Rede von
Volker
Beck
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 50 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus gibt es in einigen Fragen der Bewertung von NS-Unrecht immer noch keinen Konsens im Bundestag. In besonders bedrückender Weise gilt das für die Opfer der NS-Militärjustiz.
Heute versuchen wir nun zum dritten Mal, den Bundestag zu einer Entscheidung zu bewegen. Den Opfern der NS-Militärjustiz, insbesondere den
Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und sogenannten Wehrkraftzersetzern, muß endlich Genugtuung widerfahren. Das ist historisch seit Jahrzehnten überfällig.
Gerichte und Entschädigungsbehörden haben diese Genugtuung nicht geleistet, sie haben sie im Gegenteil hartnäckig verhindert. Jetzt muß endlich der Bundestag handeln, schnell und unmißverständlich. Vergessen Sie nicht: Es geht um die Männer, die sich den verbrecherischen Angriffskriegen der Nazis verweigert haben. Ihnen muß der Bundestag endlich den gesetzlichen Schadensausgleich verschaffen, der ihnen als Verfolgten des Nationalsozialismus zusteht.
Niemand bestreitet heute mehr, daß die Militärjustiz Terrorurteile gefällt hat. Selbst das Bundessozialgericht geht mittlerweile davon aus, daß die Militärjustiz, zumindest in den letzten Kriegsjahren, Terrorurteile in gleicher Weise fällte wie der berüchtigte Volksgerichtshof. Sie handelte nach der Maxime Adolf Hitlers: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muß sterben."
Die Militärjustiz hat nicht nur Todesurteile gefällt. Sie hat als verlängerter Arm des NS-Regimes gewirkt. Sie war keine rechtsstaatliche Justiz. Sie hat die Verurteilten den KZs und den tödlichen Strafbataillonen überantwortet. Sie hat vor allem den NS- Machthabern geholfen, die „Wehrkraftzersetzer" und Fahnenflüchtigen als politischen Feind zu deklarieren.
Bis zum gestrigen Tag gab es in diesen Fragen keine Möglichkeit der Verständigung zwischen den Fraktionen. Zu verhärtet waren die Fronten. Mittlerweile scheint es aber so - wie auch die Debatte um das Caiazzo-Urteil des Bundesgerichtshofes gezeigt hat -, daß auch bei den Regierungsfraktionen nach und nach ein Einstellungswandel einsetzt.
Gestern hat es ein interfraktionelles Treffen gegeben, in dem erstmalig nicht nur der Dissens festgestellt, sondern um eine Verständigung gerungen wurde. Ein Durchbruch ist noch nicht gelungen. Deshalb ist diese Plenardebatte dringend nötig. Nutzen wir die nächsten Wochen im Ausschuß, um endlich eine Lösung zu finden, die auch von den Opfern akzeptiert werden kann. Vielleicht, Herr Scholz, brauchen wir zur Feststellung der historischen Wahrheit eine Anhörung im Rechtsausschuß, um uns über die Details differenzierter verständigen zu können.
Daß jede Regelung, die wir treffen, bei den Opfern akzeptiert wird, ist für uns, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Maßstab. Deshalb muß ein Bundestagsbeschluß folgendes wirklich Unverzichtbare enthalten:
Erstens. Der Bundestag muß erklären, daß die Verurteilungen durch die NS-Militärjustiz wegen der Delikte der Kriegsdienstverweigerung, der Desertion und der sogenannten Wehrkraftzersetzung NS-Unrechtsurteile waren. Hierfür darf es fortan keine Einzelfallprüfung mehr geben. Es wäre nicht akzeptabel, diese pauschale Rehabilitierung allein auf die Todesurteile zu beschränken.
Volker Beck
Zweitens, Darüber hinaus muß der Bundestag erklären: Auch alle Urteile und Maßnahmen zur Strafvollstreckung, die eminent rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen, sind als NS-Unrecht zu brandmarken. Es kann doch von unserem Rechtsstaat nicht hingenommen werden, daß jemand wegen der Entwendung einer Uniform oder einer Tafel Schokolade zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wird oder gar in einem KZ oder bei einem Bewährungsbataillon zugrunde geht. Hier - ich betone es - sind wir bereit, eine Einzelfallprüfung zu akzeptieren. Aber dies geht nur, wenn wir die Opfer nicht mit rechtlich unverbindlichen Formeln trösten, sondern wenn wir unmißverständlich sagen, was Recht und was unserer Ansicht nach Unrecht war.
Die von Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P. und der CDU/CSU, vorgelegten Vorentwürfe und auch Ihre Äußerungen, Herr Scholz, lassen bislang noch die notwendige Klarheit vermissen. Es bleibt im dunkeln, welche Urteile denn nun als NS- Unrechtsurteile bewertet werden und welche nicht. Damit wären wir aber wieder am Ausgangspunkt der Debatte angelangt.
Hier und heute ist auch der richtige Ort, auf ein Mißverständnis hinzuweisen - da haben Sie, Herr Scholz, einen künstlichen Gegensatz aufgebaut -, das eigentlich gestern in der Gesprächsrunde ausgeräumt wurde: Weder wir noch die Opferverbände verlangen eine Aufhebung aller Urteile der NS-Militärjustiz. Wir hätten ein Dutzend guter Gründe dafür, genau dieses zu fordern. Aber unser Antrag ist hier viel bescheidener; denn wir wollen, daß die Opfer eine volle Rehabilitierung ohne die Strapazen weiterer Gerichtsverfahren mit Einzelfallprüfung erhalten. Aus unserer Sicht sind das keine Maximalforderungen, sondern rechtsstaatliche Minimalia.
Dies gilt auch für unsere dritte Grundforderung: Die Opfer der NS-Militärjustiz müssen endlich als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt werden. Es reicht freilich nicht, zu fordern, daß sie im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Regelungen berücksichtigt werden. Denn die Antragsfrist nach dem Bundesentschädigungsgesetz ist spätestens seit 1969 abgelaufen. Wenn heute ein 70 Jahre altes Opfer einen Rentenschadensausgleich nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz beantragt, erhält es von der Behörde folgendes als Antwort: Dieser Antrag hätte innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt in das Rentenalter, also im Alter von 63 oder 65 Jahren, gestellt werden müssen und ist daher nicht mehr zulässig.
Kurzum: Wenn wir heute anerkennen, daß die Opfer der NS-Militärjustiz NS-Verfolgte waren, muß dies tatsächlich mit einem Rechtsanspruch auf Entschädigung, Versorgung und Rentenschadensausgleich verbunden sein. Auch hier betone ich: Für diesen Bereich halten wir eine Einzelfallprüfung für angemessen, eine Vermutungsregelung zugunsten der Opfer aber für unverzichtbar.
Keinesfalls akzeptabel ist für uns, eine Prüfung der Beweggründe der Opfer einzuführen, wie Sie, Herr Scholz, das angesprochen haben. Ich sage es hier in aller Deutlichkeit: Das Bundesentschädigungsgesetz verbietet seit 1956 eine solche Motivationsprüfung, und dies aus gutem Grunde. Das BEG hat diese Beweislast von den Verfolgten genommen und verlangt statt dessen die Prüfung der Verfolgermotivation. Auch das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil von 1991 festgestellt, daß selbst Feiglinge oder ganz unpolitische Opfer der NS-Militärjustiz einen Anspruch auf Versorgung haben müssen.
Zum Schluß zu Ihren Bedenken, Herr Geis und Herr Scholz: Sie und ich haben sicher sehr unterschiedliche Ansichten über die Rolle der Wehrmacht. Heute geht es aber allein um die Ehre der Opfer der Militärjustiz. Heute geht es darum, daß wir nicht mehr akzeptieren wollen, daß diesen Opfern aus Rücksicht auf die Gefühle von Wehrmachtssoldaten die ihnen zustehende Rehabilitierung verweigert wird.