Sie haben zur Zeit Grund zum Lächeln.
Es ist leider auch wahr: Einige wenige von uns haben Ihnen einen außerordentlich bequemen Sommer verschafft.
Freilich - ich weiß, das wird ja kommen, und es kam ja auch schon -: Gönnerhafte Ratschläge in der Attitüde des Besorgten,
wahrscheinlich geboren aus der Erinnerung, das würde bei mir dieselbe Wirkung haben wie die Bleichlautenden Ratschläge von Helmut Schmidt an Sie,
werden uns nicht weiterhelfen, und sie werden vor allen Dingen eines nicht verdecken, nämlich daß diese Bundesregierung die falschen Prioritäten setzt.
- Mit Ihrem Lachen bestätigen Sie: Es ist ja durchaus nicht als Hilfe gemeint. Wie wollte man das auch erwarten?
Viel wichtiger scheint mir zu sein, daß eine Debatte in Deutschland, wenn sie politisch fruchtbar sein soll, sich auf den Zustand der Politik, auf die Erwartung der Menschen, auf ihre Hoffnungen angesichts schwerer sozialer Bedrängnisse konzentrieren sollte, statt sich in vordergründigen Personalkleinigkeiten zu erschöpfen,
und das alles in einer Situation, in der ja ohnehin viel zu viele fragen, ob die Bundesregierung oder das Parlament überhaupt noch gestalten kann, was gestaltet werden soll. Und so ganz von der Hand zu weisen ist diese Frage ja nicht.
Die Versenkung der Ölplattform „Brent Spar" ist ja nicht durch kluges politisches Handeln, durch entschlossenes Eingreifen der Regierungen verhindert worden, sondern durch die Entfaltung von Verbrauchermacht durch die vielen verantwortungsbewußten Bürgerinnen und Bürger.
Die umweltbewußte Erneuerung unseres Landes folgt ja nicht der klugen Zielsetzung der Regierung, sondern ist häufig nichts anderes als das Ergebnis von großem Druck innerhalb der Bevölkerung. Auch insofern ist z. B. die Entscheidung über die Ozongesetzgebung eher eine Niederlage als ein politischer Fortschritt.
Die Bekämpfung rechtsradikaler Gewalttaten ist politisch entschlossen erst dadurch zustande gekommen, daß viele hunderttausend Bürgerinnen und Bürger in diesem Land sich engagiert haben, bei Lichterketten, in praktischer Solidarität mit den Men-
Rudolf Scharping
schen. Vieles andere, was an Fortschritt in Deutschland durchgesetzt wird, ist nur wegen des konsequenten zivilen Engagements vieler Bürgerinnen und Bürger durchsetzbar.
Deshalb scheint es mir fruchtbarer zu sein, über die Erwartungen zu reden, die in diesem Engagement stecken, und über die Antworten, die die Bundesregierung verweigert - Antworten auf fünf zentrale Fragen unseres Landes.
Erstens. Können wir überhaupt noch den Lebensstandort Deutschland mit einer kräftigen Wirtschaft und der Fähigkeit, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sichern? Das ist und bleibt die Priorität Nummer eins sozialdemokratischer Politik.
Zweitens. Haben wir angesichts des globalisierten Wettbewerbs noch die Chance, wirtschaftliche Kraft so einzusetzen, daß den Schwächeren solidarisch geholfen wird, oder müssen wir unter den Bedingungen des internationalen Wettbewerbs tatsächlich jedes soziale Recht und jede soziale Schranke gefährden?
Drittens. Haben wir noch die Chance, umweltbewußt unser gesamtes Leben, nicht nur unser Wirtschaften, zu gestalten und damit Vorsorge für die Zukunft zu treffen?
Viertens: Welche Möglichkeiten bietet der Staat für Mitbestimmung, Partizipation, für die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die alltäglich beweisen, daß sie an den Belangen des Gemeinwesens stärker interessiert sind, als die modische Rede von der Politikverdrossenheit nahelegt?
Und nicht zuletzt: Welche Chancen haben wir, sozialen Frieden im Inneren mit Engagement für den Frieden insgesamt zu verbinden?
Eine Politik, die solche Fragen aufgreift, Entwicklungen ermöglicht, Engagement fördert, wäre zukunftsträchtig. Herr Bundeskanzler, Ihre Politik ist nicht mehr zukunftsträchtig, sie ist nach hinten gewandt.
Wir wissen alle: In diesem Land leben viele Menschen noch sicher mit einer enormen beruflichen Leistung, mit gesicherten Einkommen. Aber angesichts dieser durchaus begrüßenswerten Situation zu vergessen, daß es viele andere gibt, die zunehmend stärker von der gleichberechtigten Teilhabe an dieser Entwicklung ausgeschlossen werden, angesichts dieses Zustandes sogar zu sagen, das sei keine neue Nachricht mehr, das halte ich für einen sozialen Zynismus, den kein verantwortungsbewußter Mensch vertreten kann.
Die Zahlen sind hier oft genannt worden. Es geht aber nicht um die Zahlen, sondern um die Schicksale von Menschen, die damit verbunden sind. Wie soll eine Wirtschaftspolitik glaubwürdig vermittelt werden, wenn sie keine Antwort mehr darauf geben will, daß 3,7 Millionen Menschen keine Arbeit haben? Welche Perspektive ergibt sich aus den Entscheidungen der Bundesregierung bei der Arbeitslosenhilfe und bei vielen anderen Maßnahmen für die Menschen, die 51, 52 Jahre alt sind und ihren Arbeitsplatz nicht aus persönlichen Gründen verlassen müssen, sondern weil ihr Betrieb oder Teile davon geschlossen werden?
Wer so kaltherzig mit Menschen umgeht, darf sich nicht wundern, wenn daraus Enttäuschung, Resignation, irgendwann Protest und Zorn entstehen.
Wer hinter den Zahlen noch die Menschen sieht, der wird sich über die Unverfrorenheit wundern, mit der die Koalition und einige ihrer Vertreter sich im Sommer dieses Themas zugewendet haben. Da ist von der Aufweichung des Kündigungsschutzes, von der Kürzung der Lohnfortzahlung, von der Reduzierung sozialer Hilfe, von der alleinigen Belastung der Arbeitnehmer mit den steigenden Kosten in der Krankenversicherung geredet worden. Es ist davon gesprochen worden, die Tarifautonomie, also das Grundgesetz, sei nicht mehr zeitgemäß. Manche haben nach dem Samstag als einem normalen Werktag gerufen.
Ich weiß wohl, diese Regierung, diese Koalition versucht, den Eindruck zu erwecken: Alles, was bei uns debattiert wird, ist zweitrangig; wichtig wird es erst dann, wenn sich der Bundeskanzler damit beschäftigt.
Also fordere ich Sie auf, Herr Kohl, hier in diesem Hause einmal zu sagen - und zwar etwas schneller als beim Schürmann-Bau; da hat es 600 Tage gedauert -:
Soll das wirklich so weitergehen? Sind Sie dafür, daß der Kündigungsschutz aufgeweicht wird? Sind Sie dafür, daß die Lohnfortzahlung gekürzt wird? Sind Sie für die Reduzierung sozialer Leistungen? Halten Sie die Tarifautonomie nicht mehr für zeitgemäß? Wollen Sie, daß die Arbeitnehmer den Samstag wieder als Werktag erfahren?
Wenn Sie sich den Schuh schnüren, daß nur entscheidend ist, was der Kanzler in dieser Koalition sagt und entscheidet, dann müssen Sie auch Rede
Rudolf Scharping
und Antwort dazu stehen, was Sie zu diesen Vorschlägen des sozialen Abbaus sagen.
Es ist gut und richtig, wenn Sie sich für die europäische Integration engagieren; das respektieren und anerkennen wir. Es ist gut und richtig, wenn Sie sich für den Nahen Osten engagieren und dort eine kluge Politik betreiben. Es ist gut und richtig, wenn Sie den Versuch machen, das deutsch-französische Verhältnis zu verbessern - obwohl nach unserer Auffassung der Versuch nicht sonderlich gut gelingt. Noch besser wäre es, eine transatlantische Agenda zu formulieren.
Aber, Herr Bundeskanzler, nur auf die Position im Ausland - so wichtig sie sein mag - zu setzen, das reicht angesichts der enormen Schwierigkeiten unseres Landes nicht mehr aus. Hier sind Hausaufgaben zu machen.
Wenn uns gesagt wird, das alles sei notwendig, um die wirtschaftlichen Grundlagen zu befestigen, dann antworten wir Ihnen: Sie bekämpfen nicht mehr die Arbeitslosigkeit, Sie mißbrauchen sie als Rammbock gegen den sozialen Frieden.
Was haben Sie uns denn alles versprochen: Wenn nur anständig dereguliert werde, dann ginge es schon voran. Die Beispiele dafür sind Legion: Im Mietenrecht müsse man nur zur anständigen Deregulierung kommen;. dann wären mehr Wohnungen zu preiswerten Mieten da. Das Gegenteil ist eingetreten: Wir haben weit über zwei Millionen Wohnungssuchende in Deutschland. In Ballungsräumen ist es für einen Normalverdiener kaum mehr möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Gleichzeitig kürzen Sie das Wohngeld.
Sie haben uns gesagt: Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt, private Arbeitsvermittlung. Während des Sommers ist ein Bericht dazu gekommen. Was ist denn daraus geworden?
Nicht einmal Peanuts sind dabei entstanden.
Ihre Deregulierungspolitik zu Lasten der sozialen Sicherheit und zu Lasten des sozialen Friedens hat die Spirale nach unten immer stärker in Gang gesetzt. Sie hat nicht den gemeinsamen Vorteil, die gemeinsame Entwicklung, den gemeinsamen Wohlstand und die gleichberechtigte Teilhabe gefördert, sondern die soziale Erosion und die Spaltung von Lebensmöglichkeiten vorangebracht.
Früher wurde das einmal andersherum gesagt. Heute muß man den Eindruck haben: Sie wollen die Lebensrisiken der Menschen vollständig privatisieren und die unternehmerischen Risiken immer stärker sozialisieren. Soll das wirklich so weitergehen?
Wir halten dagegen: Der soziale Friede ist kein bürokratisches Kunstprodukt. Er ist ein stabiler Anker unserer Gesellschaft und ein unverzichtbarer Faktor für wirtschaftlichen Erfolg.
Ludwig Erhard wußte das, Konrad Adenauer akzeptierte es, Helmut Kohl ignoriert es.
Herr Rexrodt kann es nicht ignorieren; er hat es nie gewußt.
Ludwig Erhard schrieb: Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte; es ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.
Wo ist der Segen, wo ist der Nutzen bei gekürzter Lohnfortzahlung? Wo ist der Segen bei der Aufweichung des Kündigungsschutzes, wo der Nutzen bei der Verabschiedung von der Tarifautonomie? Sie haben sich schon lange von der Sozialen Marktwirtschaft, von den Ideen Ludwig Erhards, verabschiedet. Ihre Praxis ist genau entgegengesetzt.
Täuschen Sie sich nicht: Wenn Ruhe herrscht, dann hat das nichts mit Frieden, sondern eher viel mit Resignation zu tun.
Es hat viel mit dem Gefühl der Menschen zu tun, daß es bei den Regierenden gar nicht mehr ankommt, daß sie überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen, wie die Wirklichkeit in Deutschland aussieht.
Das hat durchaus seine praktischen Seiten. Wenn in diesem Jahr die Renten um kümmerliche 0,61 % steigen, dann ist das auch die Frucht einer Politik, die die Arbeitslosigkeit nicht mehr bekämpft und die Einkommen der Arbeitnehmer immer stärker mit Steuern und Abgaben belastet hat.
Rudolf Scharping
Wenn die Steuern immer noch und trotz des Jahressteuergesetzes 1996 steigen, dann muß man sich einmal Ihre Debatte über den Solidaritätszuschlag anschauen. Ich schicke eines voraus: Der Transfer in den Osten Deutschlands ist und bleibt auf absehbare Zeit notwendig.
In den letzten fünf Jahren wurden rund 1 000 Milliarden DM in den Osten Deutschlands transferiert, davon 750 Milliarden DM im Sinne eines sozialen Transfers und nur 250 Milliarden DM für Investitionen bei Unternehmen oder in die Infrastruktur.
Eine ordnungspolitisch saubere Entscheidung hätte bedeutet, die Investitionen verantwortbar durch Kredite zu finanzieren und damit eine Zukunftsaufgabe zu lösen, den sozialen Transfer jedoch nicht durch Schulden und schon gar nicht durch eine einseitige Belastung der Sozialversicherung zu finanzieren.
Da hat Ihnen aber der Mut gefehlt. Wir reden ja nicht nur über einen Haushalt für das Jahr 1996, sondern über Fragen einer langfristig angelegten Politik.
Herr Bundeskanzler, wie erklären Sie uns denn die Debatte in Ihrer Koalition über den Solidaritätszuschlag, bei der die einen von 1997 reden, die anderen von 1998, die nächsten meinen: Das geht gar nicht! und der Rest sagt: Vielleicht in zehn Jahren!, während Sie selbst im Deutschen Bundestag eine mittelfristige Finanzplanung vorlegen, in der in bezug auf dieses Thema bis 1999 kein einziges Wort, geschweige denn eine Zahl steht?
Also erwarten wir von Ihnen hier eine klare Äußerung zu diesem Thema, denn es kann nicht sein, daß jede Gruppe in dieser Koalition vermeintlich die eine oder andere Klientel bedient, der Bundeskanzler sich selbstgefällig zurücklehnt, freundlich lächelt und sagt: Na wartet, irgendwann sage ich euch schon, was gilt. Hier und heute wollen wir wissen, was im Zusammenhang mit dem Solidaritätszuschlag gilt.
Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf die Antwort zu einer anderen Frage. Es ist wahr: Der Sozialstaat kann auf Dauer nur behauptet werden, wenn er modernisiert wird. Er kann noch besser behauptet werden, wenn das gemeinsam in Europa geschieht. Sind Sie denn bereit, die notwendige Modernisierung voranzubringen, wenigstens dem zu folgen, was auch innerhalb Ihrer Koalition diskutiert wird?
Manches wird ja nicht dadurch zur Nachricht, daß der eine oder andere etwas sagt, sondern dadurch, daß es in seinem „Laden" als etwas scheinbar Neues gilt oder gegen jemand anders gerichtet ist.
Da schreibt der Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm am 31. August 1995 an die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im übrigen sei zu beachten, daß eine auf die Rückführung der Staatsquote gerichtete Politik gefährdet ist, wenn die sozialen Sicherungssysteme zielwidrig genutzt werden. Und etwas später: Gleichermaßen von Wirtschaft und öffentlicher Hand sind intelligentere personalpolitische Strategien gefordert, die nicht die Verschrottung von Humankapital bei Privatisierung, Beförderungsstau, Unternehmenszusammenschlüssen und Rationalisierungsvorhaben als alleinige Lösung vorsehen.
Eine so klare Bestätigung langjährig formulierter sozialdemokratischer Politik habe ich aus den Reihen der Regierung noch selten gehört. Nur: Was tun Sie denn, um diesen Weg zu ändern?
Ganz am Ende seines Briefes schreibt Norbert Blüm:
Anders sind dagegen die Effekte strukturell sich ändernder Abgabenbelastungen auf Unternehmen und Arbeitnehmer zu bewerten. Dies gilt um so mehr, wenn gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Dadurch steigen für die Unternehmen die Arbeitskosten. Zunehmend werden die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer zum Teil unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit belastet.
Wann zieht die Bundesregierung, wann ziehen Sie, Herr Bundeskanzler, endlich den dringend notwendigen Schluß, den wir seit langem vorschlagen? Er lautet: Entlastet endlich die Arbeit von Kosten, die dort nicht hingehören, und beteiligt alle an der gemeinsamen Aufgabe, nicht nur die Arbeitnehmer und die Arbeitsplätze!
Es ist doch, Herr Bundeskanzler, nicht der Sozialstaat zu teuer. Diesem Land kommt Ihre Unfähigkeit zu teuer, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.
Bei aller Notwendigkeit der Modernisierung sozialstaatlicher Strukturen fehlt einem Land, das jeden Tag über 380 Millionen DM aufwendet, um Arbeitslosigkeit zu finanzieren, nicht das Geld; ihm fehlt es auch nicht an Arbeit. Dieser Bundesregierung fehlt es an Mut, Kreativität und Phantasie, das Krebsübel anzugehen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der
Rudolf Scharping
Bundeskanzler, der sich nur selbstgefällig und lächelnd zurücklehnt, versäumt seine wichtigste innenpolitische, gesellschaftspolitische Aufgabe, wenn er dazu nicht einen klaren Kurs vorgibt.
Jawohl, wir reden über lange Linien der Politik, nicht nur über den Haushalt 1996. Ich erinnere Sie, Herr Bundeskanzler, an Ihren eigenen Anspruch, 1982 formuliert, der auf die Gegenwart angewendet bedeutet: Sie sind der Kanzler der 3,5 Millionen Arbeitslosen. Sie sind der Kanzler der 1 Million Kinder, die mit Sozialhilfe großwerden müssen.
Sie sind der Kanzler der Obdachlosigkeit und vieler anderer Mißstände.
Wenn Ihr eigener Maßstab gilt, dann wenden Sie ihn nicht nur gegen die Sozialdemokratie!
Die Bundesregierung kommt schon wieder zu spät. Herr Blüm schlägt jetzt vor, das Arbeitsförderungsgesetz zu novellieren. Da ist das Stichwort vom sogenannten Marktwert von Arbeitnehmern in die Debatte gekommen. Ich muß Ihnen sagen: Eine kaltherzigere Formulierung habe ich noch selten gehört.
Ich will gar nicht nach dem Marktwert der Regierung fragen. Die Umfragewerte, der Schein, sind zur Zeit wesentlich besser als die Substanz.
- Verehrter Kollege Hörster, Sie wissen doch, daß ich mit solchen Fragen gänzlich unbefangen umgehe.
Ich weiß schon, daß einige in der SPD Ihren Umfragewert deutlich gesteigert und den unseren deutlich gesenkt haben. Das ändert an den substantiellen Unterschieden zwischen Ihrer und unserer Politik nichts und auch nichts daran, daß sich die Umfragewerte wieder den Marktwerten anpassen werden.
Wir wären ja durchaus bereit, mit Herrn Blüm beispielsweise über die Frage zu reden, wie denn eine moderne Arbeitsmarktpolitik aussehen könnte. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt. Das waren im Januar der Vorschlag für eine breit angelegte Anstrengung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und vor wenigen Wochen der Entwurf eines neuen Arbeitsförderungsgesetzes. Die Regierung verharrt und schaut. Sie wartet ab, wie die Vorschläge der Opposition aussehen könnten und ob sie sich darüber zu streiten beginnt, um dann einen Teil dieser Vorschläge zu übernehmen und sich dafür als erfolgreich feiern zu lassen.
So war das mit dem Jahressteuergesetz.
Noch im Frühjahr 1995 hat die Regierung jede Erhöhung des Kindergeldes abgelehnt. Es wird jetzt deutlich erhöht. Damit ist ja nicht nur eine Zahl verbunden, sondern auch die Durchsetzung einer Logik, die wir für die gesamte Modernisierung des Sozialstaates durchsetzen wollen: Die Besteuerung richtet sich nach der Leistungsfähigkeit. Die soziale Leistung der Allgemeinheit für jeden einzelnen Bürger wird frei von Vorteilen aus der Steuerprogression; sie ist unabhängig vom Einkommen; sie wird zielgenau und effektiv eingesetzt. Beim Kindergeld haben wir das für 95 % der Bevölkerung durchgesetzt.
Beim Wohnungsbau übernimmt die Bundesregierung nach jahrelanger Debatte die Vorschläge der Sozialdemokratie, nachdem sie vorher beschimpft, verteufelt und als unsachgemäß abqualifiziert worden sind.
Plötzlich soll es eine einheitliche, progressionsunabhängige Förderung geben. Herr Bundeskanzler, man kann Sie und Ihre Regierung durchaus zu dieser Einsicht beglückwünschen. Ärgerlich bleibt, daß die zukunftsgewandten Einsichten bei Ihnen durch einen jahrelangen Prozeß gemangelt werden müssen und deswegen vieles nicht rechtzeitig und nicht zielbewußt geschieht, sondern zögerlich und verspätet.
Ich bin übrigens ganz sicher: Der Kollege Rüttgers wird noch häufiger darüber nachdenken, ob es nicht klug wäre, den Vorschlag der Sozialdemokratie zu übernehmen, die Ausbildungsförderung unabhängig vom Einkommen und direkt an jene zu geben, die in ihrer Ausbildung gefördert werden.
Bei diesem Thema will ich etwas zu den Jüngeren in Deutschland sagen. Sie hatten versprochen, jeder werde einen Ausbildungsplatz bekommen. Sie haben sich mit der Wirtschaft zusammengesetzt und eine Trendumkehr verkündet. Dann haben Sie wirklich im allerletzten Moment, am 1. September, für den Osten Deutschlands ein Notprogramm, ein dringend notwendiges Programm, verkündet. Tatsache ist jedoch, daß eine unverantwortlich große Zahl junger Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz bleibt und daß sich dieses Spiel Jahr für Jahr wiederholt. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, nicht endlich bereit sind, von den schönen Runden der Erörterung mit irgendwelchen wichtigen - das will ich nicht bestreiten - Verbandsfunktionären der deutschen Wirtschaft zur Tat zu schreiten, nicht jedes Jahr dieses Theater zu wiederholen, dann werden junge Menschen enttäuscht und frustriert
Rudolf Scharping
bleiben. Wie soll ein junger Mensch dieses Gemeinwesen als den Ort für soziale Sicherheit, der Entfaltung seiner eigenen Leistung, seiner persönlichen Fähigkeiten wahrnehmen, wenn wir zigtausenden Jugendlichen am Ende ihres Schülerdaseins signalisieren: Jetzt müßt ihr 100 Bewerbungen schreiben, und dann habt ihr immer noch keine Gewißheit, daß ihr Ausbildung und Sicherheit für die Zukunft erhaltet? Das ist ein unwürdiges, die Jugend belastendes Spiel.
Was große Industrieunternehmen tun - nicht alle, beispielsweise nicht die der chemischen Industrie, wo das übrigens tarifvertraglich gesichert worden ist -, mag einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung standhalten, den langfristigen, gemeinsamen Nutzen, den gemeinsamen Fortschritt, den gemeinsamen Wohlstand aus gemeinsam erarbeiteter wirtschaftlicher Kraft hat es nicht im Auge. Wer in dieser Situation das humanitäre Engagement von Jugendlichen übersieht, einen Keil treibt zwischen Wehrpflichtigen, die einen Dienst für die Allgemeinheit tun, und Zivildienstleistenden, die auch einen Dienst für die Allgemeinheit tun, der begeht einen groben Fehler. Das sind keine Egoisten, sondern Menschen, die helfen wollen.
Also schlagen wir Ihnen vor: ein neues Arbeitsförderungsgesetz, das die Verantwortung der Tarifpartner steigert, Gemeinden und andere mit einbezieht; eine Reform der Sozialhilfe, die die Nachrangigkeit der Sozialhilfe betont und klarmacht, daß sich ein Leben aus Arbeitseinkommen auch finanziell mehr lohnt als das Leben aus einem sozialen Transfer;
eine Änderung der Ausbildungsförderung, die progressionsabhängige Tatbestände beseitigt und jedem Auszubildenden einen gleichen Förderbetrag zur Verfügung stellt, das andere Notwendige als Darlehen obendrauf.
Also schlagen wir Ihnen vor, für die Zukunft zu beachten, das, was uns im Jahressteuergesetz - uns in der SPD ja übrigens auch - Schwierigkeiten gemacht hat, nämlich das Bund-Länder-Verhältnis, nicht überzustrapazieren und aufzuhören mit einer Politik, die den Ärger und den Frust über den März 1993, den Solidarpakt und das Föderale Konsolidierungskonzept,
jetzt in immer neuen Volten abzureagieren versucht
zu Lasten der finanziellen Kraft der Länder und Gemeinden. Im übrigen: Verlangen Sie nicht immer Beweglichkeit von den Bürgerinnen und Bürgern, werden Sie selbst einmal etwas beweglicher!
Das gilt auch für Wirtschaft und ökologische Erneuerung. Die Lohnnebenkosten in Deutschland sind eindeutig zu hoch. Das ist aber nur ein Element einer klaren ordnungspolitischen Entscheidung, die getroffen werden muß. Beim Stichwort Ordnungspolitik fällt mir auf, daß der Kollege Lambsdorff eine klare Ordnungspolitik formuliert - aber eine aus unserer Sicht falsche -,
während der Bundeswirtschaftsminister nur formuliert, weder klar noch ordnungspolitisch.
Das erste, was erreicht werden muß, ist diese ordnungspolitische Grundentscheidung: Die Belastung der Arbeitsplätze und der Arbeitseinkommen in Deutschland ist zu hoch. Das schädigt Freiheit und Verantwortungsbewußtsein der betroffenen Menschen. Es ist ganz eindeutig eine zu große Belastung für die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber. Wer die Arbeitskosten durch Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entlastet, entlastet nicht nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, die Unternehmen, sondern er entlastet auch die Tarifpolitik. Ich sage Ihnen voraus, daß wir auch diese Entlastung in den nächsten Jahren dringend brauchen werden.
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, alle versicherungsfremden Leistungen aus der Sozialversicherung herauszunehmen und sie allgemein, und zwar auch mit Blick auf die notwendige, umweltbewußte Modernisierung unseres Lebens und Wirtschaftens, zu finanzieren. Diese zusätzliche Antriebskraft für Rationalisierung muß weg. Der Nachteil für lohn- und beschäftigungsintensive Betriebe - namentlich in Handwerk und Mittelstand - muß weg.
Wir stimmen ausdrücklich zu, wenn Herr Blüm davon redet, daß die „Verschrottung von Humankapital" ein Ende haben muß.
Kluge Manager und Unternehmer wissen: Der größte Standortvorteil Deutschlands liegt in der Qualifikation, dem Können, der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Ingenieure, der Selbständigen. In dieses Kapital haben wir am meisten investiert. Es ist ein grober wirtschaftspolitischer Fehler - übrigens auch eine menschliche Unanständigkeit; so empfinde ich es jedenfalls -, den Jüngeren den Eintritt in das Berufsleben zu erschweren und die Älteren mit 50 oder 52 Jahren entweder über Sozialpläne oder - schlimmer noch - über Arbeitslosigkeit hinauszuwerfen und nicht nach Methoden zu suchen, wie Arbeit in Deutschland wettbewerbsfähiger gemacht werden kann. Das hat die unangenehme Antwort zur Folge, daß der Konsum verteuert werden muß, vor allem dann, wenn er zu Lasten der Umwelt geht.
Rudolf Scharping
Sie, Herr Bundeskanzler, waren 1990 nicht in der Lage, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, nämlich daß der Aufbau in Deutschland von allen gemeinsam geleistet werden muß. Sie haben mit den dafür erforderlichen Mitteln die Sozialkassen belastet und die Verschuldung erhöht. Sie sind auch heute nicht in der Lage, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, nämlich daß die Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze nicht die Demontage des Sozialstaates voraussetzt, wohl aber eine gemeinsame Anstrengung, die auch von allen gemeinsam finanziert werden muß.
Was also, Herr Bundeskanzler, sagen Sie zu den Vorschlägen Ihres Arbeitsministers? Sind Sie bereit, der „Verschrottung von Humankapital" ein Ende zu bereiten? Sind Sie bereit, die Arbeitsplätze von Kosten zu entlasten? Sind Sie bereit - auch im Interesse der Rentnerinnen und Rentner -, die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer zu steigern? Sind Sie bereit, die daraus notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen und für den Verbrauch von Umwelt und Natur endlich den Preis zugrunde zu legen, der der Wahrheit und nicht irgendeiner betriebswirtschaftlichen Fiktion entspricht? Wenn Sie zu dieser klaren ordnungspolitischen Entscheidung fähig sind, dann werden wir Sie loben; Ihre bisherige Haltung war leider - -
- Was haben Sie, Herr Gerhardt, eigentlich dagegen, daß es in den Grundfragen unserer wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen politischen Entwicklung den Versuch der Gemeinsamkeit gibt? Es ist doch nicht so, daß das an unserem guten Willen oder an unseren Vorschlägen scheitert. Sie haben sich mittlerweile ideologisch doch so verrannt, daß Sie nur noch den sozialen Frieden und den Sozialstaat im Auge haben, aber nicht mehr in der Lage sind, sorgfältig und zukunftsweisend zu verknüpfen, was zusammengehört, nämlich wirtschaftliche, soziale und umweltbewußte Entwicklung.
Wenn Sie bereit sind, auf der Grundlage einer solchen - ordnungspolitisch klaren - Entscheidung eine weitere zu treffen, dann könnten wir auch hier zu gemeinsamen Positionen kommen, obwohl ich da nicht sehr optimistisch bin.
Es ist genauso klar, daß eine ordnungspolitisch und damit auch wirtschaftspolitisch saubere Linie die Senkung und die Umstrukturierung der Steuerbelastung für Unternehmen erfordert. Nominell kann das geschehen, indem viele Einzelregelungen des Steuerrechts beseitigt werden. Das würde jedenfalls ein wichtiges psychologisches Hindernis für ausländische Investoren beseitigen.
Tatsächlich brauchen wir aber die Konzentration auf drei große Zukunftsfelder, Felder, auf denen sich entscheiden wird, ob die deutsche Volkswirtschaft dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben kann: Investitionen als erstes, vor allen Dingen dann, wenn sie einen Umweltnutzen versprechen, Forschung und Entwicklung als zweites und Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung als drittes.
Der Staat kann nicht unternehmerische Initiative ersetzen. Er kann nicht Innovation in den Unternehmen schaffen, aber er kann dafür sorgen, daß für diese Initiative, für diese Innovation ein fester Rahmen da ist, einer, der auch für die Zukunft verläßlich gilt.
Die Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung, das Hin und Her bei der Körperschaftsteuer, beim Solidaritätszuschlag, bei der Abschaffung des Meister-BAföG und seiner Wiedereinführung, bei der Streichung der Erfindervergütung - für die bisher noch kein Ersatz geschaffen wurde - hat nur eines bewirkt: Die Innovationskraft wird nicht gefördert, die Risikobereitschaft eher gemindert.
In den Unternehmen gibt es reichlich Menschen, kluge, verantwortungsbewußte Unternehmer und Manager, die genau das einklagen, was ich hier gerade eingeklagt habe: Wo ist die klare, wirtschaftspolitische Orientierung, die Verläßlichkeit für unternehmerische Initiative und Innovation bietet?
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Branchendialoge, wie sie Herr Rexrodt führt, ersetzen diese wirtschaftspolitische Initiative nicht. Das dicke Brett muß auch gebohrt werden, nicht nur die „dünnen Dinger" .
Wenn Sie dann den Druck von den Arbeitsplätzen zwar nicht nehmen, aber mindern und für eine klare Orientierung sorgen, für eine Umstrukturierung und damit für die Chance einer allmählichen Senkung der Unternehmensbesteuerung, dann hätten wir noch eine weitere Sache miteinander zu besprechen: Was sind die Zukunftsfelder wirtschaftlicher Entwicklung? Normalerweise müßte eine Bundesregierung, die 330 Millionen DM zusätzlich für wehrtechnische Erprobungen in den Haushalt einstellt, sofort mit einer Initiative im Deutschen Bundestag sein und sagen: Es darf nicht geschehen, daß der letzte größere Hersteller von Solarzellen dieses Land verläßt und wir damit den Anschluß an eine entscheidende Zukunftstechnik verlieren.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einmal gesagt, Sie fühlten sich wie ein Förster.
Man müsse heute vieles tun, dessen Ertrag erst in den nächsten 70, 80 Jahren - meinetwegen auch in etwas kürzeren Fristen - zu sehen sei. - Wenn das wahr ist, dann würde ich doch anraten: Legen Sie
Rudolf Scharping
einmal diese gefällige, sich selbst bescheinende, sich wohlfühlende Attitüde zur Seite und kümmern Sie sich wieder entschlossen um die Entwicklung, die in Deutschland stattfindet!
Kümmern Sie sich entschlossen um die Zukunftsfelder der wirtschaftlichen Entwicklung wie den Umstieg in eine Energieversorgung, die umweltverträgliche Energiearten endlich nutzt, die Wachstum ermöglicht, das Probleme löst, statt neue Probleme zu schaffen!
So wie die Sozialstaatlichkeit dem wirtschaftlichen Fortschritt Sinn und Richtung gegeben hat, so wird in Zukunft nur die Verbindung aus sozialer und ökologischer Entwicklung dem Wirtschaften Sinn und Richtung geben.
Der Generationenvertrag wird ein doppelter. Er hat seine soziale und notwendigerweise auch seine ökologische Seite: klare Ordnungspolitik, Ermunterung von Risikobereitschaft und Leistungswillen, Anschluß an Zukunftsfelder, an Zukunftstechnologien und schließlichaktive Arbeitsmarktpolitik. So wie ich den französischen Präsidenten wegen seiner Entscheidung, Atomwaffentests wiederaufzunehmen, kritisiere, stelle ich genauso fest: In Frankreich beispielsweise hat eine konservative Regierung den Stellenwert aktiver Arbeitsmarktpolitik wesentlich besser begriffen als die Bundesregierung hier in Deutschland.
Wenn Sie schon darüber nachdenken, wie aktive Arbeitspolitik aussehen könnte - wir warten gespannt auf die Vorlage eines neuen Arbeitsförderungsgesetzes -, dann bleibt noch ein Hinweis: Es hat im Sommer eine Debatte über den Ladenschluß gegeben, als sei das die zentrale Frage der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes. Ich will nicht bestreiten: Mit Lebensqualität und anderem mag das hier und da etwas zu tun haben. Dennoch ist sorgfältig zu prüfen: Für wen eigentlich hat das mit Lebensqualität zu tun?
Manches könnte man viel unbefangener besprechen, wenn sich der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht nur hier hinstellte und monierte - wie häufig geschehen -, wir hingen bei den Teilzeitarbeitsplätzen nach, manches auf dem Arbeitsmarkt könnte besser sein, wenn mehr Teilzeitmöglichkeiten angeboten würden; dann wird der Hinweis auf die Niederlande gegeben und anderes mehr. Herr Bundeskanzler, solange Sie eine Gesetzgebung dulden, die den Unternehmen die Möglichkeit bietet, ganz schmale Stammbelegschaften zu beschäftigen und über 4 Millionen Frauen ohne jede soziale Sicherheit daneben einzusetzen, werden keine Teilzeitarbeitsplätze entstehen, weil gar kein ökonomischer Anreiz dafür da ist, wenn diese Möglichkeit der Ausbeutung so bleibt, wie sie ist. Und es ist Ausbeutung!
Die Politik der Bundesregierung mehrt den allgemeinen Nutzen nicht. Der Bundesfinanzminister sagt, er wolle sparen und Steuern senken, „symmetrische Finanzpolitik". Das hört sich gut an. Der Haushalt enthält hier - mit Ausnahme der durch das Jahressteuergesetz erzwungenen Möglichkeiten - nichts, die mittelfristige Finanzplanung schon gar nicht.
Die Wirtschaft unseres Landes ist leistungsfähig, aber sie ist in ihrer Leistungsfähigkeit auch gefährdet. Gerade gestern sind von dem Davoser Forum Zahlen dazu veröffentlicht worden, und sie machen wie viele andere Studien deutlich: Das größte Problem unserer wirtschaftlichen Entwicklung ist die Belastung von Arbeitsplätzen mit Kosten, die ihnen nicht zugerechnet werden dürften, und der Unwille im Management, sich auf flexible Lösungen einzulassen. Flexibilität, die von den Arbeitnehmern gefordert wird, wird von diesen längst erbracht. Flexible Arbeitszeitmodelle gibt es reichlich. Man wird den Tarifpartnern Unterstützung signalisieren müssen, wenn sie diesen Weg fortsetzen wollen.
Dazu gehören Lebensarbeitszeitkonten, dazu gehört variable Wochenarbeitszeit, dazu gehört aber nicht eine Politik, die den Arbeitnehmern signalisiert, daß ihre Bereitschaft zur Flexibilisierung und zum sorgfältigen Umgang mit den eigenen Arbeitsplätzen von der Politik noch dadurch bestraft wird, daß die Lohnnebenkosten zu hoch bleiben und gleichzeitig der soziale Frieden demontiert wird.
Der Samstag wird kein Werktag, hoffen wir alle. Wenn Politik signalisiert, daß die Bereitschaft zur Verantwortung, zum flexiblen Handeln in den einzelnen Unternehmen nicht flankiert und unterstützt wird, sondern mit Abbau des sozialen Staates, des sozialen Friedens beantwortet wird, dann werden Sie diese Bereitschaft zur Verantwortung hemmen, anstatt sie zu fördern.
Herr Bundeskanzler, wir erwarten von Ihnen Antwort auf Fragen der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen, der sozialen und der inneren Entwicklung unseres Landes, Antworten, die die Grundlagen des sozialen Friedens, die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sowie eine dauerhafte, nachhaltige und für die Zukunft tragfähige Entwicklung betreffen.
Der Haushalt, den Sie uns vorgelegt haben, ist Ausdruck einer Falle. Er verschärft einen risikoreichen Trend. Es liegt ihm keine klare Ordnungspolitik, schon gar nicht Mut zugrunde. Es fehlt ihm und dieser Bundesregierung folglich damit auch die Fähigkeit, schwierige, im Zweifel auch belastende Einzelentscheidungen zu begründen. Die Falle, in die Sie uns über Jahre hinweg manövriert haben, besteht haushaltspolitisch aus steigender Zinsbelastung, steigenden zwangsweisen Verpflichtungen
Rudolf Scharping
und sinkenden Investitionen - allein im Haushalt 1996 um über 5 Milliarden DM, was faktisch bedeutet, zwischen 130 000 und 150 000 Arbeitsplätze zusätzlich aufzugeben.
Der Haushalt, wie er uns für 1996 vorliegt, ist Ergebnis einer längeren Entwicklung. Er ist kein Zeichen der Korrektur,
weder mit Blick auf den sozialen Frieden noch mit Blick auf eine klare Ordnungspolitik, die zu Innovation, Leistung und Risikobereitschaft ermuntert. Er ist auch keine Korrektur hinsichtlich der Umweltpolitik. Im Gegenteil: Er ist Ergebnis mangelnden Mutes und mangelnder Zukunftsvorsorge.
Wir rechnen, Herr Bundeskanzler, nicht damit, daß Sie in Ihrer Rede heute in irgendeiner Weise Korrektur andeuten könnten. Wir rechnen auch nicht damit, daß Sie auf die zentralen Fragen, auch auf die inneren Widersprüche Ihrer Koalition, Antwort geben. Wir rechnen damit, daß das - so wie in vielen Fällen - eher eine Debatte wird, die sich an Vordergründigkeiten festhält. -
Wir haben Ihnen dazu durch die Art und Weise, wie manchmal auch in meiner Partei diskutiert wird, das eine oder andere vordergründige Stichwort geliefert. - Was wir allerdings erwarten, ist, daß Sie sich der Auseinandersetzung darüber stellen, daß wirtschaftliche Leistung gefördert und Risikobereitschaft ermuntert wird. Wir erwarten, daß Sie sich der Auseinandersetzung darüber stellen, daß eine klare Ordnungspolitik verfolgt und die Fähigkeit der Bundesregierung zur Begleitung von Initiative sowohl in der Bevölkerung als auch in den Unternehmen wieder gestärkt wird. Sonst führen wir eine Debatte, die sich an den personalpolitischen Aufgeregtheiten und Aufmerksamkeiten orientiert. Wichtiger ist die Debatte über die Zukunft unseres Landes.
Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler, sich endlich wieder der Zukunft dieses Landes und den Grundentscheidungen, die zu treffen sind, zu stellen und wenigstens, wenn Sie schon Ihre Politik in den Grundlinien nicht korrigieren, Klarheit darüber zu schaffen, wie Sie mit den einzelnen Vorschlägen und Widersprüchen in Ihrer Koalition umgehen wollen. Dann hätten die Debatte und Ihr Beitrag einen gewissen Ertrag.