Rede von
Dr.
Herta
Däubler-Gmelin
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß wir uns hier im Bundestag 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach 45 Jahren rechtsstaatlicher Verfassung und Rechtsstaat immer noch so unglaublich schwertun, eine vernünftige Antwort auf die Frage zu finden, wie wir uns zu Deserteuren, zu Fahnenflüchtigen und zu anderen meist als Widerstandshandlungen des kleinen Mannes gedachten und ausgeübten Taten verhalten, das ist eigentlich traurig. Dennoch ist es so.
Ich möchte deshalb meine kurzen Ausführungen mit der Bitte beginnen, daß wir nicht übersehen, was unsere Aufgabe ist, jetzt, 50 Jahre nach Ende des letzten Weltkrieges.
Unsere Aufgabe ist es, den Opfern, den Betroffenen, den ganz wenigen, die heute noch leben, und denen, die gelitten haben, und ihren Hinterbliebenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihnen zu helfen,
ihnen eine Entschädigung zuzusprechen, ohne ihnen
zuzumuten, daß sie nochmals die Qual der damaligen Zeit durchleben müssen und sich oder ihre Ver-
Dr. Herta Däubler-Gmelin
wandten nochmals rechtfertigen müssen. Unsere Aufgabe ist es, klarzustellen, daß die Belastung der letzten Jahrzehnte, die sie mit dem ungeheuren Vorwurf von Feigheit und Schande durchstehen mußten, von ihnen genommen wird. Darum geht es.
Ich denke, diese Aufgabe sollten wir nicht vergessen, auch wenn es alles natürlich viel einfacher machen würde - und jetzt spreche ich zu Ihnen, Herr Scholz und Herr Geis -, wenn wir uns über die Bewertung unserer Geschichte insgesamt einigen könnten.
Meine Bitte für den Fall, daß wir das nicht können sollten, ist nur: Lassen Sie uns jetzt bei den Verhandlungen über die kommenden Schritte an die Aufgabe denken, und lassen Sie uns dann die Unterschiede in der Bewertung im übrigen in Gottes Namen stehenlassen!
Ich begreife allerdings nicht, warum Sie sich mit der Bewertung der Geschichte so schwertun. Wir können die Kriegsgerichtsjustiz nicht als rechtsstaatlich betrachten, sondern haben heute einen ganz anderen Begriff von rechtsstaatlicher Justiz. Unsere Soldaten dürfen keineswegs in die Tradition der Naziarmee gestellt werden und auch nicht in die Traditionen dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges. Das alles wissen wir doch.
Zur übereinstimmenden Bewertung der Geschichte gehört nicht nur die Übereinstimmung darüber, daß der Zweite Weltkrieg ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war, Herr Geis, sondern auch, daß die Militärjustiz im Frühsommer 1933 unter klarem Bruch der Weimarer Verfassung eingeführt wurde, daß das Militärstrafgesetzbuch, das 1933/34 erarbeitet und erlassen wurde, schlimmer war als das des Kaiserreichs und daß vor dem Polenfeldzug die totale Verfügbarkeit von Militärgerichtsbarkeit und Militärjustiz für das Nazisystem vollends vollzogen wurde.
Die furchtbaren Zahlen aus der Militärjustiz des Zweiten Weltkriegs unterstreichen dies alles. Die Amerikaner haben ein einziges Todesurteil wegen Fahnenflucht vollstreckt und etwa 140 solcher Urteile verhängt und dann in andere Strafen umgewandelt. Die Nazis, ihre Kriegsgerichtsbarkeit, über die wir jetzt reden, haben 30 000 Todesurteile verhängt und 5 000 wegen Wehrkraftzersetzung und 15 000 wegen Desertion vollstreckt.
Das unterstreicht doch, daß es uns allen leichtfallen müßte, zu sagen, wohin das alles gehört: zum NS-Unrechtsstaat.
Aber, wie gesagt: Die Aufgabe, Gerechtigkeit für die Betroffenen zu schaffen, steht im Vordergrund. In diesem Zusammenhang sehe ich zwei Fragen: Erstens. Wohin geht denn die Vermutung? Herr Scholz, ich will jetzt den Begriff der Vermutung aufgreifen. Weist die Vermutung dahin, daß das, was diese Kriegsgerichte getan haben, grundsätzlich Unrecht war, was dann ja gar nicht ausschließt, daß es im Einzelfall nach den damals geltenden Maßstäben Recht gewesen sein mag, manchmal vielleicht sogar inhaltlich richtig? Oder geht die Vermutung dahin, daß es prinzipiell Recht war und nur im Ausnahmefall NS- Unrechtsjustiz?
Ich denke, es müßte möglich sein, endlich klar zu sagen, daß die erste Feststellung gilt: Das war Unrecht, auch wenn im Einzelfall einmal richtige Feststellungen getroffen worden sein sollten.
Ich denke, wir sollten uns einig sein, Herr Geis - deswegen hat mich sehr gefreut, was Sie zu diesem Punkt gesagt haben -, daß wir denjenigen, die heute noch leben, weder den Einzelnachweis noch ein langes Verfahren auflasten dürfen. Die meisten sind doch ganz alte Leute. Zum Teil haben sie bis heute keinen Einblick in ihre Akten bekommen. Sie sind, wie gesagt, in den letzten Jahrzehnten schwer belastet und zu Unrecht bestraft gewesen, nicht nur durch das, was sie in der NS-Zeit durchmachen mußten. Wir sollten ihnen jetzt wenigstens helfen. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, ein objektiviertes Verfahren zu finden, das ihnen Rehabilitierung - ich teile Ihre Auffassung, Herr Kleinert - und auch Hilfe und Entschädigung schnell zukommen läßt.
Meine Bitte ist: Helfen Sie mit! Dann werden wir - bei der Bewältigung dieser Aufgabe - vielleicht auch zu einer besseren und vernünftigeren gemeinsamen Würdigung der Geschichte kommen. Das wäre für die zukünftige Politik in unserem Lande nicht schlecht.
Danke schön.