn wir das aufheben wollen, wenn wir wirklich garantieren wollen, daß jeder mit seinem Lohn seine Familie selber über die Runden bringen kann, dann muß man das Augenmerk auf die Systeme richten, die es den unteren Einkommensbeziehern heute unmöglich machen, von ihrem eigenen Gehalt zu leben.
Herr Minister, Sie haben behauptet, daß die Löhne geringer gestiegen seien als die Regelsätze. Auch das ist immer wieder die gleiche falsche Botschaft. Sie ist halb falsch und halb richtig, aber halb falsch ist auch falsch.
Denn Sie nehmen den Zeitraum, der Ihnen angenehm ist. Im Zeitraum von 1980 bis 1993 stimmt es tatsächlich, daß die Löhne geringer gestiegen sind als die Sozialhilfe. Aber wenn Sie den Gesamtzeitraum von 1963 bis 1993 betrachten, dann ist es anders. Das hat auch seine Ursache.
Das liegt daran, daß sich die Sozialhilfe und die Löhne so weit auseinanderentwickelt haben, daß man dann versucht hat, das wieder auszugleichen, und höhere Steigungsraten für die Sozialhilfe vorsah. Trotzdem war die Steigerung der Sozialhilfeleistungen über den gesamten Zeitraum immer niedriger als die der Löhne.
Die nächste falsche Botschaft, die immer wieder verkündet wird, lautet: es lohne sich nicht mehr zu arbeiten. Damit wird suggeriert, als gäbe es eine Wahlfreiheit zwischen Sozialhilfe und Arbeit.
Herr Minister, Sie haben diesem Kapitel in Ihrem Entwurf sehr viele neue Regelungen gewidmet. Diese neuen Regelungen machen das Gesetz aber nicht besser. Sie wissen das auch. Sie wissen, daß die Sozialhilfeträger alles Mögliche tun, was in ihrer Macht steht, um Sozialhilfeempfängern wieder Arbeit zu vermitteln.
Wieso reflektieren Sie nicht einmal, daß es bei vier Millionen Arbeitslosen, bei annähernd sechs Millionen fehlenden zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen dem Sozialamt nicht gelingen kann, was unseren Arbeitsämtern nicht gelingt: Menschen in Arbeit zu bringen und Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen.
Es ist lachhaft, zu behaupten, die Sozialhilfeempfänger wären alle zu faul, ruhten sich in der sozialen Hängematte aus und man brauchte Sanktionen.
- Natürlich, es ist im Vorfeld diskutiert worden, wir bräuchten Sanktionen für die Leute, die nicht gewillt sind zu arbeiten.
Erstens ist es falsch, meine Damen und Herren; denn bereits heute steht im Gesetz, daß jeder erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger verpflichtet ist, jede Arbeit - ich betone noch einmal: jede Arbeit! - anzunehmen.
- Sie wissen, daß die Zumutbarkeit in der Sozialhilfe weit unter der des AFG liegt.
Er muß fast alles nehmen, egal, ob es zwei Mark Stundenlohn sind, ob es Arbeit für wenige Stunden ist, egal, ob sie weit entfernt ist und ob sie seiner Qualifikation entspricht. Er ist in dieser Situation schutzlos.
Ich denke, die eigentliche Absicht dabei ist, die Arbeitslosen nicht mehr an das Arbeitsamt abzugeben, sondern zu sagen: Sozialamt, mach Du das mal! Denn er hat dann nicht die Schutzrechte wie ein Arbeitsloser, der über das Arbeitsamt vermittelt wird.
Ganz abgesehen davon, Herr Seehofer, steht auch heute bereits im Gesetz, daß derjenige, der Arbeit verweigert, keinen Anspruch - so heißt es wörtlich: keinen Anspruch! - auf Sozialhilfe hat.
Brigitte Lange
- Das Schlimme ist, daß Sie das jetzt nicht begriffen haben.
Wenn Sie verlangen, daß um 25 % gekürzt werden muß, dann hat der Sozialhilfeträger keine Möglichkeit mehr, danach zu sehen - was seine Aufgabe wäre -, wer darunter leidet, wer mit dem Betroffenen zusammenlebt und ob diese 25%ige Kürzung nicht seine Familienangehörigen schädigt.
Damit Sie es vielleicht einmal verstehen, mache ich es plastisch: Wenn z. B. ein Familienvater, der Alkoholiker ist, die Arbeit verweigert und dann von der 25%igen Kürzung betroffen ist - das muß ja jetzt sein -, was glauben Sie denn, wer darunter leidet, er oder seine Kinder und seine Familie?
Und deswegen steht das im Gesetz.
Haben Sie eigentlich den Satz 3 gestrichen, oder haben Sie ihn dringelassen? Denn dann widerspricht sich das. Entweder verlangen Sie ein Muß, dann können Sie den Satz 3 streichen, oder Sie nehmen das Muß heraus, und dann können Sie es so lassen.
- Darf ich weitermachen?
Es gibt eine nächste falsche Botschaft. - Herr Seehofer, mir geht es sehr um die Semantik dieses Gesetzes, weil nach draußen immer wieder der falsche Eindruck vermittelt oder der Boden bereitet wird, daß man da Kürzungen vornehmen könne.
Sie reden von „Anreiz". „Anreiz" finde ich ja hervorragend. Anreiz heißt ja etwa: Du darfst freiwillig etwas tun; ich reize dich an, Arbeit zu tun. Ich sehe schon die blühenden Arbeitslandschaften. Die Sozialhilfeempfänger brauchen bloß zu gucken, und dann können sie sagen: Ich nehme diesen Arbeitsplatz oder jenen.
Es ist hervorragend. Und wenn sie diesen freiwilligen Anreizen nicht folgen, dann werden sie sanktioniert. Macht das einen Sinn?