Rede von
Elisabeth
Altmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Rüttgers! Geehrte Damen und Herren! Herr Rüttgers, Sie sagten eben, Bildungspolitik habe immer etwas mit Menschen zu tun. Wir wenden uns in dieser Debatte einer Bevölkerungsgruppe zu, die uns allen eigentlich sehr am Herzen liegen sollte und trotzdem selten genug Beachtung findet - den Schülern und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen, jungen Handwerkern und Handwerkerinnen.
Heute wenden wir uns ihrer finanziellen Situation zu. Wie sieht diese 1995 aus? Bereits 1991 ermittelte das Deutsche Studentenwerk als monatlichen Bedarf für Studenten und Studentinnen 1 086 DM. Wenn man dem die durchschnittlichen Förderungssätze des BAföG gegenüberstellt, klafft eine deutliche Lücke. 1992 erhielten Studenten und Studentinnen durchschnittlich weniger als 600 DM in den alten und 500 DM in den neuen Bundesländern. Wie sollen sie eigentlich davon leben können?
Auch die SPD geht in ihrem Gesetzentwurf davon aus. Die tatsächlichen Lebenshaltungskosten sind von 1971 bis 1993 um 125 % gestiegen, die BAföG- Bedarfssätze jedoch nur um 85 %. Da öffnet sich doch eine deutliche Schere. Es sind 40 % Unterschied.
Sie wissen doch, was allein die Miete in Städten wie München, Hamburg, Berlin, Dresden, Bonn oder anderen Großstädten kostet. Unter diesen Bedingungen sind immer mehr Studenten und Studentinnen dazu gezwungen, neben dem Studium einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das führt zu immer längeren Studienzeiten. Damit setzt sich der studienverlängernde Kreislauf einfach fort. Zu wenige Lehrveranstaltungen, übervolle Hochschulen - dies führt zu immer längeren Studienzeiten.
Wie heißt die Antwort der Bundesregierung darauf? Über Strukturreformen Studienzeiten senken. Nur wie? Darauf geben Sie, Herr Rüttgers, keine Antwort.
Ich komme noch einmal auf den Vermittlungsausschuß zu sprechen. Herr Finanzminister Waigel wollte sparen und gab die Devise aus, die dringend notwendige Erhöhung des BAföG passe „nicht in die politische Landschaft", Und dies, obwohl der Zehnte BAföG-Bericht der Bundesregierung feststellte, daß eine mindestens sechsprozentige Anhebung der Bedarfssätze den erhöhten Lebenshaltungskosten Rechnung tragen würde. Ich frage mich, warum da nicht gehandelt wird, Warum werden z. B. die rück fließenden BAföG-Darlehen nicht zur Aufstockung der BAföG-Titel verwendet?
Elisabeth Altmann
Die Regierungsparteien und die SPD-Opposition scheinen sich ja nun nähergekommen zu sein. Über eine vierprozentige Anhebung der BAföG-Bedarfssätze und Freibeträge sind sie sich jetzt einig.
Selbst Peter Glotz, der mit einer zweiprozentigen Erhöhung und Studiengebühren in die Diskussion platzte - -
- Er hat seine Meinung mittlerweile revidiert.
- Okay, ist ja akzeptiert.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten diese Erhöhung jedoch nicht für ausreichend. Wir sprechen uns für eine spürbare Erhöhung der Bedarfssätze aus, vor allem aber für einheitliche Sätze im gesamten Bundesgebiet. BAföG muß wieder als Instrument zur Behebung sozialer Ungleichheiten greifen. Soziale Ungleichheiten zu mildern war das Ziel des BAföG. Es sollte gleiche Bildungschancen eröffnen, nicht aber zusätzliche soziale Härten schaffen. Die unterschiedlichen Darlehensregelungen der 80er und 90er Jahre haben zu gravierenden Ungleichbehandlungen geführt. Insbesondere das Volldarlehen in den 80er Jahren hat zu beträchtlichen Schuldenbergen einzelner geführt.
Die Antwort der Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage macht es deutlich: Mehr als 800 000 Personen stehen mit BAföG-Schulden bei der Bundesregierung in der Kreide. Dies ist mehr, als z. B. Frankfurt Einwohnerinnen und Einwohner hat. Ca. 11 500 Personen sind mit Darlehen in Höhe von mehr als 50 000 DM verschuldet. Die höchste angelaufene BAföG-Schuld liegt gar bei 94 085 DM.
Meine Damen und Herren, der Start in ein Berufsleben, bei dem man Schulden von 30 000, 50 000 oder 100 000 DM vor sich herschieben muß, wiegt schwer. Das sind ausbildungsbedingte Schulden. Hier könnten wir die Situation verbessern, Herr Rüttgers. Wie soll man z. B. eine Familie gründen, wenn beide Partner mehr als 50 000 DM Schulden haben? Dies macht 100 000 DM, die diese Familie irgendwann bezahlen muß. Was ist das für eine Belastung!
Ist dies die gewünschte Form der Familienförderung der Bundesregierung? Dies scheint jedoch weder für die Regierungskoalition noch für die SPD ein nennenswertes Problem zu sein. Die Bundesregierung zerbricht sich statt dessen lieber den Kopf darüber, welche Regelung der Darlehenszurückzahlung dann gelten soll, wenn auch eine Zweitausbildung BAföG-gefördert wird.
Der Vorschlag von Herrn Rüttgers, die BAföG-Förderungshöchstdauer für Ausbildungen an Hochschulen generell zu senken, ist ein Hohn. Eine Förderungshöchstdauer von generell neun Semestern an Universitäten bzw. acht Semestern an Fachhochschulen ist nicht tragbar. Sie entspricht nicht den Realitäten des Studienalltags mit den oftmals sinnlos überfrachteten und aufgeblähten Studienordnungen und Prüfungszeremonien. Wiederum würden notwendige Studienreformen auf dem Rücken der Schwächsten vorgenommen. Zuerst sind Studienreformen zur Entfrachtung dringend notwendig.
Ebensowenig akzeptabel ist es, eine Leistungsüberprüfung nach dem zweiten Semester oder eine Zwangsberatung nach dem zweiten oder dritten Fachsemester durchzuführen, um bei einem Fachrichtungswechsel weiter BAföG zu bekommen. Wo bleibt da die angestrebte Mündigkeit junger Erwachsener. Traut man ihnen selbständige Entscheidungen nicht zu?
Die Quote der Studienfachwechsler, die in den alten Bundesländern bei 20 % liegt, resultiert im wesentlichen aus unzureichenden Beratungsangeboten bei der Aufnahme des Studiums. Die Beratungsangebote bei Beginn des Studiums müssen intensiviert und stark verbessert werden. Das würde dann auch Kosten sparen und Studentinnen und Studenten vor Fehlentscheidungen schützen. Es geht doch wirklich nicht darum, daß einzelne möglichst lange BAföG beziehen wollen, sondern darum, daß unerfahrene Studienanfänger und -anfängerinnen in Studiengänge gedrängt werden, die ihren Neigungen und Fähigkeiten einfach nicht entsprechen.
Auch die fehlenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt machen einen Studienwechsel oft unumgänglich und verlängern die Gesamtstudienzeit. Das jedoch ist ein Problem, welches nicht über das BAföG zu regeln ist. Hier stehen die Politik, die Wirtschaft, wir alle in der Pflicht,
Ich möchte hier auf ein weiteres Problem aufmerksam machen: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß viele Studienabgänger und -abgängerinnen, die keinen Arbeitsplatz finden, ohne jegliche materielle Absicherung dastehen? Kein Kindergeld, keine Sozialhilfe, nur noch der Geldbeutel der Eltern zählt. Was meinen Sie, was für ein Gefühl ein Dreißigjähriger unter diesen Bedingungen hat?
Ich komme nun zum BAföG für Schüler und Schülerinnen. 1983 wurde dieses bei einem BAföG-Kahlschlag weitgehend gestrichen. Hier hat die Bundesregierung ihre Fehler teilweise erkannt, als sie die allgemeinbildenden Ausbildungsgänge unter bestimmten Bedingungen wieder mit in die Förderung aufgenommen hat. Dies ist jedoch bei weitem nicht ausreichend, da der Großteil der Schüler und Schülerinnen ab der 10. Klasse immer noch kein BAföG erhalten kann. Dabei dürfte doch unumstritten sein, daß Bildungsentscheidungen wesentlich auch vom Elterneinkommen abhängig sind. Auch so wird ja die Selbstbestimmung nicht gerade gefördert.
Mit den vorliegenden Unterlagen zur ersten Lesung werden statt dessen gesellschaftliche Ungleichheiten fortgeführt. Oftmals entsprechen erste Studienentscheidungen doch den Vorstellungen der Eltern und des gesellschaftlichen und sozialen Umfeldes. Eingeschlagene Wege müssen jedoch korrigierbar sein, neue müssen sich ermöglichen lassen. Die Ausbildungsförderung muß daher auch für spätere
Elisabeth Altmann
Lebensabschnitte greifen. Aus diesem Grund ist für uns die Altersgrenze, die für BAföG-Leistungen bei neuen Ausbildungsabschnitten gesetzt wird, völlig überholt.
Noch zwei Punkte möchte ich kurz erwähnen.
Nach Auffassung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es unverzichtbar und selbstverständlich, daß diese Gesellschaft, Schulen und Hochschulen auf Internationalität, Völkerverständigung, Toleranz und Weltoffenheit ausgerichtet sein müssen. Das bedeutet, daß auch unsere ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen umfassender in die BAföG-Förderung einbezogen werden sollten. Hierzu fehlen jedoch in den vorliegenden Beratungsunterlagen alle Aussagen.
Von der Koalition wurde die Möglichkeit der Aufstiegsförderung, z. B. für das Handwerk, durch die AFG-Novellierungen massiv abgebaut. Das wurde hier eben schon erwähnt. Nun wird derzeit über eben diese Aufstiegsförderung unter dem Ticket „Meister-BAföG" diskutiert. Grundsätzlich sind wir für die Gleichwertigkeit der Ausbildungsgänge. Aber es muß ja dann kein Etikettenschwindel sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist an der Zeit, daß wir eine grundsätzliche Korrektur beim BAföG vornehmen. Die halbherzige Flickschusterei auf dem Bildungssektor muß endlich ein Ende haben. Unsere baden-württembergischen Freundinnen und Freunde von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben deshalb beim Institut für Finanzwirtschaft ein Gutachten über „Alternativen der Finanzierung des Lebensunterhaltes von Studenten und Studentinnen" in Auftrag gegeben. Wir erwarten uns von diesem Gutachten zukunftsweisende Finanzierungsmodelle.
Meine Damen und Herren von der Regierung und der SPD, ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns im Ausschuß Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung konstruktiv über neue finanzierbare Möglichkeiten der Ausbildungsförderung von Schülern und Schülerinnen, von Studenten und Studentinnen, Handwerkern und Handwerkerinnen diskutieren! Nehmen wir die zukünftige Generation ernst! Sie muß uns doch etwas wert sein. Sie ist es doch letztlich, die demnächst gesellschaftlich und hoffentlich auch politisch Verantwortung in diesem Land übernehmen wird.