Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Seehofer, ich kann verstehen, daß Sie sauer sind.
Sie waren so zornig und erregt, daß eigentlich gar nicht so viel herübergekommen ist von dem, was Sie „Reform" nennen.
- Das mag vielleicht unterschiedlich gesehen werden. - Ich kann das aber verstehen. Da läßt man sich zunächst breitschlagen, ein Aufgabengebiet zu übernehmen, das im Gesundheitsministerium eigentlich nichts zu suchen hat. Ich gebe auch zu, daß es im Familienministerium nicht umbedingt sehr vernünftig angesiedelt war. Aber, ich glaube, Sie verfluchen manchmal den Tag, an dem Sie da zugestimmt haben; denn Sie haben sich wahrscheinlich nicht vorgestellt, wie schwierig und komplex dieses Gesetz ist - ein Meines Gesetz mit großen Auswirkungen. Insofern finde ich es gut, daß wir die Debatte damit anfangen können.
Sie haben mit diesem Wort „Reform" natürlich große Hoffnungen geweckt. Jetzt sind Sie enttäuscht, daß über hundert Organisationen von Wohlfahrtsverbänden dagegen protestieren und sagen: Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück!
Die zweite Enttäuschung kam vom Bundesrat: Auch er war von Ihrem Gesetz absolut nicht begeistert.
Das ist schon interessant.
Vielleicht hätten Sie aus anderen Zeitungen zitieren müssen als nur immer aus dem „Focus". Der wird Ihnen dankbar sein; Sie müssen unheimlich viele Hefte kaufen.
Es gibt aber auch noch andere Zeitungen, die anderes aussagen.
Reformhilfe, Bundessozialhilfegesetz, Sozialhilfe, das ist ein uraltes Thema. Hier im Parlament wurde das Gesetz vor rund 33 Jahren beschlossen, 1962. Es löste das Fürsorgerecht ab, das von 1924 war.
Ich habe in dem Bundestagsprotokoll nachgelesen - das war sehr spannend -, was z. B. zum § 10 gesagt wurde; das empfehle ich der F.D.P. nachzulesen.
Es war auch sehr spannend, die Gründe nachzulesen, warum man einen Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe einräumte und warum man den bemerkenswerten Satz hineinschrieb, daß jeder, der in Not ist, Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben hat. Das ist
Brigitte Lange
ein Satz, der dieses Gesetz adelt, der so viel gute Wirkung gehabt hat und der es überhaupt erst ermöglicht hat, daß die Sozialhilfe ihre Aufgaben erfüllen konnte, obwohl diese sich völlig verändert haben.
Der damalige Minister Schröder begründete, wie er sagte, „das Wesen staatlicher Verpflichtung zur Hilfe für die Notleidenden" mit einem Zitat von Lorenz von Stein:
Not ist nicht bloß eine Gefahr, sondern sie ist eine Unfreiheit für den, der sie leidet.
Die landläufige Debatte, die wir seit Jahren erleben und - so sage ich - auch erleiden müssen, über den Sozialstaatsumbau - oder viel lieber: -abbau - läßt diesen Zusammenhang viel zu oft außer acht.
Die Diskussion um Sozialhilfe, die Diskussion um das, was wir Menschen in Not geben wollen, ist alt, älter als dieses Gesetz. Schon immer ist sie schwergefallen. Schon vor 125 Jahren, als man den Vorläufer dieses Gesetzes einführte, stritt man sich darüber, wer wieviel und unter welchen Umständen erhalten sollte. In unsere Begriffe übersetzt, redete man vom Regelsatz, vom. Lohnabstandsgebot und davon, daß die Hilfe auf keinen Fall mehr sein dürfe, als der ärmste Arbeiter verdient, aber bitte mehr als zum nackten Überleben notwendig. Damals sagte man: Jemand, der Hilfe kriegt, soll wenigstens ein anständiges Begräbnis ausrichten können.
Seit dieser Zeit streiten wir uns über die Höhe der Regelsätze, werden ganze Wissenschaftlergenerationen verbraucht, um herauszufinden, ob jemand 600 Gramm Reis oder 300 Gramm Nudeln und vielleicht eine Fahrradklingel und einen halben Kinobesuch erhalten soll oder ob es nicht lieber 500 Gramm Mehl und 250 Gramm Zucker sein sollen. Meine Damen und Herren, manchmal erscheint mir diese Debatte so absurd. Ich überlege oft, wieviel Geld in diesen Bereich gesteckt worden ist und was man damit in der Sozialhilfe hätte machen können.
Gerade in diesem Parlament hörten wir auch von diesem Pult sehr viel Mißliches, sehr viel Beschämendes, standen Fraktionssessel und Regierungsbank den Stammtischen bedenklich nahe.
Minister Seehofer war zunächst etwas vorsichtiger, auch ein bißchen geschickter, und hat betont, daß er die Mißbrauchsdebatte nicht fortsetzen wolle.
Aber mit dem, was wir heute gehört haben, Herr Seehofer, haben Sie Ihr Versprechen leider nicht eingelöst. Sehr viele falsche Versprechen und sehr viele falsche Botschaften sind eben von hier ausgegangen.
Ich will es mir ersparen - ich denke, das wird noch genug geschehen -, die Zahlen für die Sozialhilfe zu nennen. Aber ich denke, das, was Sie gesagt haben, muß noch einmal erläutert werden. Ich möchte deshalb die Vorurteile aufgreifen, die hier immer wieder produziert werden und die in der Bevölkerung so wenig Verständnis dafür wecken, daß wir dieses Sozialhilfegesetz in seinen Strukturen erhalten und ausbauen müssen.
Die erste falsche Botschaft, die immer kommt, ist, daß die Ausgabensteigerungen darauf beruhten, daß die Leistungen für den einzelnen so angestiegen seien, daß der einzelne soviel mehr bekomme. Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jahren waren die Ausgaben für die Sozialhilfe gedeckelt; die Erhöhungen sind unter der Preissteigerungsrate geblieben.
Wir unterhalten uns heute über einen Betrag, der seit dem 1. Juli 526 DM im Monat beträgt. Das sind 17,50 DM pro Tag. Davon muß ein Sozialhilfeempfänger sein Essen, seinen Haushalt, seine Körperpflege bestreiten, davon müssen Reparaturen und Fahrkarten bezahlt werden, davon muß er vielleicht, wenn es gerade noch geht, ins Kino gehen können. Ich glaube, die Phantasie wird nicht übermäßig strapaziert, wenn man sich vorstellt, was man sich für 17,50 DM leisten kann.
Dann reden wir darüber, ob das zuviel sei und ob die Sozialhilfeempfänger sich nicht auch ein bißchen an dem allgemeinen Sparprogramm beteiligen könnten. Wenn Ministerpräsident Schröder gesagt hat, daß es keine Zuwächse mehr zu verteilen gebe, dann fallen mir andere Bereiche ein, wo ich die Zuwächse herabschneiden könnte. Aber wo nichts vorhanden ist, Herr Seehofer, kann ich nichts mehr wegnehmen.
Falsche Botschaft Nummer zwei. Mit dem Lohnabstandsgebot wird immer herumgewedelt. Das fing damals an, als für das BSHG noch das Familienministerium zuständig war und als es darum ging, Einschneidungen in der Sozialhilfe vorzunehmen. Damals wurde uns pausenlos erzählt, daß das Lohnabstandsgebot nicht mehr eingehalten würde.
Nachdem wir nachgefragt haben, auf welchen Erkenntnissen das beruhe, wurde schließlich eine Studie in Auftrag gegeben. Ich nehme an, daß Sie die Studie kennen. Sie beweist, daß das Abstandsgebot in der überwiegenden Zahl aller Fälle eingehalten wird und daß es nur in bestimmten Konstellationen bei Familien mit mehreren Kindern Überschneidungen gibt.
- Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage beantworten.